[Debatte-Grundeinkommen] Berufspolitiker und die repräsentative Demokratie (war: Kipping und das BGE)

Manfred Bartl sozial at gmail.com
Mo Apr 16 00:02:04 CEST 2007


Wie schrecklich dumm unsere Bundestagsabgeordneten tatsächlich sind
und wie leicht man dies nachweisen kann, hat seinerzeit das
ARD-Magazin "panorama" aufgedeckt, als es am Tag der Abstimmung über
den EU-Verfassungsvertrag Abgeordneten IN Berlin IM Reichstag KURZ VOR
DER ABSTIMMUNG ein paar vergleichsweise einfache Fragen zu Themen
stellte, die in diesen Tagen grundsätzlich verstärkt durch die Presse
gegangen waren:

Abstimmung der Ahnungslosen – Die EU-Verfassung im Bundestag
Aus: PANORAMA Nr. 253 v. 12.05.2005 (ARD) - A u s z u g -

Anmoderation Anja Reschke:
Wie gut, dass wir keine Franzosen oder Niederländer sind. Sonst
müssten wir uns jetzt in fünfhundert Seiten, 448 Artikel und 36
Zusatzprotokolle einarbeiten. Aber hier in Deutschland stimmt nicht
das Volk, sondern das Parlament über die neue EU-Verfassung ab.
Praktisch, sparen wir uns auch gleich teure Aufklärungskampagnen.
Unsere Aufgabe als Bürger ist simpel, wir sollen Europa einfach gut
finden und uns sonst möglichst nicht einmischen. Da uns ja der Blick
auf das Große und Ganze fehlt, wie Politiker immer wieder beteuern,
sollen wir uns nur auf unsere gewählten Volksvertreter verlassen. Und
dass die 601 deutschen Abgeordneten heute morgen nach bestem Gewissen
und vor allem aber Wissen abgestimmt haben, versteht sich ja von
selbst – oder? Ein kleiner Test im Bundestag von Tamara Anthony,
Gesine Enwald und Eilika Meinert lässt allerdings Zweifel aufkommen.
Berlin heute morgen. Die wackren Volksvertreter eilen ihrer
ureigensten Aufgabe entgegen. Vom höchsten Rang ist die Mission,
schließlich gilt es die Hand zu heben für die Verfassung der EU. Ein
Vertragswerk, das im Prinzip über dem Grundgesetz steht. Entsprechend
ist der Bundespolitiker im Bilde, hat sich in den letzten Tagen in
Fraktionen und Ausschüssen noch mal auf die Höhe der Information
gepuscht.
Er wird dieses Werk kennen. Zum Beispiel sollte er wissen: Was
schreibt die Verfassung fest in punkto demokratische Rechte des ganz
normalen Menschen.

Erste Frage - ganz leicht. Zunächst FDP-Außenexperte Gerhard.
Frage: „Gibt es auf EU-Ebene die Möglichkeit für ein Bürgerbegehren?"
Richtige Antwort heißt: Ja, mit einer Million Unterschriften.

Antworten:
Wolfgang Gerhardt (FDP-Außenexperte): „Soweit ich weiß, nein."

Friedbert Pflüger (CDU-Außenexperte): „Auf EU-Ebene glaube ich nicht."

Horst Schild (SPD, MdB): „Nein"

Ernst-Reinhard Beck (CDU, MdB): „Nein, das ist nicht der Fall."

Marga Elser (SPD, MdB): „Das ist nicht vorgesehen."
(...)
Noch mal zur Erinnerung: Die richtige Antwort heißt: JA.
Bürgerbegehren sind möglich, verbrieft in der Verfassung und sogar
nachzulesen in kleinen Broschüren fürs Volk.

Die Politiker kurz vor der Abstimmung, nach besten Wissen und Gewissen
greifen sie nach den Stimmkarten. Ihr Gewissen mag rein sein, ihr
Wissen ist nicht unbedingt das beste.
Nächste Frage: „Auf welchen Politikfeldern zum Beispiel hat laut
Verfassung dieser illustre Bundestag nichts mehr zu melden, wo ist
allein die EU zuständig?"

Antworten:
Marga Elser (SPD, MdB): „Ja, das ist die europäische Verteidigungspolitik."

Verteidigungspolitik? Völlig falsch. Richtig ist: Zoll-Union und
Wettbewerb im Binnenmarkt und Eurowährungspolitik.

Hans-Christian Ströbele (Grüne, MdB): „Das kann ich Ihnen auch
auswendig nicht sagen. Das sind sehr viele."

Ortwin Runde (SPD, MdB): „Mir, ehrlich gesagt, keine richtig bekannt
als ausschließliche Kompetenz."

PANORAMA: „Fallen Ihnen da zwei ein?"

Petra Pau (PDS, MdB): „Kann ich Ihnen jetzt so ganz konkret nicht beantworten."

