[Debatte-Grundeinkommen] [Debatte] Roberts Argumente

Robert Zion zion at robert-zion.de
Mo Nov 19 12:27:38 CET 2007


Lieber Markus und die anderen,

sehr richtig, das mit der Reallohnentwickung! Die Frage lautet ja nur: Warum 
greift sowohl die fordistische Lohnpolitik als auch die keynesianische 
Beschäftigungspolitik über (Binnen-)Nachfragebelebung nicht mehr?

Die Antwort darauf ist vielfältig und auf keinen Fall monokausal abzuleiten.

1. Die machtpolitische Basis ist in Deutschland verloren gegangen. Anders 
als etwa in der Konsensdemokratie Schweden, ist in Deutschland der 
historische Kompromiss zwischen Arbeit und Kapital aufgekündigt - einseitig 
vom Kapital und in den letzten zwanzig Jahren auch zunehmend von den Medien, 
der Wirtschaftswissenschaft und der Politik.

2. Die Schwäche der Gewerkschaften, auf Punkt 1. zurückzuführen aber auch 
auf andere Faktoren: 2.1 Die klassische strukturelle Schwäche der 
Gewerkschaften (auf die Keynes bereits 1937 hinwies!): Diese haben im Kampf 
um die Nominallöhne nur einen Einfluss auf den verhältnismäßigen Reallohn in 
den einzelnen Sektoren aber nicht auf die gesamtwirtschaftliche 
Reallohnentwicklung. Die Ausdifferenzierung der Gewerkschaften und der 
sinkende Organisationsgrad hat in Punkt 1 aber auch hierin seine Gründe. Die 
Gewerkschaften verlieren ihre volkswirtschaftliche Funktion (und ohne einen 
neuen historischen Kompromiss werden sie diese voraussichtlich im alten 
Paradigma auch nicht mehr zurückgewinnen); 2.2 Die gewerkschaftlichen Kämpfe 
finden im entscheidenden Bereich der Arbeitszeitverkürzung nicht mehr statt; 
2.3 Der gewerkschaftliche Organisationsgrad tendiert im gesamten unteren 
Drittel, der aber entscheidend ist (marginale Konsumquote, Massenkaufkraft), 
gegen 0.

3. Das Globalsteuerungselement der Zinssteuerung, für Investitonstätigkeiten 
entscheidend, ist uns auf Grund der Europäisierung abhanden gekommen. Dies 
wird immer vergessen, ist aber in den "economies of scale" ebenso 
entscheidend.

4. Der Wandel von der Industriegesellschaft hin zur zunehmend wissens- und 
dienstleistungsbasierten Ökonomie setzt tendenziell das (marx'sche) 
Wertgesetz ausser Kraft und damit die fordistische Lohnpolitik. Treten 
Kommunikation, konzeptionelle Tätigkeiten, Distribution, affektive und 
informelle Arbeit in der gesamten Wertschöpfungskette in den Vordergrund, 
wird die Wertschöpfung diffus. Arbeit wird somit gesellschaftlich (ebenso 
wie die Abschöpfung des Mehrwerts) und zunehmend, weil nicht messbar, 
unbezahlt.

Eine Rekonstruktion industriegesellschaftlicher Vergesellschaftung über 
Normarbeit und fordistische Lohnentwicklung wäre nur noch über den Staat 
(massive Ausweitung) zu erreichen. In einer Konsensdemokratie wie Schweden 
tendenziell möglich, in der bundesrepublikanischen meiner Ansicht nach 
hochproblematisch, weil sich im gesellschaftlichen und politischen Dissens 
die Klassengegensätze (weiter) verschärfen würden.

Dass, was sich in den skandinavischen Gesellschaften als Grundton 
wiederfindet (in Schweden etwa seit Beginn des letzten Jahrhunderts), müsste 
bei uns als politischer Kampf um mehr Sozialismus geführt werden, quasi als 
ideologischer Verteilungskampf.

