[Debatte-Grundeinkommen] Vortrag: Die Produktivkraft als Gebiet derBefreiung

Pius Lischer pius.lischer at bluewin.ch
Mo Jun 29 16:21:41 CEST 2009


Hallo 
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Gruss                     Pius
  ----- Original Message ----- 
  From: Robert Zion 
  To: Debatte Grundeinkommen 
  Sent: Thursday, June 25, 2009 1:02 PM
  Subject: [Debatte-Grundeinkommen] Vortrag: Die Produktivkraft als Gebiet derBefreiung


  Hallo zusammen,

  unten und im Anhang (als PDF) z. K. mein Vortrag über den Postoperaismus auf der Veranstaltung am 13. Juni in Gelsenkirchen: Krise.Kapitalismus.Kritik. 

  Liebe Grüße

  Robert

  -- 
  Robert Zion Vorstandssprecher
  B'90/Grüne KV Gelsenkirchen
  Tel: 0209-3187462 / Mobil: 0176-24711907
  E-Mail: zion at robert-zion.de
  www.robert-zion.de
  http://www.robert-zion.de/Links-libertaer.htm


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  (Es gilt das gesprochene Wort)
   

  Die Produktivkraft als Gebiet der Befreiung
  - Über den radikalen neuen Humanismus Hardt/Negris in Zeiten der Krise -

   

  Liebe ParteifreundInnen, liebe Gäste,
   

  Ich möchte meinen Vortrag in drei Abschnitte teilen: 1. "Das Empire..."; 2. "...die Krise..." sowie 3. "...und die Multitude".

   

  1. Das Empire...

   

  Ich beginne meinen Versuch einer Einführung in den Postoperaismus mit dem 28. März 2009. An diesem Tag bei der Frankfurter Demo: "Wir zahlen nicht für eure Krise", begann die Rede einer VertreterIn der unabhängigen Basisgewerkschaft FAU mit den Worten: "Staat. Nation. Kapital: Scheiße! Alles muss man selber machen!"

   

  Nun ja, auch jenseits linksüblicher Selbst- und Fremdeinordnung der Freien ArbeiterInnen Union "FAU" als "anarchosyndikalistisch", hat die FAU-VertreterIn natürlich Recht: Wir alle machen Staat, Nation und Kapital, machen "eine Arbeit, die wir hassen, um uns eine Scheiße zu kaufen, die wir nicht brauchen" - um den Fight Club zu zitieren -, aus unserem Selbst ist eben jene Plunder- und Plünderökonomie gemacht, die wir "Kapitalismus" nennen.

   

  Und damit wären wir schon bei einer Grundthese des Postoperaismus: Der Kapitalismus ist nicht nur global, sondern auch ontologisch geworden, immanenter Bestandteil, um mit Marx zu sprechen, des "realen Lebensprozesses".[G] Es sind unsere Fähigkeiten zu kommunizieren, zu denken, zu fühlen, die heute - wieder mit Marx gesprochen - zur "unmittelbaren Produktivkraft"[G] geworden sind. Ich drücke es philosophisch aus:

   

  Der Produktionsprozess des Kapitals ist nunmehr der Konstitutionsprozess des Seins.

   

  Ich sehe schon, ich muss das genauer erläutern. Also beginne ich noch einmal, diesmal mit unserem letzten Grünen Parteitag in Berlin. In der taz konnten wir dort am 09. Mai ein Interview mit Toni Negri lesen, in dem dieser sagte:

   

  "Der ,wirkliche Reichtum' wird längst nicht mehr allein in der Fabrik

  produziert, sondern ebenso in den Universitäten, im Alltag, in den

  Städten, in allen Äußerungen des Reichtums, den die Sprachen unserer

  Gesellschaften hervorbringen. Einzig dem Finanzkapital gelingt es, das

  wahrzunehmen, doch gelingt es ihm nicht, dem ein Maß zu geben. Denn

  dafür müsste es diese ungeheure Produktivität von innen beherrschen."[WMT]

   

