[Debatte-Grundeinkommen] Debatte-grundeinkommen Nachrichtensammlung, Band 25, Eintrag 6

Florian Hoffmann florian at hoffmannlaw.de
So Apr 8 17:54:33 CEST 2007


Lieber Jörg Drescher,

vielen Dank für die Situationsbeschreibung.

Auch ich glaube, das sich das BGE in der heute vertretenen Form in
Deutschland nicht durchsetzt - aber auch nicht in der Ukraine. Denn die
Sache hat in der heutigen Form einen Geburtsfehler: Immer wird das BGE von
der sozialen Seite her als Mindesteinkommen, als Existenzminimum gesehen, d.
h. es wird in seiner Höhe immer an den privaten Ausgaben gemessen. Und dann
wird über die richtige Höhe gestritten, über die man sich aber nie einigen
kann. Und dann wird von der konservativen Seite her argumentiert, dass das
Ganze so unbezahlbar ist und schon ist die Einigung nicht einmal mehr in
Form eines Kompromisses möglich.

Um dem Dilemma zu entkommen, ein Beispiel: Einer kleine Solidargemeinschaft,
ein Dorf. Das Dorf hat zwanzig Familien in zwanzig Häusern. Die Männer
treffen sich in der Kneipe und beklagen am Biertisch die Mißstände. Man
stellt fest, man möchte regiert werden, um Gemeinschaftsaufgaben lösen zu
können. Solche sind: Straßenbau, Abfallbeseitigung, Glaube (Kirche),
Sicherheit ,Soziales (Waisenhaus) , etc.. (Mit zunehmender
Industrialisierung kommt das Thema Gerechtigkeit/Solidarität dazu.)

Man einigt sich darauf, dass fünfzig Prozent aller Einnahmen an den Kämmerer
bezahlt werden sollen. Man bestellt einen Bürgermeister, einen Kämmerer,
einen Pfarrer und einen Sheriff. Sie alle bekommen insgesamt einen Etat, der
sich letztlich an den Einnahmen der Familien bemißt. Die Einzeletats sind
alljährlich in festen Beträgen definiert, letztlich aber in Anteilen. Der
Pfarrer ist für Glaube, Soziales zuständig. Er bekommt am meisten, namlich
die Hälfte, die anderen Teilen sich den Rest.

Die Industrialisierung (der Kapitalismus) schafft
Einkommensungleichgewichte, weshalb das Thema Gerechtigkeit zunehmend an
Bedeutung gewinnt. Die Männer am Biertisch denken sich ein schönes Modell
aus: Der Kämmerer soll an jeden zumindest ein Existenzminimum ausbezahlen.
Der Kämmerer rechnet nach und stellt fest, dass sich der Sozialetat
verdoppeln würde, auch wenn man die Ersparnis durch Wegfall einzelner
Sozialetats berücksichtigt. Das Modell würde also bewirken, dass sich die
Abgabenlast auf 75 Prozent erhöhen müßte.

Diejenigen, die durch ein solches Auszahlungsmodell netto mehr bekommen als
sie ausgeben, wären damit wahrscheinlich einverstanden, d. h. man könnte
daran denken, dass sich tatsächlich eine demokratische Mehrheit fände. Das
ist aber nicht der Fall, weil sich niemand findet, der eine Steuerlast von
75 Prozent tragen möchte. Alle würden sagen, hier wollen die anderen nur auf
meine Kosten faulenzen.

Deshalb gibt es für uns in Deutschland nur eine erste Lösung als Einstieg:
Das vorhandene (riesige) Sozialbudget muß anders aufgeteilt werden. (In der
Ukraine mag sich das anders darstellen. Ich kenne deren Struktur der
öffentlichen Einnahmen und Ausgaben nicht.) Man muß also das verhandene
Budget nehmen und darin Positionen finden, die im Falle der Einführung eines
BGE gestrichen werden können (Teile der Rente, Wohngeld, Bafög,
Kindergeld(?), etc.) und dieses Geld an alle, in gleicher Höhe, ohne Prüfung
von Irgendetwas, ausbezahlen. Dann gewinnt man Erfahrungen und kann dieses
solidarische Grundeinkommen langsam höher schrauben.