Ein tendenziell konsensualen Ansatzpunkt im politischen Spektrum der 
Bundesrepublik sehe ich dafür nicht, sehr wohl aber beim GE. Dass wir nach 
über 20 Jahren neoliberaler Strömungspolitik das Soziale zum Teil wieder von 
unten rekonstruieren müssen, dass sehe ich im Prinzip genauso wie du, die 
Frage nur, wo dafür der entscheidende Ansatzpunkt liegt, beantworte ich mit 
den GE-Befürwortern anders: Er liegt nicht in einer Ausweitung der 
ökonomischen Funktionen des Staates, sondern in einer Ausweitung seiner 
bürgerrechtlichen Garantien auf das Feld der Ökonomie. Und tatsächlich 
trifft sich doch gerade hier das gesamte Spektrum der (deutschen) Grünen in 
einem Modell, der Wertkonservativen, der kapitalismuskritischen Linken und 
der Menschen-und Bürgerrechtsliberalen.

Das Grundeinkommen könnte darum DAS Thema der Grünen in der Außenwahrnehmung 
der nächsten Jahre und Jahrzehnte werden, eben WEIL es in der Partei 
flügel-und strömungsübergreifend vorhanden ist, WEIL es uns eine neue 
Wählerschicht erschließen kann (von den "kulturell Kreativen" bis zu den in 
den neuen diffusen Arbeitsformen prekarisierten), WEIL wir als Konzeptpartei 
wieder ein GEMEINSAMES Konzept entwickeln können, WEIL wir hiermit wieder 
Hegemonie erreichen KÖNNTEN.

Zu guter letzt: dass der Kapitalismus alternativlos geworden ist, bedeutet 
ja nicht seinen endgültigen Sieg, sondern erfordert einen Strategiewechsel 
der antikapitalistischen Linken: weg von der (revolutionären) Überwindung, 
hin zur (evolutionären) Transformation. Ein "Zurück" zum alten 
sozialdemokratischen Kompromiss könnte daher eine Geschichte der verpassten 
Chancen werden. Die Wahl, die wir in Nürnberg haben, ist für mich objektiv 
eine zwischen zwei Unbekannten - und als solche eine Werteentscheidung.

Liebe Grüße
Robert
_________________________
Robert Zion, KV Gelsenkirchen
tel. 0209/3187462
Skype: zionger
zion at robert-zion.de
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----- Original Message ----- 
From: "Markus Kurth" <markus.kurth at bundestag.de>
To: <debatte at gruene-linke.de>
Sent: Friday, November 16, 2007 1:22 PM
Subject: [Debatte] Roberts Argumente