  Wieder mit Marx gesprochen: im heutigen Kapitalismus sind die "gesellschaftlichen Produktivkräfte", diese ungeheure Produktivität, deren Explosion wir erfahren, selbst "produziert" [G], oder, wie ich es einmal versucht habe auszudrücken:

   

  "In der Tat ist heute die gesamte Gesellschaft in Produktion gesetzt. Nicht mehr der Betrieb ist das Zentrum der Produktion, sondern das ineinander verwobene (vernetzte) produktive Arrangement von Wissen, Kommunikation und sozialen Beziehungen (...) tritt an dessen Stelle. (...) An die Stelle der fordistischen tritt die lernende und vernetzte Fabrik, an die Stelle der handelbaren Ware Arbeitskraft der Gesamtmensch als gesellschaftliches Subjekt. Der Mehrwert wird heute als Kommunikationsüberschuss gesellschaftlicher Arbeit abgeschöpft, d. h. die Akkumulation findet weitestgehend in den Vermögensmärkten statt."[DZDUB]

   

  Nun ist Sprache kein Selbstgespräch, Kommunikation gibt es nur mit anderen, unsere Affekte bestehen darin, zu affizieren oder von anderen affiziert zu werden, das Wissen hat nur einen Wert, wenn es geteilt wird - kurz: alle diese Äußerungen unserer heutigen Reichtumsproduktion, bei der zunehmend die immaterielle Arbeit als "neue Dominante in der Wertschöpfungskette"[IM] ins Zentrum rückt, gibt es im Überfluss, existieren nur in Strömen und können so per se nicht knapp sein. Weder ist auf sie das Wertgesetz der Arbeit anwendbar - also Produkteinheit pro Zeiteinheit -, noch die klassische Marktfunktion der Allokation knapper Güter.

   

  Darum gelingt es dem Finanzkapital nicht, wie Negri sagt, "dem ein Maß zu geben". Darum heißt Globalisierung im Zeitalter des Finanzkapitals notwendigerweise Vermögenskonzentration und Marktversagen in noch nie da gewesenem Ausmaß, Überakkumulation und Blasenbildung. Die von Toni Negri benannte "ungeheure Produktivität" des globalen Kapitals zeigt sich uns gewissermaßen als Produktion eines Ungeheuers, das auf der Welt sitzt, diese verdauend und dabei Blähungen produzierend.

   

  Aber, dieses Kapital selbst ist es, das in den derzeitigen Umbrüchen auch einen gigantischen und völlig neuen Widerspruch erzeugt: Die gesellschaftliche Arbeit heute verlangt freie ProduzentInnen (gesellschaftliche ArbeiterInnen), die mit ihrer Subjektivität, Wissen, Kommunikation, Vernetzung, Mobilität usw. den abschöpfbaren Mehrwert frei generieren. Das Kapital kann deshalb die herkömmlichen Disziplinarregime nicht mehr aufrecht erhalten. Die ehemals disziplinierenden Institutionen - Familie, Schule, Universität, Fabrik, Kaserne, Gefängnis, bis hin zur Institution dieser Institutionen selbst: der Staat - zerfallen, transformieren sich oder geraten in die Krise.

   

  So steht das Kapital vor dem Problem, national wie international neue Kontrollregime einführen zu müssen, ohne sich dabei selbst die Basis zu entziehen. Es muss die neuen gesellschaftlichen, immateriellen, kommunikativen und vernetzten Arbeitsformen organisieren und kommandieren und zugleich das Subjekt als freie, räumlich und zeitlich flexible ProduzentIn erzeugen, zudem Wissensprodukte und soziale Beziehungen in simulierte Güter- und Dienstleistungsmärkte überführen und den informationellen Charakter von Wissen, Sprache und Affekten in Eigentumstitel verwandeln. Damit verliert es tendenziell die Demokratien als seine klassischen Verbündeten, jedenfalls dann, wenn diese Demokratien noch solche sein wollen.

   

  Nun kann ich noch einmal auf meinen Satz, den ich eigentlich nur erklären möchte, zurückkommen: Der Produktionsprozess des Kapitals ist nunmehr der Konstitutionsprozess des Seins.

