[Debatte-Grundeinkommen] Kriterien für BGE-Einführung

Joerg Drescher iovialis at gmx.de
Mo Okt 12 12:10:17 CEST 2009


Hallo AgneS und wen's sonst noch interessiert

Auf der einen Seite schreibst Du, daß Du gegen Aufklärungsarbeit bist, auf 
der anderen Seite schlägst Du selbst vor, wie die Einführung stattfinden 
kann. Diese stufenweise Einführung halte ich prinzipiell für gut, wobei ich 
mir nicht sicher bin, ob Dein "Gewöhnungsvorschlag" den zeitlichen 
Gegebenheiten Rechnung trägt.

Auch ich bin gegen eine Volksabstimmung - teilweise aus ähnlichen Gründen, 
wie Du. Allerdings befürworte ich eine transparente Politik, die im Vorfeld 
darüber aufklärt, was sie eigentlich vorhat. Zur Zeit ist am "liberalen 
Bürgergeld" der FDP erkennbar, was passiert, wenn sich Halbwissen verbreitet 
und daraus Gerüchte entstehen. Würde die FDP klipp und klar - aber vor allem 
ehrlich - sagen, was sie sich aus ihrem Vorschlag erhofft und wie es genau 
funktioniert (was eigentlich vor den Wahlen hätte geschehen müssen), müßte 
man sich heute nicht dagegen wehren (was sowieso schwierig ist, da sich die 
FDP "demokratisch legitimiert" sieht).

Aufklärung beim BGE bedeutet für mich auch, daß man die verschiedenen 
Modelle miteinander vergleicht und deren Wirkungsweise überhaupt zur Sprache 
bringt. Soll heißen: Ein Staat, der ein BGE (in voller Form) einführen 
möchte, sollte ca. ein Jahr lang seine Argumente für die Einführung über die 
Massenmedien darlegen und begründen, weshalb die jeweilige Regierung sich 
gerade für diesen Ansatz entschied. In dieser Zeit können Vorbereitungen zur 
realen Umsetzung getroffen und entsprechende Institutionen eingerichtet 
werden. In meinen Augen wäre hier vor allem eine Schnittstelle 
Volk-Regierung wichtig, um die Anliegen der Bevölkerung direkt mit 
Politikern abzustimmen (Zweifel ausräumen oder Ideen einbringen).

Jeder BGE-Befürworter sollte einmal das Gedankenexperiment wagen, sich 
vorzustellen, wie er/sie vorgehen würde, wenn er/sie an der Regierung wäre, 
um ein BGE real einzuführen.

Der erste Schritt in Richtung BGE wird immer lauten: Der (politische) Wille 
muß vorhanden sein und es sollte eine (grobe) Vorstellung davon geben, was 
dieser Schritt bedeutet. Weil sich unsere heutigen Politiker wahrscheinlich 
bewußt sind, was eine BGE-Einführung heißen würde, entwickeln sie nicht den 
notwendigen (politischen) Willen. Entsprechend wäre der zweite Schritt: Den 
Mut aufbringen, diesen Weg auch zu gehen, der als (grobe) Vorstellung 
existiert. Um Menschen zu motivieren, sich diesem Weg anzuschließen, sollte 
aus meiner Sicht die Idee vermittelt werden, was sie auf diesem Weg erwarten 
(könnte) und welche "Werkzeuge" benötigt werden, um den Weg zu gehen (eine 
Bergsteigerin wird sich nicht Stöckelschuhe anziehen, wenn sie einen Berg 
erklimmen will; ist sie Erstbesteigerin, weiß sie auch nicht, was sie auf 
dem Weg erwartet, aber sie weiß, welche Dinge sie mitnehmen wird...).

