[Debatte-Grundeinkommen] [Gr.NetzGE] Text zum Grundeinkommen

Joerg Drescher iovialis at gmx.de
Sa Jul 7 17:45:40 CEST 2007


Hallo Robert,

Danke für Deinen interessanten Text! Vielleicht sagt Dir der Name Linus
Torvalds etwas? Das ist der "Erfinder" von LINUX. Da sich eine riesengroße
Zahl für seine Biographie interessierte, willigte er ein, so etwas zu
schreiben. Das Buch nennt sich "Just for fun" und beginnt mit dem "Sinn des
Lebens". Die Idee, mit diesem Thema zu beginnen, war deshalb entstanden, um
die Leser neugierig zu machen, damit sie das Ding kaufen, um sie im Restteil
mit üblichem "blabla" zu langweilen (so steht das auf Seite 1).

Der "Sinn des Lebens" wird von Torvalds mit drei Motiven erklärt, die in
dieser Reihenfolge abläuft:
1.) Überleben
2.) Gesellschaftsordnung
3.) Vergnügen und Unterhaltung

Auch wenn man das nun nicht ernst nehmen will, steck doch eine erhebliche
Wahrheit dahinter: Ist nämlich erstmal das Überleben gesichert, widmet man
sich der Gesellschaft, bzw. besser gesagt der Gemeinschaft und sucht darin
seinen Sinn (schließlich ist es in der Gemeinschaft einfacher, zu
"über"leben). Ist das Überleben in der Gemeinschaft gesichert, geht es nur
noch um den "Spaßfaktor" (das Ausleben des Individuums).

Dein Text spiegelt dies wieder, denn die Forderung nach einer freien
Gesellschaft ist eigentlich der dritte Punkt der Torvalds'schen Aussage.
Dein Zitat des "libertären Kommunismus" drückt diesen Übergang von
Gemeinschaft (im Sinne des Wortes) zur Gesellschaft (als
Individualgemeinschaft) aus.

Die großen politischen Ideologien stammen noch aus einer Zeit, als es darum
ging, die Gemeinschaft so zu organisieren, daß darin Überleben möglich war.
Sie verlieren heute deshalb an Bedeutung, weil die Gemeinschaft nicht mehr
(gefühlt) nötig ist, um zu überleben. Das erklärt Politikverdrossenheit und
Interessenlosigkeit (einer Mehrzahl) an Dingen, die sie nicht persönlich
betreffen. Schon die Römer wurden deshalb von Juvenal mit dem Spruch "panem
et circenses" (Brot und Spiele) "veräppelt".

Es gilt deshalb nicht, das BGE einfach zu fordern und den politischen
Ideologien, bzw. deren Vertretern einen Vorwurf zu machen, daß sie das
Potential des BGE nicht verstehen würden. Wie sollen sie es nach ihren
Ideologien auch verstehen, wenn das BGE die Ideologie eigentlich überflüssig
macht? Niemand wird sich den Ast selbst absägen wollen, weshalb das BGE auf
den herkömmlichen politischen Ideologien niemals das werden kann, was die
Nichtideologen (wie z.B. Torvalds, dem ich eine BGE-Befürwortung nicht
unterstellen will) instinktiv spüren und fühlen.

Deshalb plädiere ich (seit inzwischen Jahren) für eine neue politische
Ideologie (wobei ich nicht der Einzige bin, sondern diese Forderung von dem
israelischen Politikprof. Dr. Dror als Aufgabenstellung übernahm:
http://www.iovialis.org/index.php?id=7&lang=de). Mein Vorschlag lautet (auch
nicht seit gestern): Jovialismus, der sich als demokratische
Globalphilosophie mit globaler Gleichheit und globaler Herrschaft
beschäftigt.

Das BGE läßt sich nicht mit den herkömmlichen Ideologien in der Form
vereinbaren, wie ihn manche als emanzipatorischen Ansatz sehen wollen, denn
das emanzipatorische BGE ist liberal-sozial - kürzer ausgedrückt: jovial.
Ich hoffe, meinen Vorschlag bald unterbreiten zu können - er liegt gerade
einem kleinen, ausgewählten Personenkreis zur Prüfung und Meinung vor.

Viele Grüße aus Kiew,

Jörg (Drescher)



----- Original Message ----- 
From: Robert Zion
To: Grünes Netzwerk Grundeinkommen ; Debatte Grundeinkommen ;
verteiler at gruene-linke.de
Sent: Saturday, July 07, 2007 12:14 PM
Subject: [Gr.NetzGE] Text zum Grundeinkommen


Hallo,

auch im Anhang als PDF.

