[Debatte-Grundeinkommen] "Arm, aber flexibel" - womit sich die BDK nicht befasst hat ...
horstschiermeyer at aol.com
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Do Nov 29 10:03:21 CET 2007
Unser "Nadelstreifenkommunist" (s.u.) Wilhelm Achelpöhler konnte leider
aus beruflichen Gründen nicht an der BDK teilnehmen. Sonst hätte er die
folgende, m.E. sehr wichtige Anmerkung, dort mit einbringen können:
ARM, ABER FLEXIBEL
Die Grünen befassen sich nicht mit den Ursachen von Armut und
Prekarisierung. Sonst hätten sie sich auf dem Parteitag endlich von der
rot-grünen Agenda 2010 verabschiedet
Für den grünen "Neuaufbruch" in der Sozialpolitik war der Parteitag in
Nürnberg ein erster Schritt. Die Grünen werden sich aber nicht die
Debatte ersparen können, weshalb die Marktwirtschaft hierzulande immer
mehr Armut hervorbringt. Und welchen Beitrag dazu sie selbst in den
Zeiten der Agenda 2010 geleistet haben.
Wer die grüne Debatte über den Umgang mit den Armen und ihrer Armut
verfolgt, findet eine seltsame Leerstelle: Die Ursachen der Armut sind
kein Thema. Dies gilt sowohl für die Seite der "bedarfsorientierten
Grundsicherung" als auch des "bedingungslosen Grundeinkommens". Wo
beide Seiten die Gründe der Armut vermuten, kann man aus ihren
Therapievorschlägen schließen. Danach ist Armut nicht nur ein Mangel an
Geld. Strukturelle Änderungen müssen her: mehr Bildung und eine Schule
für alle; mehr Gesundheitsprävention, schon wegen der vielen dicken
Kinder; eine Senkung der Lohnnebenkosten, gerade bei niedrigen
Einkommen, und eine Verbesserung der Kinderbetreuung wegen des
Armutsrisikos Kind. Aber ist das wirklich alles? "Zu dumm, zu krank, zu
teuer und zu unflexibel" - wer sich auf der Suche nach den Ursachen von
Armut damit begnügt, der individualisiert die Ursachen der Armut. Der
sucht den Grund für die Armut bei den Armen.
Früher sah man in der Lohnarbeit oder dem Umstand, auf sie angewiesen
zu sein, ein Armutsrisiko allererster Güte. Das war in den Zeiten, als
Kapitalismuskritik selbst in der SPD noch populär war, also im
vorletzten Jahrhundert. Es folgte die sozialstaatliche Einhegung des
Lohnarbeitsverhältnisses, die in den Jahrzehnten nach 1945 ihren
Höhepunkt erlebte. Diese Zeit kommt an ihr Ende mit der Prekarisierung
der Lohnarbeit, mit der Ausbreitung unsicherer, unsteter
Beschäftigungsverhältnisse.
Für manche hochqualifizierten Freiberufler mag eine "Flexibilisierung"
kein Problem sein, die Prekarisierung der Erwerbsarbeit ist heute
gleichwohl eine der wesentlichen Armutsursachen. Ein deutliches Zeichen
der Prekarisierung ist die drastische Zunahme der Leiharbeit. Der
heutige Aufschwung der Beschäftigung ist ein Aufschwung der Leiharbeit.
Der "Bundesverband Zeitarbeit" kann die 30-prozentigen Wachstumsraten
seiner Branche bejubeln, jeder vierte neue Job ist heute ein Job als
Leiharbeiter. Das ist auch ein "Verdienst" von Rot-Grün. Ein Verdienst,
über den man beim Parteitag in Nürnberg lieber nicht geredet hat. Dabei
war Leiharbeit einst verpönt, Grüne und SPD wollten sie sogar
gesetzlich verbieten.
Mit der Agenda 2010 hat Rot-Grün die Leiharbeit hoffähig gemacht. Der
Staat selbst sollte zum Leiharbeitgeber werden, mit den gescheiterten
"Personal-Service-Agenturen", als das Arbeitsamt die Arbeitslosen als
Leiharbeiter in die Betriebe schicken sollte. Gleichzeitig wurde
Leiharbeit für Unternehmer deutlich erleichtert. Rot-Grün hob mit den
"Hartz-Gesetzen" die Vorgabe auf, wonach Zeitarbeiter nur maximal zwei
Jahre an einen Betrieb ausgeliehen werden durften. Leiharbeit ist heute
unbefristet möglich. Das Nebeneinander von "regulär Beschäftigten" und
"prekären Leiharbeitern" in den Betrieben wird zur Normalität. Wenn
heute manche Betriebe einen Teil ihrer Beschäftigten an eigens
gegründete Leiharbeitsfirmen ausgliedern, dann steht das weniger für
den Übergang zu einer "wissensbasierten Industriegesellschaft" als
vielmehr für eine Verbilligung des Faktors Arbeit.