Eine genaue und detaillierte Gebrauchs/Handelsanleitung wird es für die 
Einführung eines BGEs kaum geben können - da stimme ich zu; allerdings gibt 
es sehr wohl grobe Richtlinien, die erfüllt sein müssen - allen voran, daß 
die Bevölkerung darüber informiert wird, was man mit ihr "vorhat". Das wäre 
bei den Hartz-Gesetzen vielleicht auch nicht dumm gewesen (wobei die 
"demokratische Legitimation" von SPD/Grüne kaum Möglichkeiten ließ, etwas 
dagegen zu unternehmen - noch dazu, weil Teile der CDU/CSU dafür waren).

Viele Grüße aus Kiew,

Jörg (Drescher)
Projekt Jovialismus




----- Original Message ----- 
From: "Agnes Schubert" <Agne.s at gmx.de>
To: <debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de>
Sent: Saturday, October 10, 2009 6:44 PM
Subject: Re: [Debatte-Grundeinkommen]Kriterien für BGE-Einführung


Hallo Jörg,
> ... wir sind uns weitgehendst einig darüber, daß es "finanztechnisch" kein 
> Problem darstellt, ein Grundeinkommen in irgendeinem Land der Erde 
> einzuführen. Entsprechend möchte ich eine Diskussion anregen, wie eine 
> solche Einführung aussehen könnte und welche Kriterien erfüllt werden 
> sollten. Es dürfte jedem klar sein, daß eine Umsetzung der Idee nicht von 
> heute auf morgen erfolgen kann, selbst wenn der politische Wille einer 
> Regierung vorhanden wäre.
So weit sind wir uns einig.

> Ein Kriterium wäre zum Beispiel eine breite Aufklärungsarbeit des 
> jeweiligen Landes, was mit einem Grundeinkommen bezweckt wird, welche 
> Auswirkungen erwartet werden und wie auf mögliche Probleme reagiert wird. 
> Dies (natürlich) unter Einbeziehung der Bevölkerung.
Was nützt die Aufklärungsarbeit allein? Niemand weiß, wie er sich unter
solchen Bedingungen entwickelt. Noch schwerer ist abzuschätzen, wie sich
z.B. die Arbeitsmotivation und dar Arbeitsplatzangebot insgesamt
wirklich entwickelt. Davon allerdings hängt die Wirkung des BGE
entscheidend ab. Die verschiedensten Auswirkungen sind da denkbar, wobei
sehr viele davon auch gewaltige Probleme machen würden.
Worüber also wollte man denn aufklären. Ich wüsste es nicht.

Die *schlagartige* Einführung eines BGE, wie es z.B. hier im Netzwerk
als Ziel beschrieben ist, bleibt ein Unterfangen, das ein Experiment mit
Menschen ist - ähnlich des Versuches des Realsozialismus. Wenn auch im
Gegensatz dazu die Einführung demokratisch (Volksabstimmung?) erfolgen
sollte, so ist zwar die Mitschuld der meisten Wahlberechtigten
gewährleistet, aber der Erfolg des Experimentes noch lange nicht.
Demzufolge weigere ich mich Kriterien festzuschreiben, die irgendeine
Form von Risikominimierung behaupten.

Wenn eine Einführung schrittweise erfolgte, wäre das Risiko auch auf ein
erträgliches Maß gesenkt.
Eine Beispiel für einen 1. Schritt wäre:
    /ca. 10% Mehrwertsteuererhöhung bei gleichzeitigem BGE von
mindestens 10% des Existenzminimums (bzw. 11% wegen Preisanstiegs durch
die Mehrwertsteuererhöhung) .
    Das beinhaltet kein Kaufkraftverlust der unteren Einkommen, im
Gegenteil durch den individuellen Anspruch./
Bei Beherrschung sämtlicher Auswirkungen (Migrationseffekte,
Arbeitsmarktänderungen, Konsumverhalten, ...) macht man jeweils den
nächsten Schritt.
Das lässt den Menschen auch Zeit, sich an den Paradigmenwechsel (Geld
ohne Leistung) zu gewöhnen. Diese Gewöhnung ist nicht trivial und nicht
mit Aufklärung zu ersetzen.

Gruß AgneS
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