Liebe Grüße

Robert Zion, KV Gelsenkirchen
tel. 0209/3187462
zion at robert-zion.de

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Die Gespenster der Vergangenheit

In ihrem Widerstand gegen das bedingungslose Grundeinkommen schreckt die
Linke derzeit vor dem Individualisierungsschub der Gesellschaft zurück - und
leugnet dabei ihre Wurzeln

Im postindustriellen Zeitalter, in dem sich zunehmend eine grundlegende
Transformation der Produktions- und Arbeitsformen abzeichnet, steht die
Gesellschaft vor einem qualitativen Sprung. Die eigentlich wertschöpfende
Arbeit wird immateriell (Der Anteil des Wissens an der Wertschöpfung beträgt
heute nahezu 70%), diversifiziert sich in die Gesellschaft hinein und bringt
damit die beiden Grundpfeiler der alten Gesellschaftsordnung ins Wanken, den
bürgerlichen Eigentumsbegriff und den Disziplinarcharakter des Staates und
seiner Institutionen.

Diese Entwicklung ist Banalität und radikale Transformation zugleich, denn
seit je her haben die Arbeits- und Produktionsweisen unsere Gesellschaften
institutionell und politisch geformt und ihnen im Nachgang ihren Namen
verliehen: Feudalgesellschaft, Industriegesellschaft. Die sich zur Zeit
ausformende Wissensgesellschaft wird so keinen Bruch in einer historischen
Kontinuität darstellen, die in jedem qualitativen Sprung zugleich einen
Vergesellschaftungs- und hiernach einen politisch vermittelten
Individualisierungsschub auslöste.

Denn die moralischen und politischen Werte einer Gesellschaft waren nie ein
Input, etwas vorgelagertes, sie waren und sind immer Ausdruck dessen, wie
die Gesellschaft ökonomisch produziert und sich damit auch kulturell
reproduziert. Und so wie die erste industrielle Revolution dereinst zur
Voraussetzung hatte, dass an die Stelle des Leibeigenen der "freie"
Arbeitskraftanbieter trat, so erfordert die neue Wissensökonomie heute das
befreite Individuum.

Tatsächlich verschwimmen heute die Grenzen zwischen produktiven und
reproduktiven Tätigkeiten, zwischen Arbeitszeit und Freizeit, kurz: die
ganze Gesellschaft ist tendenziell in Produktion gesetzt. Dabei verliert die
Arbeit ihren klassischen Charakter als vom Subjekt abgetrennte und
handelbare Ware Arbeitskraft und wird zur Arbeit an und mit sich selbst für
sich und für andere. So verschieben sich nicht nur die Anforderungen an die
staatlichen Institutionen und den Einzelnen bezüglich der Arbeits- und
Lebenszeitorganisation, auch unsere nach wie vor bürgerlich und
industriegesellschaftlich verfassten Begriffe von sozialer Sicherheit und
Gerechtigkeit geraten ins Wanken.

Denn die Abschöpfung des gesellschaftlich erzeugten Mehrwerts scheint nur
noch auf der Ebene der Gesamtgesellschaft möglich. An die Stelle des
bürgerlichen Eigentumsbegriffs, also der individuellen Aneignung der eigenen
Arbeitsergebnisse, tritt der individuelle Anspruch auf "Zugang zu" und
"Teilhabe an" gesamtgesellschaftlichen Mehrwertergebnissen. Die soziale
Frage beginnt sich darum heute um diese Pole zu organisieren, um den freien
Zugang zu ökonomischen, sozialen und politisch-kulturellen Netzwerken und um
die individuelle Teilhabe am Reichtum der Gesamtgesellschaft.

Die Verteilungsfrage verschwindet darüber nicht, sie beginnt nur einen
grundlegenden anderen Charakter anzunehmen. Die bisherigen Mechanismen der
marktförmigen Primärverteilung und der staatsförmigen Sekundärverteilung
zerschellen an der schlichten Tatsache, dass die Akkumulation des
gesamtgesellschaftlich erzeugten Reichtums heute weitestgehend im privaten
Vermögensbesitz stattfindet, der allerdings nach wie vor noch als
unantastbar gilt. Doch ist diese individuelle Aneignung keine Aneignung der
Früchte der eigenen Arbeit mehr, sondern eine Aneignung der Früchte eines
gesamtgesellschaftlichen Produktionszusammenhangs. Mit den Worten des
kommunistischen Manifests von 1848 gesagt: "Das persönliche Eigentum
verwandelt sich nicht in gesellschaftliches. Nur der gesellschaftliche
Charakter des Eigentums verwandelt sich."