   

  Der ontologisch gewordenen Kapitalismus heute dringt unmittelbar in die natürliche und kulturelle Reproduktion, in das Materielle selbst ein und bringt es verwertend und neu-konstituierend wieder hervor. In unsere Sprachen, Kommunikationsformen und sozialen Beziehungen sowieso, aber auch in die Zusammensetzung unserer biologischen Körper, in die genetischen Codes des Lebens, in die letzten Informationseinheiten der Materie. Der Informationskapitalismus in-formiert die Gesellschaften, inklusive ihrer materiellen wie biologischen Basis.

   

  Und wir müssten es ja auch wissen. Doch setzen sich unsere Kämpfe gegen gentechnisch verändertes Saatgut, gegen Organ- und Menschenhandel, gegen Datenspeicherung und die Überwachung von Kommunikation und öffentlichen Räumen, gegen die Kommerzialisierung von Bildung und Daseinsvorsorge, gegen die Patentierung des Lebens und des Wissens, gegen globale Ordnungskriege, gegen dramatische Ökosystemveränderung und das alltägliche Massensterben durch Hunger, gegen Gentechnik und Klonen - setzen sich diese Widerstände wirklich in ein Wissen darüber um, dass es sich dabei eigentlich um ontologische Kämpfe handelt, in denen es um Wesen und Existenz des Menschen in Gesellschaft und damit wesentlich um sein Naturverhältnis - zur Natur in sich und zur ihm umgebenden Natur - geht?

   

  Es ist genau diese Entwicklung, die das sogenannte "bürgerliche Denken" mit seinen Rechts- und Eigentumsformen, mit seiner Trennung von Materie und Geist, von Natur und Kultur, von ökonomischem Unterbau und politischem Überbau nicht mehr erfasst. Es betreibt vielmehr unentwegt, so Negri, "die Abschaffung der wirklichen Welt, die Verdoppelung der Welt in ein juristisches und politisches Bild".[LAS]

   

  Doch "das Empire materialisiert sich unmittelbar vor unseren Augen",[E] schreiben Michael Hardt und Toni Negri. Es bildet einen glatten, weltumspannenden Raum, auf dem sich die Waren-, Geld-, Menschen-, Ressourcen- und Informationsströme austauschen, ein Raum, in dem eine vollkommen neue Form globaler kapitalistischer Souveränität entsteht. In der "globalen Ökonomie", so Hardt/Negri weiter, "wird der Reichtum mehr und mehr durch das geschaffen, was wir biopolitische Produktion nennen, durch die Produktion des gesellschaftlichen Lebens selbst."[E]

   

  "Biopolitische Produktion" - "Die Produktion des gesellschaftlichen Lebens selbst". Tatsächlich ist es ein neues Menschheitsprojekt, das mit dem Empire im Entstehen begriffen ist. Obwohl sich uns das globale Empire vorerst noch als Gemetzel eines permanenten Weltbürgerkriegs, als extremste Form von Ausbeutung der Natur und der Natur des Menschen unter kapitalistischem Kommando präsentiert, wagt es Toni Negri mit Walter Benjamin folgende Frage zu stellen:

   

  "Lassen sich aus dem Zerfallsprozess der demokratischen Gesellschaft noch die Elemente aussondern, die - ihrer Frühzeit und ihrem Traum verbunden - die Solidarität mit einer kommenden, mit der Menschheit selbst, nicht verleugnen?"[Zit. n. LAS]

   

  Die Kraftlinien unseres ursprünglichen Traums von der demokratischen Gesellschaft in dem, was im Entstehen begriffen ist, wiederzufinden, darum geht es. Um einen der wunderbarsten Sätze aus der Menschheitsliteratur überhaupt zitieren - aus Shakespeares Der Sturm: "We are such stuff, As dreams are made on" - "Wir sind aus solchem Stoff, wie der, zu träumen".[TT]  Und es ist heute in der Tat die "Produktion des gesellschaftlichen Lebens" selbst, die diesen Stoff, die Materie und die Ideen, die wir sind, formt. "Das Sein produziert sich."[LAS] Die Produktivkraft selbst ist folglich das Gebiet der Befreiung. Noch einmal von Toni Negri äußerst verdichtet zusammengefasst:

   