Silke Stokar (Grüne, MdB): „Allein die EU, hm.....Außen....ich passe."
(...)
Spätestens jetzt wissen wir, Abgeordnete brillieren vielleicht im
Sport oder Verkehrsausschuss, aber in Sachen Verfassung folgen sie
weitgehend blind der Fraktionslinie. Und da war doch noch der
Knackpunkt der Verfassung, um den mehr als ein Jahr gestritten wurde.
Es ging um die sogenannte qualifizierte Mehrheit und deren
Stimmgewichtung. Welche Mehrheiten braucht es in der Regel, um im
fernen Brüssel ein Gesetz zu verabschieden?
Es steht heute in den Zeitungen: 55 % der Mitgliedsstaaten mit
mindestens 65 % der EU- Bevölkerung sind nötig, um im Ministerrat ein
Gesetz zu verabschieden.

Marga Elser (SPD, MdB): „Oh (lacht), in Zahlen und Prozenten habe ich
mir das noch gar nicht überlegt."

Silke Stokar (Grüne, MdB): „Kann ich Ihnen nicht sagen."

Cornelia Pieper (FDP, MdB): „Ach, jetzt werden Sie aber sehr
detailliert zum frühen Morgen (lacht)."

Friedbert Pflüger (CDU-Außenexperte): „Das weiß ich nicht, das muss
ich im Einzelnen nachschauen."

Petra Pau: „Oh, da passe ich jetzt."

Endlich ist es so weit. Begierig stürzt sich das Stimmvieh auf die
Urnen. Namentliche Abstimmung, blaue Karte: ein klares Ja für die
Verfassung. Es ist vollbracht, die Arbeit ist getan, bleibt Zeit für
eine Frage, nachzulesen im Artikel 8 der Verfassung: „Wie viel Sterne
sind denn auf der EU-Flagge?"

Wolfgang Thierse (SPD, MdB): „Gott, hab' ich noch nie gezählt, ich
hoffe, es sind dann 25, so viel wie Mitgliedsstaaten."

Wolfgang Gerhardt (FDP-Außenexperte): „Oh, das kann ich Ihnen nicht sagen."

Wolfgang Clement (Wirtschaftsminister): „Da zählen Sie selbst mal nach."
(...)
Renate Künast (Grüne, MdB): „12 oder 15. Auf alle Fälle nicht die
Zahl, die wir jetzt an Mitgliedsstaaten sind und sein werden."

Wenigstens eine, die es fast gewusst hat. Es sind 12, das war schon
immer so und dabei wird es bleiben. Es dauert wahrscheinlich noch ein
bisschen, bis wir alle Europäer sind.

Abmoderation Anja Reschke:
Was sie da heute beschlossen haben, ist also nicht allen Abgeordneten
klar. Um so klarer war allerdings das Ergebnis: 569 stimmten für die
Verfassung, die sie wohl kaum gelesen haben. Das sind satte 95 %. In
Vielfalt geeint? So das Motto der EU. Heute muss es eher heißen: in
Unwissenheit geeint.

http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Europa/verf-ratifiz-komm.html