Darum auch ist die Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen im Kern eine
Debatte darüber, wie sich die Gesellschaft ihren aus sich selbst heraus
geschaffenen Reichtum wieder aneignen kann. Das Grundeinkommen ist darum die
richtige neue verteilungspolitische Idee, es ersetzt die teilweise
dysfunktional gewordenen, teilweise zusammenbrechenden Mechanismen der
Primär- und Sekundärverteilung durch eine Protoverteilung, durch eine Art
Input-Output-Steuerung der gesamtgesellschaftlichen Wertschöpfung. Dass
hierbei allerdings ökonomische Outputs (Güter- und Umweltverbrauch, Vermögen
und Kapitalerträge) und nicht mehr Wertschöpfungen selbst (Arbeit und
unternehmerische Tätigkeit) abgeschöpft werden müssen, sollte auch von den
Befürwortern eines Grundeinkommens deutlicher als bisher herausgehoben
werden.

Das Grundeinkommen muss dabei als der nur geldwerte Teil einer
Sozialdividende verstanden werden, die der Staat der Zukunft abschöpft und
individualisiert auf seine Bürger als Bedingung zukünftiger Wertschöpfung in
der Wissensökonomie zurückverteilt. Denn ergänzend wird es die Aufgabe neuer
Institutionen des Staates sein, über den freien Zugang zu Wissen und
Bildung, über die Bewegungs- und Repressionsfreiheit und auch über einen
gemeinwohlorientierten Arbeitssektor, seinen Bürgern ebenso eine Wissens-,
Freiheits- und Teilhabedividende zu garantieren.

Die Wissensgesellschaft der Zukunft könnte also, wieder in den Worten des
Manifests ausgedrückt, eine Gesellschaft sein, "worin die freie Entwicklung
eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist." Tatsächlich
steuert der Kapitalismus derzeit latent auf eine Art libertären Kommunismus
zu ("Kommunismus des Kapitals" nennt dies der Philosoph Yann Moulier
Boutang), der die bürgerliche Form aus sich selbst heraus überwindet, eine
Entwicklung, die im Nachhinein die beschrittenen Umwege über Keynesianismus,
Sozialdemokratie und Sozialismus als Sackgassen erscheinen und deren Krise
und Niedergang nur allzu verständlich erscheinen lässt.

Allerdings bangen zur Zeit gerade deshalb die meinungsbildenden Wortführer
auf der Linken aus Gewerkschaften, Parteien und Wissenschaft um ihre
Definitionshoheit über die Politik und um die Glaubwürdigkeit ihrer
Problemlösungskompetenzen. Dabei überspielen sie ihre Unfähigkeit
abschließen und das vollkommen Neue identifizieren, annehmen und gestalten
zu können, mit dem verzweifelten Festhalten an ökonomischen und politischen
Ordnungsvorstellungen, von denen nur noch sie selbst als Funktionseliten
wirklich profitieren. Es ist ein Widerstand von Technokraten und
Funktionären, die sich vehement gegen die politische Verwirklichung des
Individualisierungs- und Freiheitsschubes in der Folge des ökonomischen
Vergesellschaftungsschubes stellen.

Für die Funktionsträger der politischen Linken wie für die der
Gewerkschaften ist es im Grunde eine Peinlichkeit, dass sie sich von der
eigenen Basis und Jugend oder von Unternehmern wie Götz Werner erst erzählen
lassen müssen, dass ein Gesellschaft im Umbruch gesellschaftspolitische
Zielvorstellungen, in die Zukunft weisende Richtungsentscheidungen und eben
auch Ideale braucht, um die im Umbruch schlummernden emanzipatorischen
Potentiale überhaupt erst Wirklichkeit werden zu lassen und dass es eben
nicht genügt, sich an den ohnehin brüchig gewordenen Errungenschaften der
Vergangenheit festzuklammern. Und so ist es vor allem deren Mutlosigkeit,
die erstaunt, die Mutlosigkeit, den qualitativen Sprung in eine freiere
Gesellschaft endlich zu wagen und somit die Ideale von 1848 ein Stück
wirklicher werden zulassen.

                    ROBERT ZION



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