  "Der Ausdruck der Produktivkraft ergibt sich kumulativ auf physikalischer Ebene und kollektiv auf ethischer Ebene, immer als Resultante eines theoretischen und praktischen Prozesses, der eben in dem Sichbilden des Seins als solchem besteht. (...) Diese Verwandlung der Produktion in ein Prinzip einer konstitutiven Ontologie ist das Symbol der Befreiung der Produktivkräfte, jedenfalls von den gegebenen und bestehenden Produktionsverhältnissen. Sie ist das Prinzip der Revolution auf der Grundlage der modernen Philosophie. Die konstitutive Ontologie wird Politik."[LAS]

   

  Daher leben wir heute in Zeiten, deren Umbruchcharakter nur noch mit dem des Humanismus verglichen werden kann. Die neue humanistische Revolution, als deren praktische Philosophie der Postoperaismus verstanden werden kann, geschieht dabei vollkommen systemimmanent, oder - um einen geglückten Begriff Peter Sloterdijks zu verwenden -  "Im Weltinnenraum des Kapitals".[IWDK]

   

  Nun, ich weiß, unsere verrechnende Wissenschaft hat uns die Ontologie weitgehend ausgetrieben. Und so mag das hier Gesagte vielen von Euch als neu erscheinen - wo es doch mit das älteste Denken der Menschheit ist - , aber, ich habe es ja auch zu Beginn, in einer, wie ich glaube, allgemeinverständlichen Form ausgedrückt und wiederhole es deshalb noch einmal leicht variiert: "Staat. Nation. Kapital. Selbst das Sein: Scheiße! Alles muss man selber machen!"

   

  2. ...die Krise...

   

  Das bürgerliche Denken ist unfähig den globalen Kapitalismus als Immanenzraum anzuerkennen. Es braucht ein Außen als Bezugspunkt. Sei es in Form einer vorgelagerten "Natur", die es zu retten gilt, sei in Form einer das Materielle übersteigenden, transzendenten Ordnung. Das Zeitalter des Neoliberalismus, dessen existenzielle Krise wir gerade erleben, zeichnet sich vor allem durch die umfassende Rückkehr des Transzendenten, der ordnenden Hand Gottes in Form der alten Fiktion von der "unsichtbaren Hand des Marktes" aus. "Der Markt ist Aberglaube"[LAS], stellt Toni Negri daher lapidar fest. Dass der Aberglaube sich heute tatsächlich auch als solcher erweist und der Markt versagt, in dem er für die Produktivkräfte kein Maß findet und es ihm nicht gelingt, die ungeheure Produktivität von innen zu beherrschen, sagt für sich genommen noch nichts.

   

  Da der globale Kapitalismus heute Instabilitäten im Konstitutionsprozess des Seins erzeugt - wir nennen diese Instabilitäten gerade für gewöhnlich: "Weltwirtschafts-", "Klima-", "Hungerkrise" oder "Staatszerfall" - , wird er das Kommando intensivieren: Es sind dies die globalen Ordnungskriege mit ihren Spezifika der Verwischung der Unterscheidungen zwischen innerer und äußerer Sicherheit, zwischen Polizeieinsätzen höherer und Militäreinsätzen niederer Intensität. Weil die Ordnungsfunktion des Marktes fiktiv und folglich instabil ist, wird der Krieg für imperiale Souveränität konstitutiv, durch eine "Verschiebung von der ,Verteidigungs-' zur ,Sicherheitspolitik'"[M].

   

  Kriege werden nicht mehr zwischen Staaten geführt, sondern gegen globale gesellschaftliche Instabilitäten: Kriminalität, Terror, Drogen, Piraterie, Staatszerfall etc. Hardt/Negri schreiben:

   

  "Die imperiale Souveränität schafft Ordnung, (...) indem sie ein Regime aus Disziplinaradministration und politischer Kontrolle einsetzt, das direkt auf einer permanenten Kriegsführung basiert. (...) Der Krieg als Fundament der Politik muss selbst Rechtsformen einschließen, ja, er muss neue prozedurale Formen des Rechts schaffen. (...) Während er also früher durch rechtliche Strukturen geregelt war, wird der Krieg nun selbst regelnd, indem er sein eigenes Rechtsgefüge ein- und durchsetzt." [M]