Eine Orientierung an der Bedürftigkeit (Existenzminimum, o. ä.) von Anfang
an ist sinnlos. Sie kann irgend wann ein Thema werden, wenn ein
solidarisches Grundeinkommen fester Bestandteil des Staatsetats ist. Viel
wichtiger ist, welche Wirkungen regelmäßige Zahlungen auch in geringerer
Höhe sehr schnell haben können, welche Freiheiten sie ermöglichen, welche
Verhaltensänderungen sie bewirken (keine Schwerzarbeit mehr!), welche
Gemeinschaftsgefühle sie erzeugen. Von Anfang an! Und es wird sich eine
Kiste voll Argumenten ergeben, weshalb die Leute nicht faul werden und ihre
Motivation verlieren. Im Gegenteil!

Frohe Ostern!

Florian Hoffmann


> -----Ursprüngliche Nachricht-----
> Von: debatte-grundeinkommen-bounces at listen.grundeinkommen.de
> [mailto:debatte-grundeinkommen-bounces at listen.grundeinkommen.de]Im
> Auftrag von debatte-grundeinkommen-request at listen.grundeinkommen.de
> Gesendet: Sonntag, 8. April 2007 15:01
> An: debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de
> Betreff: Debatte-grundeinkommen Nachrichtensammlung, Band 25, Eintrag 6
>
>
> Um e-Mails an die Liste Debatte-grundeinkommen zu schicken, nutzen Sie
> bitte die Adresse
>
> 	debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de
>
> Um sich via Web von der Liste zu entfernen oder draufzusetzen:
>
> 	http://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/debatte-grundeinkommen
>
> oder, via Email, schicken Sie eine Email mit dem Wort 'help' in
> Subject/Betreff oder im Text an
>
> 	debatte-grundeinkommen-request at listen.grundeinkommen.de
>
> Sie koennen den Listenverwalter dieser Liste unter der Adresse
>
> 	debatte-grundeinkommen-owner at listen.grundeinkommen.de
>
> erreichen
>
> Wenn Sie antworten, bitte editieren Sie die Subject/Betreff auf einen
> sinnvollen Inhalt der spezifischer ist als "Re: Contents of
> Debatte-grundeinkommen digest..."
>
>
> Meldungen des Tages:
>
>    1. Re: Sprache und Grundeinkommen (Joerg Drescher)
>
>
> ----------------------------------------------------------------------
>
> Message: 1
> Date: Fri, 6 Apr 2007 23:43:32 +0300
> From: "Joerg Drescher" <iovialis at gmx.de>
> Subject: Re: [Debatte-Grundeinkommen] Sprache und Grundeinkommen
> To: "Guido Casper" <nurleute at googlemail.com>,
> 	<debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de>
> Message-ID: <005001c7788c$3ddb1130$0201a8c0 at iovialis>
> Content-Type: text/plain;	charset="iso-8859-1"
>
> Hallo Guido (und der Rest der Liste),
>
> derzeit habe ich sehr viel Arbeit und in der Ukraine geht's (mal wieder)
> drunter und drüber. Was die Medien in Deutschland darüber berichten,
> erschreckt mich, weil es eine Verdrehung der Tatsachen ist. Man sieht die
> Situation hier aus den Augen der Politik, ohne dabei auf Land und Leute zu
> achten. Noch schlimmer: der Blick ist durch die Brille Russlands
> verfälscht.
>
> Bei allem, was Du aufgeführt hast, kann ich Dir zustimmen. Leider sehe ich
> in Deutschland wenig Chancen für das Grundeinkommen, weil dort der
> "Individualismus" so groß geschrieben wird. Ich mache dafür die
> Existenzial-Philosophie aus den 60ern (von Satre und Camus)
> verantwortlich,
> obwohl diese Philosophen diese Entwicklung vielleicht gar nicht so gewollt
> hatten. Die Abwesenheit eines "allgemeinen Sinns" führte zu der
