[Debatte-Grundeinkommen] soziales versus joviales Verhalten

Joerg Drescher iovialis at gmx.de
Fr Aug 3 12:59:43 CEST 2007


Hallo Manfred (und alle Interessierten),

wenn ich glauben würde, daß "sozial" schon immer so gehandhabt wird, wie
heute, müßte ich sehr stark an der Menschheit im Allgemeinen zweifeln. Nur
verkam die Bedeutung des Wortes, weil es sich eben auch anders
interpretieren läßt. Und wie ich geschrieben hatte, drückt die politische
Interpretation des Worts die rechtliche Praxis aus. Das Wort "jovial" ist im
Wort "sozial" enthalten und unterstreicht das eigentlich "soziale". Mir wäre
ein "jovialer Staat" um Längen lieber, als die heutige Praxis eines
"sozialen Staats".

Was die "faschischtische Tendenz" angeht, so will ich Deutschland nicht
einmal eine solche vorwerfen. Das Problem ist erstens, daß Deutschland (bzw.
die Regierung) diese Tendenz nicht erkennt (oder erkennen will) und zweitens
sich niemand (in der Regierung) wirklich Gedanken macht, wie man das anders
(eben "sozial" im Sinne von "jovial") lösen könnte. Jene, die sich darüber
Gedanken machen (in der Regierung - wie z.B. "Die Linke", darunter Katja
Kipping; Teile der Grünen) werden nicht gehört, nicht ernst genommen oder
mit einem "Du hast ja Recht, aber..." abgespeist.

Aus der Wirtschaft ist mir bekannt, wenn ein "Kind mal in den Brunnen
gefallen ist" (wenn einem Firmenname mal ein schlechter Ruf anhaftet - hier
die Bedeutung von "sozial"), benennt man das "Kind" um. Damit ist das "Kind"
zwar nicht gerettet - aber die Chancen stehen bei weitem besser. Das Wort
"jovial" unterstreicht die soziale Absicht. Und ich wette mit Dir um alles
auf der Welt, daß sich etwas ändert, wenn dieses Wort in der Öffentlichkeit
als Synonym für "sozial" gebraucht wird. Wer als erster anfängt, öffentlich
von "Jovialismus" zu sprechen, wird eine Welle auslösen, von der niemand zu
träumen wagt - ich hab's bisher mit all meinen (teils ungewöhnlichen)
Versuchen nicht geschafft, aber versuche es nun das vierzehnte Jahr und
werde nicht aufgeben.

Statt tausend Agrumente zu sammeln und zu beweisen, wie es um die Auffassung
des Begriffs "sozial" in der heutigen Welt (besser Politik) steht, bitte ich
doch darum, den Energieaufwand für die Suche nach Argumenten umzulenken und
Strategien zu entwickeln, wie man die Auffassung des Worts wieder auf den
gewünschten Sinn zurückbringt. In meinem Fall stieß ich Anfang der 90er
Jahre auf das Wort "jovial" (das kommt bei Böll in "Ansichten eines Clowns"
vor).

Zum Thema Verantwortung hatte ich hier schon eine sehr gute Diskussion in
Bezug auf den Existenzialismus. Niemand kann Dir Deine Verantwortung nehmen!
Du bist verantwortlich und kannst nichts, rein gar nichts auf Gesetze oder
andere abwälzen. Wer das tut (z.B. Schreibtischtäter, die sich auf Gesetze
berufen), macht sich vor dem rechtlichen Gesetz vielleicht nicht schuldig
(das eine verankerte Moral-/Ethikvorstellung einer "herrschenden Klasse" ist
und dieser Klasse die Herrschaft gibt) - aber nicht vor seinem eigenen
Gewissen. Und Gewissen hat viel mit der Bewußtheit seiner Handlungen zu tun,
ist aber abhängig von Moral- und Ethikvorstellungen des Einzelnen.