   

  Unmittelbar einsichtig scheint mir dies, wenn wir etwa auf Afghanistan oder vor die Küste Somalias blicken. Auch, wenn wir heute in der Krise von nichts mehr reden als von einem neuen "Regulierungsprozess"[M], so sollten wir uns nicht darüber täuschen lassen, dass dieser "Regulierungsprozess" längst stattfindet, als imperialer Krieg, der die globale Ordnung des Kapitalismus ständig neu begründet und schafft und so "die existierende Ordnung des Empire konsolidiert".[M] Der nach innen regulierende Krieg war im Übrigen schon immer konstitutiv für imperiale Ordnungen. Bereits Tacitus sagte über das römische Imperium: "Sie Veranstalten ein Gemetzel und nennen es Frieden."[Zit. n. E]  

   

  Was die in aller Munde geführte "Regulierung des Finanzkapitals" betrifft, dessen Maßlosigkeit heute auf der Ausbeutung der Produktivität der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit beruht, so wird diese nicht gelingen, da die sich im Spiel befindenden politischen Kräfte sich einander äußerlich und entgegengesetzt sind.

   

  Die Frage: "Wer reguliert?", schlägt daher unmittelbar in die Frage um: "Wer bewertet eigentlich die Börsenbewertungen und Finanztitel, die das Finanzkapital aus dem gesamtgesellschaftlichen, globalisierten Produktionszusammenhang abschöpft?"

   

  Anders gefragt: Was ist das Gegenüber des Geldes, des vom Finanzkapital abgeschöpften Mehrwerts, wenn dieser Mehrwert in einem nicht mehr zuordenbaren Prozess von Wissensproduktion, Kommunikation und sozialen Beziehungen erzeugt wird, von eben jener "Produktion des gesellschaftlichen Lebens selbst"?

   

  Toni Negri stellt daher in der Krise die "Unmöglichkeit für das Finanzkapital, sich innerhalb des Prozesses zu positionieren"[WMT] fest. Ein inneres Verhältnis zum Produktionsprozess des Kapitals heute und damit zum Konstitutionsprozess des Seins, eine Bewertung und Aneignung des von ihnen geschaffenen Reichtums "müssen und können", so Negri, "die ProduzentInnen selbst schaffen."[WMT]   

   

  3. ...und die Multitude

   

  Lange Zeit wirkte die politische Linke sprachlos angesichts der gewaltigen Prozesse, die allgemein hin als "Globalisierung" bezeichnet werden. Die Explosion der Produktivkräfte, die Veränderungen der Arbeit und die Ausweitung des kapitalistischen Kommandos schienen sich nicht mehr in eine emanzipatorische Gegen-Praxis überführen zu lassen. Erst mit dem Erscheinen von Hardt/Negris Empire und Multitude zur Jahrtausendwende schien nicht nur erstmals eine umfassende theoretische Reflexion über kapitalistische Souveränität im Zeitalter der Globalisierung und ihrer kritischen Gegenbewegungen vorzuliegen, sondern auch ein neuer Horizont für emanzipatorische linke Theorie und Praxis.

   

  Neben einer radikalen Philosophie der Praxis, ist der Postoperaismus auch theoretischer Ausdruck und Reflexion der vielfältigen, im globalen Kapitalismus entstanden Gegenbewegungen, die Hardt/Negri im Anschluss an die politische Philosophie der Frühaufklärung bei Hobbes und Spinoza die Multitude, die "Menge" nennen. Diese zeigt sich heute auf globaler Ebene, von den FeministInnen über ÖkologInnen bis zu den Zappatisten, von denen "ohne Papiere" bis zu Basisgewerkschaften, von den immateriellen ArbeiterInnen bis zu den legalen und illegalen MigrantInnen. Der postoperaistische Philosoph Paolo Virno beschreibt die heutige Multitude als

   

