[Debatte-Grundeinkommen] Zwischengedanke
Joerg Drescher
iovialis at gmx.de
Fr Mai 15 19:56:54 CEST 2009
Hallo Wolf,
danke für Deine Sicht, die ich trotzdem nicht ganz teile. Ich (persönlich)
will nicht "mitbestimmen", selbst wenn es mich persönlich betrifft -
schließlich habe ich anderes und besseres zu tun, als mir jeden Käse
anzutun, bei dem Leute meinen, es würde mich betreffen. Ein "Zwang" zur
Mitbestimmung darf es also nicht geben. Betrifft es mich persönlich positiv
und habe ich daran nichts auszusetzen, ist auch alles in Butter - aber ich
will ein Veto-Recht und meine Einwände vorzubringen, wenn mich eine
mehrheitlich gefaßte Entscheidung negativ betrifft.
Faktisch haben wir diese Situation schon heute, aber praktisch kann ich kaum
bis nichts gegen mehrheitlich vom Bundestag gefaßte Entscheidungen tun, auch
wenn sie mich persönlich negativ betreffen - dies, obwohl es das Grundgesetz
durch Art. 17 vorsieht.
Manchmal ist das mit dem "persönlich betrifft" auch schwierig zu
entscheiden. Als Beispiel: was geht mich Brasilien persönlich an, wenn dort
der Regenwald abgeholzt wird, um genmanipulierten Soja anzubauen, der an
unsere Schweine verfüttert wird, die bei uns auf dem Teller landen? Noch
schlimmer: ein befreundeter Jurist erklärte mir, daß jemand in Deutschland
nur dann klagen kann, wenn er persönlich betroffen ist. Sprich: Ich müßte
erst selbst Hartz-IV-Empfänger sein, um dagegen Einspruch einzulegen. Was
ist mit der Verantwortung gegenüber anderen?
Da wir hier allerdings über das Grundeinkommen diskutieren und die Argumente
für oder gegen ein Grundeinkommen aufgebraucht scheinen, schwenken wir zur
Überlegung, wie das Volk darüber entscheiden soll - denn schließlich
betrifft es alle. Das Problem an der Sache ist, daß es von den
Regierungsparteien gar nicht zur (Aus)Wahl gestellt wird. Entsprechend
plädiere ich für ein "staatliches Vorschlagswesen", das weit über das
bisherige Parteiensystem hinausgeht.
Dazu müßte die Regierung in einer Rolle auftreten, um die Diskussion über
einen Vorschlag zu moderieren (Stichwort: Bürgerforum). Es geht um ein
Optimierungssystem, das es jedem ermöglicht, seine Wünsche und Vorstellungen
einzubringen, bis ein Konsens gefunden wird - z.B. bei den unterschiedlichen
BGE-Modellen.
Immerhin entwickelt sich die BGE-Bewegung in eine Richtung, aus der ich
ursprünglich kam: die Überlegung, wie ein Staat zum Wohle aller organisiert
sein sollte, damit niemand zu kurz kommt.
Viele Grüße aus Kiew,
Jörg (Drescher)
Projekt Jovialismus
http://www.iovialis.org
Im Kapitalismus beutet der Mensch den Menschen aus.
Im Sozialismus ist es genau umgekehrt.
Und die Konservativen wollen nichts daran ändern.
----- Original Message -----
From: "Wolf Bergelt" <klanggeist at gmx.net>
To: <debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de>
Sent: Tuesday, May 12, 2009 3:38 PM
Subject: [Debatte-Grundeinkommen] Zwischengedanke
Hallo Ihr,
in den letzten Tagen hat sich hier ein Diskurs pro ("ich will
mitbestimmen") und kontra ("Diktatur der Mehrheit") Volksentscheid
zugespitzt, in dem alle Beteiligten m. E. gute, realitätsbezogene Gründe
haben, wobei aber jeweils Einzelaspekte generalisiert werden, weshalb
ich die Kontroverse zunehmend als Folge eines gegenseitigen
Mißverständnisses wahrnehme, daß wiederum aus der Reduzierung von
Begriffen auf Schlagworte zu resultieren scheint. M. E. kann, sollte und
muß es Volksentscheide in allen Fragen geben, die Teile des Volkes oder
ein ganzes Volkes als Gesamtheit betreffen. Das wäre demokratische
Mitbestimmung in Fragen, die alle Betroffenen gleichermaßen angehen.
Hingegen hat ein Volksentscheid dort nichts zu suchen, wo es um das
Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen geht. Das wäre Mehrheitsdiktatur.
Weil aber diese beiden Komponenten durch schlagwortartige
Begriffsverkürzungen und auch real ständig durcheinander gebracht und
miteinander vermischt werden (bzw. sind), kommt es aus meiner Sicht zu
geistigem und emotionalem Unfrieden, der nicht zwangsläufig sein müßte,
wenn wir uns vorher mehr gemeinsame Zeit für die Begriffsbildung nehmen
würden.
"Ich will mitbestimmen" kann (bzw. sollte) doch immer nur heißen: "Ich
will über alles mitbestimmen, was mich selbst betrifft", nicht aber "Ich
will mitbestimmen, was der andere für sich zu tun und zu lassen hat."
Was wir in Berlin gerade erst in Form der Pro Reli-Kampagnie erlebt
haben, ist m. E. ein geeignetes Beispiel für die ungesunde Vermischung
von Mehrheits- und Selbstbestimmungsrecht. Die Pro-Reli-Seite hat
versucht, einen Selbstbestimmungaspekt des freien Geisteslebens zum
mehrheitsfähigen Fremdbestimmungsaspekt zu machen. Daß das überhaupt
gelingen konnte, hat natürlich auch damit zu tun, daß wir - anstelle
eines einklagbaren allgemeinen Schulrechtes - eine allgemeine
(polizeilich durchsetzbare) Schulpflicht haben, durch die das
Selbstbestimmungsrecht in hohem Maße ausgehebelt werden kann. Da diese
allgemein als selbstverständlich hingenommene Tatsache aber kaum
hinterfragt wird, lassen sich auf dieser Basis natürlich auch andere
Selbstbestimmungsaspekte in die Mehrheitssphäre ziehen, die dort gar
nichts zu suchen haben. Und so könnte man die Beispiele munter
fortsetzen, wo die Mehrheits- und die Selbstbestimmungssphäre geistig
und real auf unheilvolle Weise ineinanderwirken. Ich denke, erst wenn
wir diese beiden Sphären erkennend und tatsächlich besser
auseinanderzuhalten lernen und dort ansiedeln, wo sie wirklich
hingehören, kommen wir der Lösung dieses oft schmerzlichen Problems näher.
Wolf Bergelt
--
Wolf Bergelt
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