Ich habe einen Stall voll Übersetzungen und komme gerade nicht dazu, die
"Staatstheorie" weiterzuschreiben - aber darin wird diese Auffassung, die
Matthias und ich aus tiefstem Herzen vertreten, (hoffentlich) mehr als klar
und deutlich.

Viele Grüße aus Kiew,

Jörg (Drescher)



----- Original Message ----- 
From: "Manfred Bartl" <sozial at gmail.com>
To: <debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de>; "Joerg Drescher"
<iovialis at gmx.de>
Sent: Friday, August 03, 2007 12:48 PM
Subject: Re: [Debatte-Grundeinkommen] soziales versus joviales Verhalten


Hallo, Jörg!

Hier muss ich Dir auf zwei Ebenen deutlich widersprechen - wenn auch
schweren Herzens.

1. Du hast die Wikipedia falsch verstanden. Wenn dort von der
rechtlichen Bedeutung des Wortes "sozial" als grundgesetzliche
Staatszielbestimmung der Bundesrepublik Deutschland die Rede ist, dann
ist damit nicht das Wort sozial selbst gemeint, sondern der identische
Wortteil im Wort "sozialstaatlich". Auch im rechtlichen Sinne handelt
nicht nur der sozial, der um Hilfe gebeten wird.

2. Diese Darstellung ist chronologisch nicht absolut. Unter dem alten
Bundessozialhilfegesetz BShG durfte und MUSSTE das Sozialamt ggf. auch
von selbst Notlagen ermitteln und Hilfestellungen anbieten. Dass man
seine - spezifische - Bedürftigkeit nachweisen MUSS, hat erst mit der
Agenda 2010 die sozialstaatlichen Bedingungen auf diese perfide Art
verschärft, dass ich von nichts anderem als Faschismus mehr sprechen
werde.

Ohne diese grausame Ausgrenzung wäre der junge Mann in Speyer
wahrscheinlich nicht verhungert. Und ohne das faschistische Regime der
Agenda 2010 wäre sicherlich auch dieses Szenario nicht möglich, in dem
sich alle Beteiligten - auf die typische Art des faschistischen
Mitläufers - ihrer Verantwortung entwinden:

http://www.maerkischeallgemeine.de/cms/beitrag/10989680/62129/

Wohnungssuche wird äußerst schwierig
Drastische Senkung der Mietkosten-Erstattung für Hartz-IV-Empfänger /
Markt hat keine so billigen Unterkünfte
FRANZISKA MOHR

KÖNIGS WUSTERHAUSEN Ab 1. August hat der Landkreis Dahme-Spreewald die
Mieterstattung für Hartz-IV-Empfänger drastisch gekürzt. Im Nordkreis
sind davon vor allem die Orte Königs Wusterhausen, Wildau, Bestensee,
Mittenwalde und Zeuthen betroffen. Hier übernimmt der Kreis zukünftig
für Empfänger des Arbeitslosengeldes II grundsätzlich nur noch eine
Kaltmiete von 4 Euro beziehungsweise 4,50 Euro, statt der bisher in
Königs Wusterhausen gezahlten 6,30 Euro. In diesem Preis sollen auch
die so genannten kalten Betriebskosten wie Müllabfuhr oder
Versicherungen enthalten sein. Diese betragen im Durchschnitt etwas
mehr als ein Euro pro Quadratmeter, sodass eine Netto-Kaltmiete von
nur noch drei Euro beziehungsweise 3,50 Euro verbleiben würden.

"Wo sollen die Hartz-IV-Empfänger denn hin?", fragt Rainer Seick vom
Arbeitslosenzentrum in Bestensee erbost. "Für diese Miete bekommt man
hier keine menschenwürdige Wohnung. Sollen die Leute von ihren 345
Euro nun auch noch einen Teil der Miete bezahlen und das bei
steigenden Lebensmittelpreisen?"