  "eine plurale Vielfalt, die auf der Bühne der Öffentlichkeit, im kollektiven Handeln, in der Sorge um die gemeinsamen Angelegenheiten, als solche bestehen bleibt, ohne in einer Einheit aufzugehen (...) Multitude heißt die soziale und politische Existenzweise der Vielen als viele. (...) Nach Jahrhunderten des ,Volkes' und damit des Staates (des Staates als Nation, des zentralisierten Staates etc.) beginnt sich nun der Gegenpol zu zeigen, der in den Anfängen der Moderne untergegangen war."[GDM]  

   

  Die globale Multitude ist das, was sich im globalen Kapitalismus partout nicht mehr zum Staat, zur Nation zusammenfinden will, als Gegenpart der imperialen Souveränität bildet sie in den vielfältigen Formen ihres Widerstands gegen das Kommando, den Krieg und die Ausbeutung eine konstituierende Gegen-Macht.

   

  Der Begriff der "Konstitution" ist entscheidend. Nur die Multitude hat ein inneres Verhältnis zum Produktionsprozess des Kapitals, d. h. zur Produktion des eigenen Lebens in Gesellschaft und damit zum Konstitutionsprozess des Seins - "We are such stuff, As dreams are made on".

   

  Mit dem Dagegen-Sein der Multitude geht es um "eine Strategie des ethischen Wiederaufbaus"[LAS], "genauer darum, die Welt zu bauen und damit die Möglichkeit zu zerstören, sie mittels religiöser, politischer und marktförmiger Aberglauben zu beherrschen."[VEEWM]

   

  Paolo Virno, der seinem Seminar über die Multitude daher konsequenterweise den Untertitel "Untersuchungen zu gegenwärtigen Lebensformen" gegeben hat, stellt fest: "Die Vielen sind als Individuationen des Universellen zu denken, des Allgemeinen, des Gemeinsamen."[GDM] Die Konstitutionen einer Weltgesellschaft im globalen Empire - sagen wir es frei heraus: eines Weltbürgertums - erfolgt als Prozess der Individuationen eines seit je her Gemeinsamen. Sie entsteht als Exodus aus dem Empire, in den Bewegungsformen selbst, die Befreiungsformen sind.

   

  "Das Problem ist nämlich nicht das der Herrschaftsformen, sondern das der Befreiungsformen"[LAS], schreibt Negri. Genau dies ist es, was der Anarchismus wie auch der Marxismus-Leninismus oder der Staatskommunismus nicht verstanden haben. Mit ihren Fixierungen auf die Herrschaftsformen und auf Gegensatzpaare wie "individuell"/ "kollektiv" oder "öffentlich"/"privat" haben sie verkannt, dass das Gemeinsame seit je her die Basis jeglicher Individuation bildete.

   

  Heute ist es der global gewordene Kapitalismus selbst, das Empire, das diese Grundkonstitution des Politischen wieder entbirgt. Und es ist die Multitude, die Bewegung der Bewegungen, die in ihrem Kampf um die Wiederaneignung des eigenen Lebens in seiner Mannigfaltigkeit und des gesamtgesellschaftlich geschaffenen Reichtums, folglich die Demokratie erneut einfordern.

   

  Was Hardt/Negri den "irdischen Staat der Menge"[E] nennen, greift das unmittelbar wieder auf, was zu Beginn unserer modernen Demokratien gleich in Vergessenheit geriet, Spinozas Begriff der "absoluten" oder "uneingeschränkten Demokratie".[TP] "Denn eine uneingeschränkte Regierungsgewalt ist", schrieb dieser 1677 in seinem Politischen Traktat, "wenn es so etwas gibt, in Wahrheit diejenige, die die ganze Menge (integra multitudo) in Händen hat."[TP]          

   

  Gegen Ende ihres Buches Empire entwerfen Hardt/Negri für die Konstitution der uneingeschränkten Demokratie eines "irdischen Staates der Menge" erste Elemente eines politischen Programms. Ich stelle diese abschließend - es sind deren drei - vor:

   

