[Debatte-Grundeinkommen] Ulrich Beck in der NZZ - MKVeits mit herzlichen Grüßen

Manfred K. Veits mkveits at t-online.de
Sa Nov 4 19:21:13 CET 2006


BITTE WEITER

ZERO EMiSSION - Kohlendioxidfreie Städte, Regionen, Produktionen, Märkte
= Kathedralen des 21. Jahrhunderts !!!!!!!!!
Zum Nutzen aller lernen, transnational zu kooperieren = Win/WIN
Bedingungsloses Bürgereinkommen (BGE) = Freiheit statt Vollbeschäftigung
     
        
      4. November 2006, Neue Zürcher Zeitung

      Abschied von der Utopie der Vollbeschäftigung
      Nationalstaatliche Nabelschau und alte Denkmuster blockieren Lösungsansätze in der Armutsdebatte
      Die Debatte über Armut und Arbeitslosigkeit in Westeuropa steckt in der nationalstaatlichen Falle - so die These des folgenden Diskussionsbeitrags, der einen unkonventionellen Vorschlag skizziert. 

      Von Ulrich Beck

      Endlich bricht die Debatte über ausweglose Armut am Beginn des 21. Jahrhunderts in Europa aus. Sie wird mit grosser Leidenschaft geführt, aber überraschenderweise tragen die Kontrahenten auf allen Seiten Scheuklappen, und zwar dieselben. So wird mit selbstverschuldeter Gewissheit allseits davon ausgegangen, dass die sich ausweitende und verhärtende Armut jeweils ein nationales Problem sei, das national diskutiert, verantwortet und überwunden werden müsse. Die Italiener diskutieren eine italienische Armut, die Deutschen eine deutsche Armut, die Spanier eine spanische Armut usw.

      Verlorene Utopie
      Aber diese Nabelschau und Nabelschaupolitik wird nicht dadurch besser oder richtiger, dass sie die unbegriffene Restgemeinsamkeit aller bildet. Wir brauchen vielmehr, um das Problem der Armut im 21. Jahrhundert zu verstehen und nach politischen Antworten zu suchen, einen kosmopolitischen Blick, der diese Bornierungen des «methodologischen Nationalismus» von Gesellschaft, Politik und Wissenschaft überwindet. Die Ökonomie der Unsicherheit revolutioniert die Arbeits- und Lebensbedingungen in allen hochentwickelten westlichen Gesellschaften. Bösartig gesagt, erleben wir eine Brasilianisierung der Wohlfahrtsgesellschaften: Die bunten, fragilen Beschäftigungsformen, die in der sogenannten Dritten Welt Normalität sind, ersetzen zunehmend auch in den Ländern des Zentrums die sichere Berufsarbeit. Das kann man als «Flexibilität» heiligen, heisst jedoch: Mache dich selbst leichter kündbar und sei damit zufrieden, dass dir niemand sagen kann, ob deine Qualifikation in Zukunft noch gebraucht wird.

      Die zähe Verbindung von Armut und Ausweglosigkeit, die wir nun auch in Europa mit guten Gründen beklagen und bekämpfen wollen, ist «neu», weil angesichts der gewaltigen Produktivitätsfortschritte diese Ausgesonderten - so bitter das klingt - in der kapitalistischen, auf Arbeit fixierten Kultur nicht mehr «gebraucht» werden. Man kann auch ohne sie die Gewinne maximieren, ohne sie Wahlen gewinnen. Und ihre Stellung in der Gesellschaft entspricht nicht mehr der einer «Schicht» oder einer «Klasse», weil sie keine Stellung im Produktionsprozess mehr einnehmen. Aber das heisst nicht, dass sie besser-, sondern, dass sie schlechtergestellt sind. Und die Erschütterung, die viele Menschen erfasst, hat auch mit der nun wirklich bitteren Einsicht zu tun: Diese Armut ist die Konsequenz aller Versuche, sie zu überwinden. Die Hoffnungslosigkeit ist die andere Seite der verlorenen Utopie.

      Nationalstaatliche Sackgasse
      Es ist völlig falsch, nach wie vor davon auszugehen (was alle tun), die Konstellation, nach der nationale Gewerkschaften, das nationale Kapital und der nationale Wohlfahrtsstaat um die Ankurbelung der nationalen Wirtschaft und die Verteilung des nationalen Bruttosozialprodukts ringen, existiere noch. So wird das neue Machtspiel und Machtgefälle zwischen territorial fixierten politischen Akteuren (Regierungen, Parlamente, Gewerkschaften, Arbeitnehmer) und nicht territorial gebundenen weltwirtschaftlichen Akteuren (mobiles Kapital, Finanzströme) verkannt. Nicht Appelle an die Moral und den Patriotismus der Manager sind nötig. Gefragt sind Ideen, wie staatliche Politik in Zeiten der Globalisierung aus der Defensive herausgeholt und im Aufgreifen der Gerechtigkeitsfrage, die zum Kern der Machtfrage geworden ist, neu belebt werden kann.

      Um aus der nationalstaatlichen Sackgasse herauszufinden, ist diese Einsicht wichtig: Man kann zwar die verbliebenen Spielräume nutzen. Aber es gibt letztlich keine nationale Lösung für nationale Probleme mehr. Deswegen sind Regierungen nur so lange attraktiv, wie sie noch nicht gewählt sind. Auch wer Armut effektiv bekämpfen will, muss zwischen Autonomie und Souveränität unterscheiden. In der Preisgabe von Autonomie, das heisst: in der Kooperation mit anderen Staaten, liegt der Schlüssel für die Stärkung der nationalstaatlichen Souveränität gegenüber dem mobilen Kapital. Hier liegt die Kernaufgabe einer erneuerten Europäischen Union, denn das kann kein Nationalstaat alleine schaffen: Die Antwort auf Globalisierung besteht in einer besseren internationalen Koordinierung der Politik, stärkeren übernationalen Kontrollen von Banken und Finanzinstitutionen, dem Abbau des zwischenstaatlichen Steuerdumpings, der Vereinbarung von Mindestlöhnen und damit letztlich auch der Wiedergewinnung sozialer Sicherheit als Basis lebendiger Demokratie.

