[Debatte-Grundeinkommen] Debatte-grundeinkommen Nachrichtensammlung, Band 20, Eintrag 2

Rüdiger Heescher ruediger.heescher at attac.de
Sa Nov 4 11:35:34 CET 2006


Lieber Florian

es geht mir um Argumentationshilfen in unseren eigenen Reihen. Wenn 
jemand aus der Ecke Sozialismus kommt und Marx verinnerlicht hat, dann 
hilft es auch sich auf Marx berufen zu können, genauso wie die 
Neoliberalen meinetwegen sich auf Milton Friedman oder aus liberaler 
Ecke auf Ralf Dahrendorf oder aus Grüner Ecke auf Beck berufen.

Die Antros berufen sich auf Götz Werner.

Insofern spielt es für mich keine Rolle. Es zählt erstmal nur die Idee 
des Existenzgeldes/Bürgergeldes/bedingungsloses Grundeinkommen zu 
verbreitern auch in die eigenen Reihen. Gerade auf Gewerkschaftsseite 
z.B. ist das im Linken Spektrum sehr schwierig.

Daher ist es auch angebracht mit denen in einer sprache zu sprechen, die 
sie verstehen und das ist im Ursprung der Arbeiterbewegung nun mal Marx!

Ich sehe nämlich die grössten Schwierigkeiten der Vermittlung für ein 
bGE nur bei den Sozis und Gewerkschaftern.

In allen Parteien bis auf SPD wird das Thema Grundeinkommen besprochen 
und ernsthaft diskutiert. Ist das nicht erstaunlich?

Die Zeit ist reif dafür und wird auch so in anderen Ländern 
wahrgenommen, dass wir in Deutschland sozusagen die Lanze für das bGE in 
Europa brechen. Die Schweizer z.B. warten darauf, dass unsere 
öffentliche Diskussion über das bGE auch bei ihnen rüberschwappt. Dafür 
wäre es aber gut, wenn bei den Sozen auch das bGE diskutiert würde.

