[Debatte-Grundeinkommen] Für alle Marxisten...

Joerg Drescher iovialis at gmx.de
Do Nov 1 18:54:01 CET 2007


Hallo Juli (und sonstige Interessierte),

da habe ich es also mit einem Experten zu tun, der sich scheinbar berufen
fühlt, den Marxismus zu verteidigen. Meinetwegen hat Marx nur kritisiert und
nie ein Modell vorgeschlagen. Verwunderlich nur, weshalb dann Lenin von den
Deutschen nach Russland aus der Schweiz geschickt wurde, um dort eine
Revolution auszulösen, damit der Krieg im Osten (1. Weltkrieg) beendet wird
und die "freiwerdenden Ressourcen" im Westen eingesetzt werden können. Was
hatte denn Lenin im Gepäck? Welches "System" sollte denn in der Sowjetunion
umgesetzt werden? Eine Kritik? Lenins Ideen basierten auf Marx' Schriften.

OK, was hat Marx denn nun so wichtiges festgestellt, daß ich mein(t)e, der
Mensch sei "gleich"? Marx kritisierte, daß die ungleichen Besitzverhältnisse
zur "Ungerechtigkeit" führen würden. Sein Schluß war, daß niemandem etwas
gehören soll, sondern allen Menschen alles. In der Besitzlosigkeit sind alle
Menschen "gleich" und damit sei das auch gerecht.

Das Problem der Besitzlosigkeit ist allerdings, daß sich die wenigsten für
das verantwortlich fühlen, was ihnen nicht gehört. Wenn nämlich alle für
alles verantwortlich sind, sollen sich doch andere drum kümmern, was mir
nicht gehört. Das ist meine "Kritik" an der "Marx'schen Kritik", die
eigentlich nur eine Feststellung war. Besser eine Schlußfolgerung im 19.
Jahrhundert, die er in England aufgrund den damaligen Verhältnissen machte.
Wie sich in der Sowjetunion zeigte, gab's dort auch Leute, die "gleicher"
waren und mehr bekamen - ein ganz natürlicher Vorgang (oder ist das
Universum überall gleich mit Materie "gefüllt"?). Gerecht ist das im Prinzip
auch - wenn alle die gleichen Möglichkeiten bekommen.

In kapitalistischen Ländern ist das mit dem Gemeinschaftsbesitz auch
festzustellen, denn wer setzt sich (heute) großartig für Dinge ein, die alle
Menschen betreffen? Aus dem Grund wird privatisiert und privatisiert und
privatisiert. Was jemandem "gehört" geht ihn etwas an und darum kümmert er
sich auch.

Der Gegenentwurf zum "marxistischen Sozialismus" (Keinem gehört etwas, jedem
gehört alles) war nach dem 2. Weltkrieg die "soziale Marktwirtschaft" mit
ihren Sozialversicherungssystemen, die auf Otto von Bismarck zurückgingen
(Arbeitslosenversicherung). Der Generationenvertrag, der auch nach dem 2. WK
ohne Vorbild abgeschlossen wurde, basierte auf dem Konzept, daß die Jüngeren
(die arbeiten) die Alten (die gearbeitet hatten) finanzieren. Dadurch
erarbeiten sie sich selbst einen Anspruch auf eine Altersversorgung, der
wieder vom Nachwuchs bezahlt würde. Dumm ist das System nicht, wenn da nicht
das Problem wäre, daß die Älteren immer älter werden und finanziert werden
müssen; daß es immer weniger Junge gibt, die in die Rentenkasse einzahlen
(können); daß die Staatsbeamten gar nicht an dem System teilnehmen...

Die "soziale Marktwirtschaft" geht davon aus, daß jene anderen helfen
sollen, die Hilfe benötigen (dafür gibt's das Versicherungssystem -
horizontale Verteilung durch Erwerbsarbeit). Der Gegensatz zur "freien
(liberalen) Marktwirtschaft" ist, daß dort jeder selbst kucken muß, wo er
bleibt (keine Verteilung). Das kann aber nur dann funktionieren, wenn alle
mit den gleichen Voraussetzungen beginnen (vgl. die Ideen von John Rawls).
Der Entwurf der "jovialen Marktwirtschaft" (nach Dilthey) besagt, daß alle
allen helfen (BGE - vertikale Verteilung durch Konsumbesteuerung), aber
jeder auch das bekommt, was er selbst verdient (Besitz ist "gestattet").

Ich will hier gar nichts zitieren, denn das wäre nachgeplappertes Wissen -
ich versuche das Gelesene in eigene Worte zu fassen - hab' ich's nun
"richtig" verstanden? Ist es mir vielleicht untersagt, selbst zu denken und
die Geschichte zu verstehen? Muß sich der "Kommunismus" (und die
Besitzlosigkeit) wiederholen? Was sagt der Experte dazu?

Viele Grüße aus Kiew,

Jörg (Drescher)




----- Original Message ----- 
From: "Juli" <juli at 180-grad.net>
To: <debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de>
Sent: Monday, October 29, 2007 10:50 AM
Subject: Re: [Debatte-Grundeinkommen] Für alle Marxisten...


Hallöle!