      Da drängt sich der Einwand auf: Müssten nicht Eingriffe der übergeordneten - bürokratisch arroganten - Politik in den Wirtschaftsprozess gegenüber Grosskonkurrenten wie China und Indien die Erfolgschancen lähmen und in der Bevölkerung insgesamt eine Mentalität von Sekundärsozialismus aufkommen lassen? Nein. Was wir brauchen, sind praktische Ideen für eine Humanisierung des Globalisierungsprozesses, Konzepte für eine internationale, sozial-ökologische Marktwirtschaft. Das heisst vieles, aber auch beispielsweise dieses: Die Europäische Union (denn einzelne Staaten sind dazu nicht in der Lage) handelt Kooperationsverträge mit China aus, von denen beide Seiten profitieren, etwa über kohlendioxidfreie Technologien, Regionen und entsprechende Märkte. Die Europäer könnten, sagen wir, ihre professionelle Phantasie von der Leine lassen und vieles entwerfen, unter anderem ultraeffektive, umweltschonende Wundereisschränke, energiesparende Produktionsautomaten usw. Das schafft lukrative Arbeitsplätze in Europa. Die Chinesen könnten diese billig bauen und im Traummarkt China sowie vermittelt über ihre globalen Marktnetze weltweit preiswert verkaufen - zum Nutzen aller. Nur der Klimawandel wäre der Verlierer - endlich.

      Ein weiteres, von allen Parteien geteiltes «Schweigegelübde» (Peter Glotz) der Armutsdebatte lautet: Vollbeschäftigung ist möglich. Hinzu kommt der nicht weniger verschwiegene Allparteienkonsens: Es handelt sich bei der Arbeitslosigkeit um ein Versagen - der Politik, der Wirtschaft, der Gesellschaft. Auch das ist falsch. Massenarbeitslosigkeit und Armut sind nicht Ausdruck von Niederlagen, sondern der Siege moderner Arbeitsgesellschaften. Weil die Arbeit immer produktiver wird, braucht man immer weniger menschliche Arbeit, um ein Vielfaches an Ergebnissen zu erzielen. Die Aussichtslosigkeit der Armut ist die Kehrseite der Vollbeschäftigungsphilosophie, die ihre Glaubwürdigkeit historisch längst verloren hat.

      Angenommen, den europäischen Regierungen gelänge alles, was sie sich vorgenommen haben, und sie würden auch noch das zustande bringen, was die neoliberalen Einflüsterer fordern. Was wäre, wenn die Ex-Wohlfahrtsstaaten Europas dann immer noch nicht von der Massenarbeitslosigkeit und Armut wegkämen? Die Utopie der Arbeitsgesellschaft war es einmal, vom Joch der Arbeit zu befreien. Jetzt ist es so weit. Wir müssen in Europa endlich die Fragen auf die Tagesordnung setzen: Wie kann man ein sinnvolles Leben führen, auch wenn man keinen Arbeitsplatz findet? Wie werden Demokratie und Freiheit jenseits der Vollbeschäftigung möglich? Wie wird der Mensch selbstbewusster Bürger - ohne Lohnarbeit?

      Freiheit statt Vollbeschäftigung
      Nicht nur als Gedankenexperiment, auch als realistische politische Forderung: Wir brauchen ein bedingungsloses Bürgereinkommen, etwa in Höhe von 700 Euro. Interessanterweise ist diese Idee schon länger im Umlauf und wird auf dem Hintergrund gegensätzlichster Positionen vertreten. Der amerikanische Wirtschaftswissenschafter und Nobelpreisträger Milton Friedman schlug schon 1962 vor: Wer unterhalb einer bestimmten Einkommensschwelle bleibt, erhält vom Staat einen festen Betrag. Finanziert wird diese negative Einkommenssteuer durch Steueraufkommen. Und Friedman wird als Vater des Neoliberalismus angesehen.

      Der französische Sozialist und Philosoph André Gorz hat diese Idee als Antwort auf den digitalen Kapitalismus ebenso aufgegriffen und ausgebaut wie der Leiter des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts, Thomas Straubhaar, und der Soziologe Ralf Dahrendorf: «Eine Grundausstattung für alle muss garantiert sein. Eine Gesellschaft braucht einen Fussboden, unter den niemand geraten darf.» Auf eine Formel gebracht: Freiheit statt Vollbeschäftigung. Nur so lässt sich verhindern, dass es demnächst so richtig knallt.

      Natürlich meldet sich die Gegenfrage zu Wort: Wer soll das bezahlen? Einige Ökonomen haben berechnet: Das kann am Ende sogar billiger kommen. Denn wo ein Grundeinkommen den Lebensstandard sichert, braucht man weder Sozialhilfe noch Arbeitslosengeld, kein Rentensystem oder Kindergeld - und auch nicht die unzähligen weiteren Hilfen und Subventionen, die heute nach dem Giesskannenprinzip verteilt werden. Sogar Eltern könnten sich ihren Kinderwunsch leichter erfüllen und so weiter und so fort. Also: Nie wieder Vollbeschäftigung - wir haben Besseres zu tun!

      Ulrich Beck ist Professor am Institut für Soziologie der Ludwig- Maximilians-Universität in München. Zuletzt erschien bei Suhrkamp der Band «Das ganz normale Chaos der Liebe».
     
        
     
        
     
        
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