  1.       Weltbürgerschaft. "Die Menge muss dazu in der Lage sein zu entscheiden, ob, wann und wohin sie sich bewegt. Sie muss darüber hinaus das Recht haben, zu verharren und sich an einem Ort Einzurichten statt immer wieder gezwungen zu werden, sich auf den Weg zu machen. Das allgemeine Recht, ihre Bewegungen zu kontrollieren, ist letztlich die Forderung der Menge nach einer Weltbürgerschaft. Diese Forderung ist insofern radikal, als sie den grundlegenden Apparat imperialer Kontrolle über Produktion und Leben der Menge in Frage stellt. Weltbürgerschaft bedeutet die Macht der Menge, die Kontrolle über den Raum wiederzuerlangen und damit eine neue Weltkarte zu entwerfen."[E] 

   

  2.       Der soziale Lohn. "Im biopolitischen Kontext des Empire (...) fallen die Produktion von Kapital und die Produktion und Reproduktion gesellschaftlichen Lebens immer stärker zusammen; es wird somit immer schwieriger, die Unterscheidung zwischen produktiver, reproduktiver und unproduktiver Arbeit aufrecht zu erhalten. Arbeit - materielle oder immaterielle, geistige oder körperliche - produziert und reproduziert gesellschaftliches Leben und wird dabei vom Kapital ausgebeutet. (...) In dem Maße, in dem die Arbeit die Fabrikgebäude verlässt, wird es immer schwieriger, an der Fiktion irgend eines Maßes für den Arbeitstag fest zu halten und somit die Produktionszeit von der Reproduktionszeit, bzw. die Arbeitszeit von der Freizeit zu trennen. (...) Diese Generalität biopolitischer Produktion verdeutlicht eine zweite programmatische politische Forderung der Menge: nach einem sozialen Lohn und nach einem garantierten Einkommen für alle."[E]

   

  Ich schiebe hier kurz ein, dass bereits Marx im Kapital festgestellt hat: "Das Kapital ist also nicht nur Kommando über Arbeit, wie A(dam) Smith sagt. Es ist wesentlich Kommando über unbezahlte Arbeit".[K] 

   

   

  3.       Das Recht auf Wiederaneignung. "Heute ist alle Arbeitskraft (materielle wie immaterielle, geistige wie körperliche) in Kämpfe um die Vernunft der Sprache und gegen die Kolonialisierung der kommunikativen Gemeinschaft durch das Kapital verwickelt. (...) Damit können wir eine dritte politische Forderung der Menge formulieren: das Recht auf Wiederaneignung. (...) Sozialisten und Kommunisten haben immer wieder gefordert, das Proletariat müsse freien Zugang zu und Kontrolle über die für die Produktion verwendeten Maschinen und Materialien haben. Im Kontext immaterieller und biopolitischer Produktion erscheint diese traditionelle Forderung jedoch in neuer Form. Die Menge benutzt nicht nur Maschinen zur Produktion, sondern wird auch selbst zunehmend zu einer Art Maschine, da die Produktionsmittel immer stärker in die Köpfe und Körper der Menge integriert sind. In diesem Zusammenhang bedeutet Wiederaneignung, freien Zugang zu und Kontrolle über Wissen, Information, Kommunikation und Affekte zu haben. (...) Doch die Tatsache allein, das diese Produktionsmittel in der Menge selbst zu finden sind, bedeutet noch nicht, dass die Menge sie auch kontrolliert. Eher lässt das die Entfremdung davon noch niederträchtiger und verletzender erscheinen. Das Recht auf Wiederaneignung ist somit in Wahrheit das Recht der Menge auf Selbstkontrolle und autonome Eigenproduktion."[E]

   

  Zum Schluss möchte ich das hier in drei Teilen Vorgestellte gerne in einem Satz zusammen fassen:

   

  Der Kapitalismus leitet seine global gewordene Herrschaft einzig daraus ab, dass er unsere Welt, das Leben auf dieser "Erde", zerstören kann. Wir können diesen aber überwinden, indem wir wieder verstehen, dass es vielmehr darauf ankommt, diese Welt zu bauen.