Auch eine Möglichkeit, Debatten in eine an sich brachliegende Liste zu
kriegen: einfach mal so richtig unsinniges Zeug schreiben. Von mir dazu
nur ein paar kleinere Anmerkungen:


Joerg Drescher schrieb:
> danke für Deine ausführliche Antwort, was zum besseren Verständnis
> beiträgt. Trotzdem bin ich der Meinung, daß der Kommunismus, bzw.
> Marxismus nicht funktioniert. Der Mensch ist eben nicht auf der Ebene
> gleich, wie ihn diese Theorien gleich machen wollen.
Wo tut sie das denn?

Die marxsche Theorie ist in erster Linie eine "Kritik". Das heißt: Marx
kritisiert die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft. Daraus lässt
sich vielleicht negativ etwas über eine befreite Gesellschaft sagen,
besonders viel dazu geschrieben hat Marx allerdings nicht. Ich halte die
Aussage, Marx wollen alle Menschen "gleich" machen, für eine unbelegte
Unterstellung und biete für jedes Zitat, das diese Einschätzung belegt,
zwei Gegenbeispiele. Mal ganz pauschal ,-)

> Deshalb ist jeder realer Umsetzungsversuch zum Scheitern verurteilt
> (was uns die Geschichte gezeigt hat).
Hier beißt sich die Katze in den virtuellen Schwanz: Da Marx kein System
erdacht hat, sondern lediglich eins kritisiert hat, kann da auch keine
Umsetzung scheitern. Was scheitern kann, ist die Kritik. Etwa, indem
sich zeigt, das endgegen seinen Ausführungen doch alles ganz reibungslos
funktioniert. Den Eindruck habe ich allerdings nicht.

Marx hat sich sogar immer wieder davon abgegrenzt, das er Systembildung
betreiben würde. Beim durchsehen eines volkswirtschaftlichen
Einführungsbuches von einem gewissen Adolf Wagner etwa hat er an den
Rand geschrieben:

„Nach Herrn Wagner ist die Werttheorie von Marx "der Eckstein seines
sozialistischen Systems" Da ich niemals ein "sozialistisches System"
aufgestellt habe, so dies eine Phantasie (der anderen)“

Insofern: die Phantasie des Jörg Drescher, sozusagen.
> Der Konflikt besteht nicht in den Ideologien, sondern im Menschsein:
> dem Problem der Gleichheit und gleichzeitigen Unterschiedlichkeit. Wo
> finde ich das aber bei Marx? Welchen Weg schlägt er vor? Entspricht
> dieser Weg noch der heutigen Zeit? Wo wird bei Marx der Mensch
> betrachtet? Wie sieht er ihn?
Wie gesagt: er schlägt zunächst mal gar nichts vor, er kritisiert.
Letztlich zieht sich die Kritik durch das ganze Werk, zum Begriff der
Gleichheit wird sie vor allem an zwei Stellen deutlich: Im Kapital (MEW
23, 189ff) und vor allem in einer sehr empfehlenswerten und oft
ignorierten Stelle in den Grundrissen (MEW 42, 166ff)

Marx analysiert hier die Gleichheit kritisch ls ein
bürgerlich-kapitalistisches Prinzip, das tatsächlich auf genau das
hinausläuft, was du ihm als Wunsch unterstellen willst: das die Menschen
sich durch den Tausch gleichsetzen. Das wird nur möglich durch ihre
reale Ungleichheit - wenn sie nicht unterschiedliche Bedürfnisse hätten
oder unterschiedliche Dinge tun würden, gäbe es schließlich nix zu
tauschen. Gleichzeitig wird diese Ungleichheit aber, obwohl
Voraussetzung, untergraben. Eben durch den Bezug der je einzelnen auf
eine bewußtlose Ökonomie, die sich die Vielen als Gleiche unter ihre
Ansprüche unterordnet. Das ist nicht schön, aber eben Kapitalismus.

Die marx'sche Vision wird hier nur negativ deutlich: es würde gelten
einen Zustand zu schaffen, in dem der Einzelne nicht isoliert von
anderen über anonyme Zwänge mit ihnen vergesellschaftet wird. Sondern in
dem die Möglichkeiten wirklicher Freiheit und wirklicher Gleichheit zum
tragen kämen. Es würde also - hier hast du dann wieder ein wenig recht -
nicht darum gehen, einfach nur das Gegenteil zu machen. Vielmehr müssten
die beiden scheinbar widersprüchlichen Ansprüche (Freiheit und
Gleichheit) auf eine höhere Ebene (Synthese, quasi) zu sich selber
kommen. Zumindest solange wir dem Marx der Grundrisse folgen wollen...
> Wir stehen vor einer "neuen sozialen Frage", die auf "soziale
> Gerechtigkeit" hinausläuft. Und "soziale Gerechtigkeit" hat sehr viel
> mit Gleichheit zu tun.
Auch hier würde Marx dir wohl widersprechen. Sicherlich hat
Gerechtigkeit auch für ihn etwas mit Gleichheit zu tun. Nur eben
negativ: Im Kapitalismus ist laut Marx für Gerechtigkeit gesorgt,
alleine dadurch, das die Menschen Waren als Äquivalente (als Gleiche)
tauschen. Das gilt auch für den Verkauf der Ware Arbeitskraft, so das
auch der marxsche Mehrwert nicht durch Betrug, sondern gerade durch die
Einhaltung zivilisierter, gerechter Standarts entsteht. (MEW 23, 207ff)

Soviel von mir.

bunte grüße,

juli
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