gruss

Rüdiger

Florian Hoffmann wrote:
> Lieber Rüdiger,
> 
> Deine eigenen Worte sind viel besser als die von Marx. Du beschreibst die
> Realität so, wie ich sie gar nicht in Abrede stellen möchte, außer dass sie
> nicht überall so ist. Auch dafür gäbe es Beispiele. Ich habe doch nur
> gesagt, dass die alten Marx'schen Interpretationen nicht mehr taugen für die
> Welt, mit der wir es zu tun haben.
> 
> Marx hat sich nicht mit dem selbständigen Metzgermeister auseinandergesetzt,
> und nicht mit dem Häuslebauer und nicht mit dem öffentlichen Schwimmbad. Du
> sprichst gravierende Probleme von heute an, die gelöst werden sollen und für
> deren Lösung ein solidarischer Beitrag für alle Bürger eines Landes, ein
> Solidarisches Bürgergeld (Althaus' Begriff für BGE), wahrscheinlich einen
> sehr wertvollen Beitrag leisten könnte. Deshalb bin ich für ein
> Solidarisches Bürgergeld!
> 
> Und was die 80-er Jahre angeht, so heißt meine Antwort darauf: WTO (früher:
> GATT), Globalisierung und Liberalisierungswahn haben uns diese Suppe
> eingebrockt, dass jeder mit jedem in Wettbewerb tritt und weltweit nur der
> überlebt, der alles zu billigsten Preisen ausbeutet oder anbietet (Die
> Ökonomen argumentieren: "Die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung").
> Den Höhepunkt des Billigwahns haben wir doch erlebt (Geiz ist geil?). Der
> Wahn scheint vorbei zu sein, aber die Tendenz ist ungebrochen. Unsere
> Niedriglöhne werden auf das Niveau des kasachischen Landarbeiters
> heruntergeprügelt - und die übrigen Einkommen folgen tendenziell. Deshalb
> können die Leute ihr Häuschen nicht mehr halten, deshalb braucht euer
> Metzger einen zweiten Job, deshalb werden die Bäder geschlossen!
> 
> Das haben wir den ökonomischen Schlaumeiern von heute zu verdanken. Aber bei
> Marx steht davon nichts!
> 
> Schönes Wochenende!
> 
> Florian
> 
> 
> 
> 
> 
> 
>>-----Ursprüngliche Nachricht-----
>>Von: Rüdiger Heescher [mailto:ruediger.heescher at attac.de]
>>Gesendet: Freitag, 3. November 2006 12:24
>>An: Florian Hoffmann
>>Cc: debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de
>>Betreff: Re: [Debatte-Grundeinkommen] Debatte-grundeinkommen
>>Nachrichtensammlung, Band 20, Eintrag 2
>>
>>
>>Lieber Florian
>>
>>dann bitte ich Dich einfach mal vom Fernseher wegzugehen und sich nicht
>>die Hochglanzbilder anzuschauen. Bewege Dich mal vom Fernseher, Computer
>>und Deiner Wohnung weg in die wirkliche Welt. Gehe mal nach Ewing
>>(Norden) in Dortmund oder in den Osten von Hamburg usw. und schaue Dir
>>dort mal an, wie die Menschen dort leben, von was sie leben, welche
>>Zukunftsperspektiven sie haben und wo der sogenannte Mittelstand heute
>>steht. Wenn jemand abrutscht in Hartz 4, weil er arbeitslos geworden ist
>>und mit 50 sowieso keine Arbeit mehr bekommen kann, weil ihn keiner mehr
>>haben will. Dann ist der Besitz (das Häuschen), den er sich mit
>>Bankenhilfe aufgebaut hat auch bald futsch. Der sogenannte Mittelstand
>>muss auch das halten, was er sich aufgebaut hat und das kostet jeden
>>Monat gutes Geld. Ein Haus zu besitzen kostet mehr als eine Mietwohnung,
>>gerade nach 20-30 Jahren, wenn erst recht Reparaturen anfallen!
>>Vielleicht gibt es hier ja Hausbesitzer, die das noch treffender
>>formulieren können.
>>
>>Wir haben mittlerweile wieder ungefähr 50 % Schulkinder, die nicht
>>schwimmen können, weil sie kein Schulschwimmen mehr haben (fehlende
>>Hallenbäder für Schulschwimmen, weil Kommunen dicht gemacht haben oder
>>umgewandelt in Wellness-Spassbäder aber ungeeignet für Schulschwimmen)
>>was zeigt, dass es sowas wie ein Analphabetentum in diesem Bereich gibt
>>(Ich rede hier nur von Deutschland, dem reichsten Land an Wissen und
>>sogenannten Dienstleistungen). Es fängt jetzt mit Schwimmen an und endet
>>mit wirklichem Analphabetentum in der soganannten "Unterschicht"
>>(Unterschichtendebatte will ich hier aber nicht wirklich führen)
>>
>>Die neue Existenzangst macht die Leute kaputt und werden in ein paar
>>Jahren nicht mehr so lange von ihrem Ruhestand zehren können.
>>
>>Was Du beschreibst ist noch die Wohlstandsgesellschaft der 80er Jahre,
>>wo noch der Mittelstand gefördert wurde. Aber selbst das ist jetzt
>>vorbei, wenn ein Schlachtermeister mit eigenem Metzgerverkaufsladen