   

  Wie Toni Negri sagt:

   

  "Die ,Erde' ist unsere Bedingung. (...) Die Erde kommt vor der Materie, sie ist deren Grundlage; die Erde ist das, was Menschen bearbeiten und verändern, um Reichtum zu schaffen. Die Erde ist durch Arbeit transformierte Natur. (...) Die Erde ist gleichzeitig die Grundlage von allem und das Produkt menschlicher Tätigkeit. Darin findet man alle Aspekte unseres Verhältnisses zum Realen. (...) Dabei sind Gewiss das ökologische Gleichgewicht und bestimmte Grenzen der Entwicklung im Blick zu behalten, doch stehen diese Bedenken und Vorsichtsmaßnahmen der schöpferischen Potenz nicht entgegen, durch die der Mensch in der Lage ist, die Erde zu verändern und zu vervollkommnen, indem er sie bearbeitet."[DR]                

   

  Vielen Dank!

   

   

  Quellen:

   

  [E] Michael Hardt/Antonio Negri: Empire, 2000. [dt. Empire. Die neue Weltordnung, 2002]

  [M] Michael Hardt/Antonio Negri: Multitude, 2004. [dt. Multitude. Krieg und Demokratie im Empire,

  2004]

  [G] Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1857-58.

  [K] Karl Marx: Das Kapital, Band 1: Der Produktionsprozess des Kapitals, 1867. 

  [IM] Carola Möller: Immaterielle Arbeit - die neue Dominante in der Wertschöpfungskette, in:

  UTOPIE kreativ, Juni 2001.

  [LAS] Antonio Negri: L'anomalia selvaggia. Saggio su potere e potenza in Baruch Spinoza, 1981. [dt.

  Die wilde Anomalie. Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft, 1982]

  [DR] Antonio Negri: Du retour. Abécédaire biopolitique, 2002. [dt. Rückkehr. Alphabet eines bewegten

  Lebens, 2003]

  [WMT] Antonio Negri: "We must try!" Interview in der taz, 09.05.2009. 

  [TT] William Shakespeare: The Tempest, 1611. [dt. Der Sturm, 1798]

  [IWDK] Peter Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals, 2006.

  [TP] Baruch de Spinoza: Tractatus politicus, 1677. [dt. Abhandlung vom Staate, 1871] 

  [GDM] Paolo Virno: Grammatica della moltitudine. Per una analisi delle forme die vita contemporanee,

  2002. [dt. Grammatik der Multitude. Untersuchungen zu gegenwärtigen Lebensformen, 2005]

   [DZDUB] Robert Zion: Die Zeit, die uns bleibt, 2007-2008.

  [VEEWM] Robert Zion: Vom Ethos einer werdenden Menschheit, in: Episteme. Online-Magazin

  für eine Philosophie der Praxis, November 2008. 

   

   

  Literaturhinweise:

   

   

  Zur Geschichte des Operaismus in Italien:

   

  . Steve Wright: Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus, Assoziation A, 2005. Kapitel 7 - Toni Negri und der gesellschaftliche Arbeiter: http://www.wildcat-www.de/dossiers/operaismus/Wright_Himmel_07.pdf

   

  Zur Geschichte und Begrifflichkeit des Postoperaismus:

   

  . Robert Foltin: Immaterielle Arbeit, Empire, Multitude. Neue Begrifflichkeiten in der linken Diskussion. Zu Hardt/Negris "Empire". Grundrisse/02/2002: http://www.projektwerkstatt.de/topaktuell/utopie/empire_vorstellung_grundrisse2.pdf

   

  Über die Multitude und soziale Bewegungen:

   

  . Michael Hardt: "Multitude ist ein organisatorisches Projekt". Ein Interview mit Michael Hardt. Episteme. Online-Magazin für eine Philosophie der Praxis, No. 3: http://www.episteme.de/download/Hardt-Multitude-Organisation.pdf

   

  Über philosophische/ontologische Grundlagen bei Spinoza:

   

  . Karl Reitter: Multitude & Empire oder Negris gar nicht so heimlicher Spinozismus. Grundrisse/14/2005:  http://homepage.univie.ac.at/karl.reitter/artikel/Empire__Multitude_grundrisse.htm

   

  . Warren Montag: Denken an den Grenzen der Gegenwart. Der neue Spinoza. Jungle World/28/2003: http://jungle-world.com/artikel/2003/27/10985.html

   



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