[Debatte-Grundeinkommen] Volksentscheid ins Grundgesetz ... ?

Christian Wilke Luxus_chris at web.de
Mi Nov 18 05:24:07 CET 2009


Sehr geehrter Herr Schliffka, liebe Liste,

ich weiß nicht, woran Sie meinen Kenntnisstand in Sachen 'Demokratiebewegung' messen. Ich nehme nicht an, dass man schon als kenntnislos gilt, wenn man als sogenannter Bedenkenträger auftritt. Soviel ich Ihren Ausführungen sowie Ihrer Diplomarbeit entnehmen konnte, ist es die Mündigkeit des Volkes, die es erforderlich macht, dass es politische Entscheidungen treffen darf und soll. Entsprechend gilt eine 'konsultative Volksbefragung' als Konsolidierung von Vormundschaft, indem das gesetzlich geregelte Mitreden nicht zur souveränen Entscheidung durch das Volk führt, sondern vielmehr die Entscheidungsohnmacht des Volkes konfirmiert. - Offenbar gilt Ihnen die Volksempfehlung (resp. eine vom Volk initiierte Volksbefragung) - als immerhin ein Ansatz zu mehr Demokratie(?) - weniger als der status quo. Es hätte hiernach nicht der Bezichtung diktatorischer Interessen bedurft, um meinen Vorschlag der Volksempfehlung zu desavouieren, Herr Schliffka.

Nun, auf ebendiese Debatte über Mündigkeit wollte ich verzichten. Denn was würden Sie sagen, wenn ich gestände, mich nicht bevormundet zu fühlen vom politischen System? Oder allgemeiner: Hat einer Recht auf das Etikett 'mündig' nur, wenn er die parlamentarische Demokratie für Bevormundung hält? Überflüssig zu sagen, dass ich dies für bedenklich hielte. Indes, das ist freilich nicht Ihre Ansicht. Denn auch in der direkten Demokratie wird der, der einem Volksentscheid seine Stimme nicht gibt, zum Objekt der Entscheidung anderer - und ist darum doch nicht schon unmündig. Seine Mündigkeit liegt vielmehr darin, die 'Bevormundung' durch eine Mehrheit von Abstimmenden legitim zu finden oder nicht, desgleichen im Parlamentarismus. Also, man kann die Mündigkeit des Volkes, wenn man damit die jeweilige Mündigkeit Einzelner meint, nicht als Kriterium für direkte vs. parlamentarische Demokratie verwenden.

Vormundschaft taucht als Begriff freilich nicht auf, wenn man das Volk als Kollektivsingular, als soziales Ich, versteht, als (darf ich vorstellen?) der Souverän das Volk. Hier geht mir nicht ganz auf, wie das Volk zugleich Herrscher und Beherrschtes sein soll, wie es die Herrschaft der Herrschaftslosigkeit 'nun endlich durchsetzen' will. Vielleicht meint Ihnen ja wieder jemand beispringen zu müssen, der sich gar nicht erklären kann, was sich das Volk alles noch nicht erklären kann, aber so sonnenklar scheint es mir nicht zu sein. Ihre (narrative) Figur der Entlastung ist recht interessant, wo die Geschichte so lautet, dass eigentlich das Volk immer Souverän ist, aber keine Zeit hat für politisches Entscheiden, und also seine Macht an Personen seines Vertrauens (den Staat) bis auf Weiteres abgetreten hat. Um dieses sein mythisches Vorrecht zu dokumentieren, verstehe ich weiter, sollte das Volk zumindest die Möglichkeit haben, hin und wieder jenen Vertrauten zu zeigen, wer das Zepter eigentlich in der Hand hat. Offenbar birgt das 'Volk an sich' die Legitimation zu seiner politischen Entscheidungsgewalt. Wie das? Weil es am besten wissen muss, was es will? Weil es, im Fichteschen Sinne, mit sich selbst identisch, d.h. vertraut ist? Sie wissen, dass diese Problematik von Frühromantik bis Postmoderne zur Aufösung des Subjektbegriffs geführt hat; auch die (in Ihrer Diplomarbeit) schicke Einkleidung des Volks in ein 'soziale System Volk' verschleiert in Unkenntnis der Systemtheorie nur, dass das Volk subjektivistisch gedacht bleibt, wenn es auch System heißen mag. Das Volk ist kein Akteur, kein intentionales Subjekt, das durch den Volksentscheid 'zu sich kommen' könnte. - Sehen Sie, im Ernst gesprochen, ich verstehe das physische Gewaltmonopol des Staates als ein u.a. wichtiges legitimierendes Moment von Macht, auch die Bekenntnisse zu Grundwerten legitimieren das politische System, - aber wie wird 'das Volk' (jene Ansammlung von Individuen) zum legitimen Entscheider? 

Der Volksentscheid versucht Demokratie als Selbstherrschaft (die sich m.E. nicht von selbst versteht) über ein Dreiebenenverfahren zu legitimieren, in dem sich Mehrheiten finden müssen. Die ersten beiden Schritte (Initiative und Begehren), gleichen sie nicht formal der Volksbefragung? Konfirmieren nicht auch sie, dass das Volk eigentlich nicht entscheidet? Und, wenn es nicht darauf ankommt, ob das Volk entscheidet oder der Staat, solange nur legitim entschieden wird, - liegt dann nicht die Hoffnung des Volkes darin, keinen Volksentscheid zu brauchen (wo es ohnehin keine Zeit hat ...), weil der Staat das (Entscheidungs-)Ruder schon im Schritt 1 oder 2 vorzeitig übernimmt? Ich finde, hierin können wir uns einmal unser gegenseitiges Einvernehmen bekunden. - 
Warum aber ist der dritte Schritt wichtig; dass das Volk gesetzgebende Gewalt hat? Doch, weil die Volksentscheidsbefürworter mehrenteils keinen Grund zur Annahme sehen, dass eine gesetzlich geregelte Volksempfehlung im Zweifel genügend Druck auf die Regierung ausübt. Das ist ziemlich kurios: Da sich sollten unsere Meinungen politisch durchsetzen können, sollten wir sie letztlich auch durchsetzen können. Noch einmal: wo kommt die Legitimation her, öffentliche Meinung in politische Entscheidung geradewegs zu übersetzen? 
Die Logik 'Wenn es Viele wollen, muss es politisch richtig sein' reicht erfahrungsgemäß nicht aus, um von Mehrheit auf legitime Entscheidungsmacht zu schließen; aber dass politisch diskussionsfähig und -bedürftig ist, was die Mehrheit meint, steht außer Frage, und kann, wie ich finde, durch Volksempfehlungen politisch in Form gebracht, durch ein gesetzlich geregeltes Evaluationsverfahren (besser als durch Medien) politisch gewichtet werden.


Mit freundlichen Grüßen,
Christian Wilke
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