Ein Tarifwettlauf nach unten zwischen DGB und "christlichen
Gewerkschaften" führte dazu, dass das Prinzip gleicher Bezahlung
faktisch nicht gilt. Leiharbeiter senken so das Lohnniveau und
disziplinieren die Stammbelegschaften. In manchen Betrieben tragen sie
deshalb auch unterschiedliche Arbeitskleidung, blaue Kittel für die
Stammbeschäftigten, orange für die Leiharbeiter. So gerät auch die
Stammbelegschaft unter "Prekarisierungsdruck".
Auch andere Formen prekärer Beschäftigung, wie befristete
Arbeitsverhältnisse oder Mini- und Midi-Jobs, wurden durch Rot-Grün
tatkräftig gefördert. Befristete Verträge sind heute weitgehend Alltag
beim Berufseinstieg. Aus der "Generation Praktikum" wird die
"Generation Zeitvertrag". Das gilt insbesondere bei hochqualifizierten
Arbeitnehmern: Nur rund ein Drittel der Hochschulabsolventen hat 2005
noch einen unbefristeten Arbeitsvertrag bekommen. Gleichzeitig wurde
der Kündigungsschutz abgebaut.
Eines der Resultate: Das Lohnniveau sinkt hierzulande deutlich. Vor
zwei Monaten teilte das Statistische Bundesamt mit, der
durchschnittliche Nettorealverdienst von Arbeitnehmern habe im Jahr
2006 etwa auf dem Niveau von 1986 und unter dem des Jahres 1978
gelegen. Das war nicht das Ergebnis von naturgesetzlichen
Entwicklungen, sondern von einer staatlichen Politik, die auf die
Verbilligung des Faktors Arbeit in der Standortkonkurrenz Deutschlands
zielte.
Diese Prekarisierung der Erwerbsarbeit ist erklärtes Ziel einer Politik
der "Flexicurity", die auf eine Deregulierung des Arbeitsmarktes zielt,
abgefedert durch eine sozialstaatliche Armutsverwaltung. Armut wird
damit zum allgemeinen Lebensrisiko und dieses Risiko zum Normalzustand
der Gesellschaft erklärt. Die Lohnarbeit selbst wird wieder unsicher
und damit prekär. Kurz: Würden die grünen Pläne Wirklichkeit, hätte
allein in Baden-Württemberg jeder zweite
Vier-Personen-Arbeitnehmer-Haushalt Anspruch auf
Grundsicherungsleistungen.
Dazu passt, welche bemerkenswerte Note die Debatte um den Mindestlohn
bekommen hat: Im Vordergrund steht nicht mehr der Schutz des
Beschäftigten vor ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, sondern der
Schutz der Arbeitgeber vor Billigkonkurrenz. Im Baugewerbe geht es um
den Schutz deutscher Unternehmen vor billiger ausländischer Konkurrenz,
bei der Briefzustellung um den Schutz der Post vor der Billigkonkurrenz
der Zeitungsunternehmen und so weiter. Folglich sollen Mindestlöhne
nicht einheitlich sein, weil ihr Maß nicht der Lebensbedarf der
Beschäftigten ist, sondern regional und branchenbezogen, denn ihr Maß
ist die Konkurrenzsituation der Unternehmen.
Zeitgleich zu der grünen Diskussion will die Europäische Kommission ihr
"Flexicurity"-Konzept voranbringen - zur weiteren Deregulierung der
Arbeitsverhältnisse in Europa. Im Sinne der Stärkung Europas in der
weltweiten Standortkonkurrenz. Die Debatte wird derzeit im
Europaparlament geführt; hierzulande ist sie kaum Thema.
Eine Debatte, die diese Änderungen der Arbeitswelt ausblendet, greift
zu kurz. Ohne den Blick auf diese Ursachen der Armut bleibt der
Abschied von der Politik der Agenda 2010 unvollendet. Die Armut, der
Grundsicherung und Grundeinkommen begegnen wollen, ist ein Resultat
"der Marktwirtschaft". Die Frage ist: Will man die Armut verwalten oder
die Armut bekämpfen? Für Letzteres würde etwas mehr Kapitalismuskritik
der Debatte ganz guttun.
WILHELM ACHELPÖHLER
Fotohinweis: Wilhelm Achelpöhler ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht.
Er gehört den Grünen seit 1980 an und ist Sprecher des Kreisverbandes
Münster. Sich selbst bezeichnet er als "Ökosozialist"; die Realos
nennen ihn gern "Nadelstreifen-Kommunist".
http://www.taz.de/nc/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=me&dig=2007%2F11%2F29%2Fa0124&src=GI&cHash=ada9a950b1
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