> "individuellen Sinnsuche". Der Markt für Weltanschauungen ist in den
> westlichen Industrieländern riesig und man will sich nicht festlegen,
> sondern pickt sich das (vermeintlich) Beste (individuell) heraus und baut
> sich seine eigene Anschauung zusammen. Daran wäre nichts zu
> bemängeln, wenn
> damit nicht die Gemeinschaft (der Fortbestand der Menschheit als Ganzes)
> gefährdet wäre.
>
> Die Ukraine ist in der Hinsicht anders. Das reicht weit in die Geschichte
> zurück (z.B. war die Ukraine einmal eine Anarchie). Die Bevölkerung wurde
> durch verschiedene Systeme unterdrückt (z.B. Sowjetunion), wobei sich die
> Leute hier stark für die Politik interessiert (stärker als in
> Deutschland),
> aber eigentlich ihre Ruhe haben wollen, um das zu machen, für das sie sich
> berufen fühlen: zu leben (und zu arbeiten). Hier ist dieser
> Individualismus
> nicht so weit verbreitet, weil die Leute aufeinander angewiesen sind. Es
> gibt einen kausalen Zusammenhang zwischen "Reichtum" und "Solidarität": je
> mehr Geld einer Person oder Personengruppe zur Verfügung steht, desto
> weniger interessiert sie sich für das Leid anderer - das Gewissen wird
> maximal anonym über Spenden beruhigt, nicht aber durch direkte Hilfe (bei
> der man sich die Hände schmutzig machen könnte).
>
> An der Entwicklung der "deutschen Musik" läßt sich auch sehen,
> wie es um das
> Land bestellt ist: gab es in den 70ern noch Musikgruppen, wie
> "Ton, Steine,
> Scherben", in den 80ern dann Punkbands (z.B. Slime, Toxoplasma,
> Daily Terror
> etc.), in den 90ern dann die "Neue Deutsche Welle" (Nena ua.) und heute
> "Tokio Hotel". Ein wahres Drama!
>
> Ich wollte, es wäre einfacher, aber dann frage ich mich oft, was denn
> eigentlich passieren muß, damit sich etwas ändert. Die alte
> "Feindbild-Geschichte" schweißt zwar Menschen zusammen, aber die Krise, in
> der der Westen steckt, ist die Abwesenheit eines solchen
> Feindbilds, nachdem
> die UdSSR zusammengebrochen ist. Die USA versuchten es mit dem
> "internationalen Terrorismus" (ein Phantom) und machten die arabischen
> Länder verantwortlich (Personifizierung des Phantoms). Allerdings
> klappt das
> auch nicht mehr so richtig, weil die "sinnsuchende Bevölkerung" nicht mehr
> so einfach auf die "Feinbild-Geschichte" hereinfällt. Deshalb wünsche ich
> mir manchmal eine "Ufo-Invasion" ;-)
>
> Das biblische Babylon haben wir heute wieder mehr, als je zuvor,
> denn selbst
> die Leute, die eine gemeinsame Sprache sprechen, verstehen einander nicht
> mehr. Man war zu ehrgeizig damit beschäftigt, den Turm der Erkenntnis zu
> bauen, um Gott näher zu sein - und nun können wir in dem Turm
> herumklettern
> und aus den vielen Fenstern sehen, um die Welt zu betrachten. Aber wir
> können uns nicht mehr darüber verständigen, was wir denn sehen. Geschichte
> wiederholt sich permanent...
>
> Vielleicht ist die Ukraine aufgeschlossener für die Ideen eines
> Grundeinkommens? Wenn ich mehr Luft habe, werde ich den Versuch starten,
> hier die Idee unters Volk zu bringen - frei nach dem Motto: "Wird der
> Prophet nicht im eigenen Land gehört, sucht er sich ein anderes." - Dabei
> bin ich kein Guru oder Prophet (vgl. "Das Leben des Brian") ;-)
>
> Viele Grüße soweit aus Kiew,
>
> Jörg (Drescher)
> ---------------------------------------





Mehr Informationen über die Mailingliste Debatte-Grundeinkommen