Der Chef der Hartz-IV-Behörde im Landkreis Wolf-Rüdiger Kuhn verweist
auf den Landkreis: "Dafür bin ich nicht zuständig." Die dort
zuständige Sachgebietsleiterin Doreen Bochynek begründet die Kürzungen
mit dem vom Gutachterausschuss für Grundstückswerte ermittelten
Mietniveau. Danach sei es in Königs Wusterhausen durchaus möglich, in
einem Mehrfamilienhaus eine Wohnung für 3,50 Euro bis 3,80 Euro pro
Quadratmeter zu mieten. In Mittenwalde seien sanierte Wohnungen um die
3,40 Euro und in Wildau um vier Euro erhältlich. Der Chef des
Katasteramtes, Jürgen Kuse, der zugleich auch den Gutachterausschuss
leitet, hob gestern die Hände. "Wir haben im Ausschuss die Kaltmieten
ohne Betriebskosten ermittelt, was die Sozialbehörde daraus macht,
weiß ich nicht." Zugleich weist Kuse ausdrücklich darauf hin, dass die
dort ermittelten Mieten keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben
und mit einem Mietspiegel nicht annähernd zu vergleichen sind. "Die
dortigen Zahlen sind willkürlich, weil meist nur die Angaben von
Unternehmen eingehen, die gerade Schrott-Immobilien gekauft haben, um
sie dann aufzumotzen", stellte Wolfgang Schönfelder, Leiter der
Landesgeschäftsstelle Potsdam des Verbandes der
Berlin-Brandenburgischen Wohnungsunternehmen (BBU) fest.

MAZ machte die Probe aufs Exempel. Sie fragte in der
Wohnungsbaugesellschaft Königs Wusterhausen (3700 Wohnungen) sowie in
der Wohnungsgenossenschaft Königs Wusterhausen (1300 Wohnungen) nach,
ob sie Hartz-IV-Empfängern zu den jetzigen Bedingungen des Landkreises
eine Wohnung anbieten könnten. Übereinstimmend meinten Geschäftsführer
Rolf Faust und Vorstandsmitglied Reiner Kohly: "Nein. Für eine
Kaltmiete einschließlich kalte Betriebskosten von 4,50 Euro haben wir
nicht eine einzige Wohnung im Angebot." Und dies, obwohl allein in
Königs Wusterhausen 2328 Familien auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen
sind. Auch die DKB Wohnungsgesellschaft Berlin-Brandenburg, die
Eigentümer von 1100 Wohnungen in Bestensee ist, muss bei diesen
Mietkonditionen passen. Der Geschäftsführer der Wildauer
Wohnungsbaugesellschaft Frank Kerber bezeichnet das Vorhaben des
Landkreises "als abenteuerlich. Mit dieser Miete kann ich keine
Wohnung finanzieren. Ein solches Angebot haben wir nicht." Kerber
zufolge werden Hartz-IV-Empfänger damit nicht in die Gesellschaft
integriert, sondern nur noch weiter ausgegrenzt. "Auf diese Weise
entstehen soziale Ghettos. Das kann doch ernsthaft niemand wollen."
Selbst der Geschäftsführer der Wildauer Wohnungsgenossenschaft
Wilfried Hoppe meint: "Neuanmietungen für diesen Preis kann ich nicht
bieten."

Der BBU, der 49 Prozent des Brandenburger Mietwohnungsbestandes
repräsentiert, charakterisierte das Vorgehen des Landkreises "als
rechtswidrig." Schönfelder: "Es ist unzumutbar, dass die
Hartz-IV-Empfänger durch den Landkreis gejagt werden."

In diesem Zusammenhang verwies Doreen Bochynek darauf, dass für alle
Hartz-IV-Empfänger, die in den letzten beiden Jahren umgezogen sind
und jetzt über angemessenen Wohnraum verfügen, ein Bestandsschutz
gilt. Notwendige Umzüge für alle anderen Betroffenen könne sie aber
nicht ausschließen. In begründeten Ausnahmefällen gebe es aber
Ermessensspielräume.

Der Kreis erstattete im Juli 2,6 Millionen Euro Mietkosten. Landrat
und Sozialdezernent befinden sich im Urlaub.


Mit freundlichen Grüßen
Manfred




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