[Debatte-Grundeinkommen] Dekonditionierung

Joerg Drescher iovialis at gmx.de
Di Mär 20 22:48:32 CET 2007


Hallo zusammen,

scheinbar braucht es vor Einführung eines Grundeinkommens nicht nur
Paradigmenwechsel, sondern vor allem Dekonditionierung. Unter
Konditionierung (ein Begriff aus der Psychologie) versteht man das Erlernen
von Reiz-Reaktions-Mustern. Auf den Reiz "Arbeit" folgt die "Reaktion" Geld
(Einkommen) - und diese Konditionierung hängt beim Großteil der Bevölkerung
tief im Bewußtsein verankert fest. Selbst bei manchen Modellen zum
Grundeinkommen zeigt sich dieses erlernte Denk-Muster.

Der oft zitierte Paradigmenwechsel ist nichts anderes, als eine
Dekonditionierung. Die Paradigmen "Geld" und "Arbeit" (besser gesagt, die
damit verbundenen Vorstellungen) müssen einen Wechsel vollziehen, was
allerdings aufgrund der bestehenden Konditionierung sehr schwer fällt.

Selbst Marx schaffte es nicht, diese Konditionierung aufzubrechen. Der
Erfolg des Marxismus war deshalb so groß, weil ein neuer Gegner geschaffen
wurde (die Kapitalisten). Das Grundeinkommen (im Sinne von Entkopplung des
Reiz-Reaktions-Muster "Arbeit-Einkommen") hat es deshalb so schwer, weil
kein wirklicher Gegner auszumachen ist - es fehlt ein "Feindbild", das
außerhalb des Einzelnen liegt. Das Feindbild "Hartz-Gesetze" kann auch ein
Grundeinkommen auf alten Denkmustern aufbauen...

Wir haben es mit mächtigen Interessen (dem Festhalten an alten Denkmustern)
zu tun, die Widerstand leisten und verglichen mit dem physikalischen
Trägheitsgesetz enorm stark sind.

Selbst den Grundeinkommensbefürwortern (so oftmals mein Eindruck) ist nicht
klar, was "Geld" oder "Arbeit" eigentlich bedeutet. Der geforderte
Paradigmenwechsel wird durch die Konditionierung blockiert, weshalb sich die
notwendige Konsequenz nur in wenigen BGE-Modellen durchschlägt. Deshalb
kommt es in den eigenen BGE-Befürworter-Reihen zu Grabenkämpfen und
Uneinigkeit. Noch schlimmer ist es, daß die BGE-Befürworter in
unterschiedlichen Parteien versuchen, die Parteispitze von der BGE-Idee zu
überzeugen und gutmütig glauben, daß dies möglich wäre. Dabei ist die
Parteispitze oftmals Teil jener widerstandsfähigen Masse, welche dem
Trägheitsgesetz gehorcht.

Das BGE würde viel einfacher umzusetzen sein, wenn sich die BGE-Befürworter
in einer neuen, eigenen Partei zusammenschließen würden. Attac kann man
dabei den Vorwurf machen, daß es sich um eine Art "außerparlamentarische
Oposition" handelt, die sich real-politisch überhaupt nicht organisieren
will. Dann braucht man sich aber nicht wundern, daß sich die Realpolitik nur
"träge" auf Vorschläge dieser "APO" einläßt, wenn diese "APO" selbst nicht
den Mut aufbringt, politische Verantwortung zu übernehmen.

Die Wirtschaft setzt Regierungen damit unter Druck, daß sie mit Entlassungen
droht. Warum sollte die Parteibasis die Parteien nicht unter Druck setzen?
Die Parteien sind sowieso schon geschwächt, weil Austritte aus
Unzufriedenheit geschehen. Ein Grund, weshalb ein Rest trotzdem "den Kampf
in den eigenen Reihen" versucht, könnte sein, daß eine neue Partei kein
"gemachtes Nest" der "Macht" darstellt. Ich glaube allerdings, daß es
ungleich schwerer ist, bestehende Parteien intern zu einer BGE-Idee zu
bewegen, als über eine überparteiliche BGE-Bewegung (ohne realpolitische
"Macht") dekonditionierend zu wirken. Das Reiz-Reaktions-Muster
"Partei"-"Macht" dürfte dabei ebenfalls eine Rolle spielen. Dabei geht es
nicht um "Macht", sondern um Verantwortung (Ich werde nie verstehen, wieso
sich Politiker freuen, endlich Verantwortung für ein paar Millionen
übernehmen zu müssen, wenn sie gewählt wurden - sind Sie sich ihrer Aufgabe
überhaupt bewußt?).

Viele Grüße aus Kiew,

Jörg (Drescher)

PS: Im Januar veröffentlichte ich einen Aufsatz, über eine
"verhaltenstheoretische Betrachtung" zum Grundeinkommen. Darin wird indirekt
auf den Begriff Konditionierung im Zusammenhang mit Arbeit näher
eingegangen. Dieser Aufsatz ist eng mit einem zweiten Aufsatz verbunden
("trophologische Betrachtung zum Grundeinkommen"). Beide Aufsätze sind unter
folgendem Link herunterladbar und dürfen frei verbreitet werden:
http://www.iovialis.org/download




Mehr Informationen über die Mailingliste Debatte-Grundeinkommen