On 4/13/07, Guido Casper <nurleute at googlemail.com> wrote:
> Hallo Ingo,
>
> On 4/10/07, Ingo Groepler-Roeser <ingo.groepler.roeser at googlemail.com> wrote:
> > Wenn dann noch
> > die Berufspolitiker schwinden, wird es nicht lange dauern, bis die
> > "Hobby"politiker, die "Sprach"wissenschaftler und zuletzt die 'falschen'
> > BGE-Verfechter gehen müßten. Es bliebe ein Idee übrig und der Letzte macht
> > das Licht aus?
>
> Man kann politisch interessierte/aktive Menschen sicher in die
> Kategorien "Berufspolitiker" und "Hobbypolitiker" unterteilen. Was mir
> aber wesentlich wichtiger erscheint, ist die Mentalität der Personen.
> Welche Charaktereigenschaften muss ein Mensch besitzen, um es bis in
> die Spitze der deutschen Politik zu schaffen? Ich kann mir nicht
> helfen, aber es sind Charaktereingenschaften, die ich verabscheue und
> die unsere politische Kultur vergiften.
>
> Entschuldigt, ich möchte mich hier nicht damit begnügen,
> Politikerschelte zu betreiben. Aber wenn man erklären will, wie das
> BGE unsere Demokratei stärkt (m.E. DER zentrale Vorteil eines BGE),
> dann muss man auch erläutern, was mit unserer Demokratie nicht stimmt.
> Das Argument "das war immer so" kann ich nicht gelten lassen. Wir
> haben heute völlig andere Möglichkeiten, als vor 20 Jahren. Wir sind
> an einem Punkt, an dem evolutionäre Ansätze keine bedeutende
> Verbesserung mehr bringen. Diesen Punkt erreicht man früher oder
> später in nahezu jeder Organisation.
>
> > Um es ganz plastisch zu übertreiben: Ich halte Sprecher für
> > Sprecherpositionen ungeeignet, weil sie Sprecher sind?
>
> Und du glaubst tatsächlich, dass alle Bevölkerungsteile im Parlament
> angemessen vertreten werden? Wer soll dann bitte mein Sprecher sein?
> Politik besteht bei uns nicht aus Information (aus diesem vermurksten
> System lassen sich die echten Informationen auch gar nicht mehr
> extrahieren), sondern aus Meinungsmanipulation. Ich gehöre zu denen,
> die mehr direkte Demokratie einfordern (auch wenn ich
> Volksabstimmungen in den meisten Fällen für eher ungeeignet halte).
>
> Man kann sicher auch die repräsentativen Demokratie bevorzugen. Aber
> auch diese Idee wird bei uns mit Füßen getreten [1]. Es hat sich eine
> politische Kultur etabliert, in der geheime "Absprachen" in den
> obersten Gremien von Regierung und Parteien zur Normalität gehören.
> Genauso normal wird dann offen eine "Fraktionsdisziplin" eingefordert.
> Der "normale" Parlamentarier (mein hypothetischer Sprecher) hat nichts
> mehr zu sagen. Er soll nur noch fertige Konzepte mit hunderten von
> Seiten absegnen. Tut er das nicht (weil er vielleicht einer der
> wenigen ist, die diese Gesetzesvorlagen überhaupt noch komplett lesen
> und verstehen wollen), ist er ein Querulant. Gesetze werden nicht im
> Parlament gemacht, sondern in Ausschüssen. Die öffentliche Teilhabe
> geht verloren.
>
> Dieses Verhalten schlägt sogar schon auf das Demokratieverständnis der
> Bevölkerung durch. Kontroverse, offen geführte Diskussionen werden für
> etwas Negatives gehalten (z.T. auch deshalb, weil bei diesen
> Diskussionen allzuoft das Machtgeplänkel im Vordergrund steht). Die
> Massenmedien tun ihren Teil dazu bei. Immer wieder ertönt der Ruf nach
> der einen starken Hand, die auf den Tisch haut, sich durchsetzt und
> für Disziplin und eine klare Linie sorgt. Dabei ist genau das der Weg
> zum Ausschluss neuer Perspektiven und zur Verdummung.
>
> 1991 erschien ein Buch von Hildegard Hamm-Brücher: "Der freie
> Volksvertreter - eine Legende?". Manch einer wird sich vielleicht noch
> erinnern: Hildegard Hamm-Brücher war 1994 Kandidatin für das Amt des
> Bundespräsidenten.
>
> Eine wirklich offen geführte Diskussion müsste zwangsläufig aufdecken,
> wie kompliziert, ineffizient und unbeherrschbar unsere Steuer-,
> Rechts- und Sozialsysteme geworden sind. Der normale Bürger kann sie
> nicht mehr verstehen. Niemand versteht sie. Schlimmer noch, der Bürger
> muss sich mit Politikern rumschlagen, die behaupten, sie würden sie
> verstehen. Bei Bedarf stellen sie sich dann aber auch gerne als kleine
> Rädchen im großen Räderwerk der äußeren Zwänge (Verfassung, EU, etc.)
> dar. Was wir brauchen, sind weniger Regeln, einfache Regeln. Das
> Grundeinkommen beweist, dass es geht. Das unseelige Machtgezerre wird
> uns aber weiterhin das Gegenteil bescheren.
>
> Ich schließe niemanden von der Diskussion aus. Aber ich kann und werde
> mich nicht mit den Berufspolitikern zu deren Bedingungen
> auseinandersetzen. Sie werden das Grundeinkommen mit ihren perversen
> Systemen verflechten und diskreditieren. Man muss kein Prophet sein,
> um das vorauszusehen.
>
> Entweder, ich mache Politik oder ich möchte informieren. Vielleicht
> geht auch beides gemeinsam, aber das politische Tagesgeschäft verdirbt
> die Moral. Zwischen Politik und Information klafft heute eine
> gewaltige Lücke. Der Weg zur Demokratie ist Information.
>
> Der nächste Schritt der demokratischen Entwicklung besteht für mich
> darin, dass sich jeder informieren kann, wie er es verdient und dass
> jeder soviel beitragen kann, wie er es wünscht. Diese harmlos wirkende
> Vision ist vom Standpunkt unseres jetzigen Systems ein Quantensprung.
> In hundert Jahren wird der jetzige Politikstil so antiquiert wirken,
> wie die Monarchie.
>
> Guido
>
>
> [1] Eine wohltuende Ausnahme und Licht im Dunkel scheinen in diesem
> Zusammenhang manchmal die Grünen zu sein, insbesondere die Basis der
> Partei. Einige Mitglieder der Parteispitze sind aber ähnlich
> gefährdet, wie andere. Es ist äußerst kompliziert, hier Ursache und
> Wirkung auseinanderzuhalten.



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