> Das Forum der Grünen Linken:
> http://www.gruene-linke.de/phpBB
> _______________________________________________
> Lieber Robert, liebe Pino, lieber Horst und andere Mit-Diskutierende!
>
> Robert schrieb: "Die Beschäftigungskosten sind einerseits zu hoch und 
> induzieren tendenziell immer einen weiteren Beschäftigungsabbau, sie sind 
> aber zugleich zu niedrig, um die Bedarfe der Arbeitnehmerhaushalte und die 
> Kosten der sozialen Sicherung decken zu können. Diese Lösung des jeweils 
> einen Problems führt zu eine Verschlechterung bei der Lösung jeweils 
> anderen Problems."
>
> Dieses Argument gibt doch lupenrein die Begründungskette wieder, die für 
> einen Kombilohn in Anschlag gebracht wird. Und die Argumentation stimmt 
> nicht: Das Problem ist vielmehr, dass in den letzten 15 Jahren die 
> Reallöhne in Deutschland weit hinter der Reallohnentwicklung in allen 
> anderen EU-Staaten zurückgeblieben sind. Die international 
> konkurrenzfähigen Unternehmen haben mit den Lohnkosten kein Problem. 
> Niedriglöhne gibt es vor allen Dingen in den Dienstleistungssektoren im 
> Inland, die eben nicht so einfach verlagert werden können: Wachdienste, 
> private Postdienste, Haushaltsdienste, Reinigungsgewerbe, zu weiten Teilen 
> bei der Pflege usw. In diesen Bereichen kann übrigens auch nicht so 
> einfach rationalisert werden, weil es sich um personenbezogene 
> Dienstleistungen handelt. Es muss doch darum gehen, die 
> Arbeitsgesellschaft hier konkret zu verändern und die abhängig 
> Beschäftigten vor Prekarisierung zu schützen! New Labour ist mit dem Abbau 
> von Schutzrechten für Beschäftigte gescheitert, weil die plumpe 
> neoliberale Annahme nicht aufgegangen ist, dass Prekarisierung zu mehr 
> Beschäftigung führt, weil die dankbare Unternehmerschaft neue 
> Arbeitsplätze einrichtet statt die Renditeziele zu erhöhen.
>
> Dass die Kosten der sozialen Sicherung zu Beschäftigungsabbau führen wie 
> es Roberts Argumentation nahelegt, ist ebenfalls unzutreffend. Entwickelte 
> soziale Dienste (Bildung, Erziehung, Gesundheitsdienste, Sozialberatung 
> etc.) führen zu mehr Arbeitsplätzen und stabilisieren die Gesellschaft, 
> auch wenn diese natürlich anteilig mehr dafür ausgeben muss. Die 
> skandinavischen Staaten machen uns doch vor, wie eine hohe 
> Sozialleistungsquote sehr wohl mit einem hohen Beschäftigungsstand 
> einhergehen kann - ja es gibt Forschungsergebnisse, dass der hohe 
> Beschäftigungsstand nicht trotz, sondern wegen der ausgebauten sozialen 
> Dienstleistungen so hoch ist. Aber diese Gegenargumente sind bestimmt mal 
> wieder sozialdemokratisch...
>
> Ein weiterer Punkt. Robert meint, dass kulturelle Arbeit im Stadtteil, 
> gemeinwesenbezogene nicht entfremdete Arbeit und ähnliches von einem GE 
> profitieren würde. Mag sein. Aber es fände doch auf dem niedrigem Niveau 
> von 420 Euro plus Zuverdienst statt. Ich wäre dafür, vernünftige, 
> öffentlich finanzierte Beschäftigung zu schaffen, Stadtteilarbeit zu 
> professionalisieren statt sie im prekären Raum zu belassen. Roberts 
> Argument würde doch auf direktem Weg dazu führen, dass kein Kämmerer auch 
> nur einen Cent für solche Stadtteilarbeit mehr ausgibt.
>
> Und zuletzt: Natürlich kann und sollte man die Marktverwertungslogik des 
> Kapitalismus in Frage stellen und dort, wo sie die Gesellschaft zu 
> zerstören droht, angreifen. Aber das GE greift den Kapitalismus gerade 
> nicht an, sondern wil ihn als Quelle zur Produktion des gesellschaftlichen 
> Reichtums erhalten. Es scheint mir nach Roberts Argumentation eher darum 
> zu gehen, den Modus seines Funktionierens umzustellen. Wenn das aber mit 
> großen Umverteilungen einhergehen soll, empfiehlt es sich, die Strategie 
> abzuwägen. Ohne sehr breite gesellschaftliche Mehrheiten (die es im Moment 
> nicht einmal ansatzweise gibt) entsteht die Eigendynamik, die Horst - wie 
> ich finde - treffend beschrieben hat. Und das willst ja auch Du - Robert - 
> erklärtermaßen nicht. Demnächst mehr dazu von mir.
>
> Viele Grüße
> Markus Kurth
> -- 
>
> Markus Kurth, MdB
> Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen
> Dorotheenstr. 101
> 10117 Berlin
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> Fax 030-227-76966
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