>>zusätzlich noch in einen Schlachthof gehen muss zum arbeiten um seinen
>>kleinen Metzgerladen am laufen zu halten. Dieses Beispiel kann ich hier
>>aus Uetersen anführen! Besitz heutzutage zu halten ist schon schwieriger
>>geworden. Es reicht nicht sein Häuschen zu besitzen. Man kann es auch
>>ganz schnell wieder verlieren.
>>
>>gruss
>>
>>Rüdiger
>>
>>
>>
>>
>>
>>Florian Hoffmann wrote:
>>
>>>Liebe Listis,
>>>lieber Rüdiger,
>>>
>>>uns' Charly war ein ehrenwerter Mann und sicherlich ein ernstzunehmender
>>>Wissenschaftler, aber das, was Du uns da vorsetzt, hat nun
>>
>>wirklich nichts
>>
>>>mehr mit unserer Arbeitswelt hier zu tun, ist doch wahrlich keine
>>>Beschreibung der Realität von heute in Europa mehr, es sei
>>
>>denn, man meint
>>
>>>die Fabrikarbeit in China, Bolivien oder Bangladesh und die
>>
>>Kinderarbeit in
>>
>>>Indien, Slums im Kongo oder die Verhältnis auf Zuckerplantagen
>>
>>in Brasilien
>>
>>>(völlig unvollständige Aufzählung).
>>>
>>>Ich habe als Begründung ein paar Anmerkungen zwischen die Zitate gefügt:
>>>
>>>
>>>
>>>>"Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das
>>>>durch Not und äussere Zweckmässigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt
>>>>also in der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen
>>>>materiellen Produktion."
>>>>
>>>>Aus : Das Kapital Bd. III
>>>
>>>
>>>
>>>FH: Die Zeiten haben sich gewandelt: Der Natur der Sache nach existiert
>>>heute die Freiheit millionenfach in der Sphäre der eigentlichen
>>
>>Produktion,
>>
>>>wenn ich nur an (was nicht immer der Fall ist:) glückliche Lehrer,
>>>glückliche Ärzte, glückliche Vertriebsleute, glückliche
>>
>>Kellner, glückliche
>>
>>>Beamte, glückliche Zeitungsmacher, Redakteure und auch Leute in der
>>>Produktion von Lebensmitteln (auch: Bauern) denke, die ich
>>
>>selbst kenne oder
>>
>>>erlebt habe. Das Reich der Freiheit steckt auch in der Arbeit.
>>
>>Arbeit ist
>>
>>>auch Selbstverwirklichung. Das BGE soll von Frohnarbeit
>>
>>befreien, und/oder
>>
>>>dafür sorgen, dass diese Arbeiten angemessen entlohnt werden.
>>>
>>>
>>>
>>>
>>>>"Man hat eingewendet, mit der Aufhebung des Privateigentums werde alle
>>>>Tätigkeit aufhören und eine allgemeine Faulheit einreissen. Hiernach
>>>>müsste die bürgerliche Gesellschaft längst an der Trägheit zugrunde
>>>>gegangen sein; denn die in ihr arbeiten, erwerben nicht, und die in ihr
>>>>erwerben, arbeiten nicht."
>>>>
>>>>Aus: Marx/Engels: Mainifest der kommunistischen Partei
>>>
>>>
>>>
>>>FH: Letzteres ist heute bei uns so nicht mehr der Fall, sonst
>>
>>hätten sich
>>
>>>nicht Millionen abhängig Beschäftigter ihren - wenn auch manchmal nur -
>>>bescheidenen Wohlstand mit eigenem Auto und Häuschen aufbauen können.
>>>Deshalb sollte die Aufhebung des Privateigentums heute kein
>>
>>Thema mehr sein.
>>
>>>Privateigentum ist Ausdruck und wesentlicher Bestandteil der
>>>Selbstverwirklichung. Was das Privateigentum an
>>
>>Produktionsmitteln angeht,
>>
>>>so gibt es auch dort - bei aller Tendenz zur Konzentration bei großen
>>>Produktionseinheiten - die Tendenz zur breiten Streuung des Vermögens in
>>>Form selbständiger kleiner Einheiten. Wir nennen diese Leute heute
>>>Mittelstand. Sie sind die tragende Säule unserer Wirtschaft.
>>
>>Und gerade dort
>>
>>>kann ich nicht sehen, dass die, die dort erwerben, nicht auch selbst
>>>arbeiten. Kein Scherz: Wer selbständig ist, arbeitet selbet und arbeitet
>>>ständig. Das ist jedenfalls der Normalfall.
>>>
>>>
>>>
>>>
>>>>"Es ist eins der grössten Missverständnisse, von freier,
>>>>gesellschaftlicher menschlicher Arbeit, von Arbeit ohne Privateigentum
>>>>zu sprechen. Die "Arbeit"  ist ihrem Wesen nach die unfreie,
>>>>unmenschliche, ungesellschaftliche, vom Privateigentum bedingte und das
>>>>Privateigentum schaffende Tätigkeit. Die Aufhebung des Privateigentums
>>>>wird also erst zu einer Wirklichkeit, wenn sie als Aufhebung der Arbeit
>>>>gefasst wird."
>>>>
>>>>Aus: Über Friedrich List
>>>>
>>>
>>>
>>>
>>>FH: Die Aufhebung von Arbeit und Privateigentum ist das Ende der
>>>Verantwortlichkeit für irgendetwas, das Ende des Bemühens, des
>>
>>Einsatzes für
>>
>>>eine Sache, das Ende der Lebensform, die wir für erstrebenswert
>>
>>erachten -
>>
>>>auch mit Hilfe eines BGE.
>>>
>>>
>>>
>>>
>>>
>>>
>>>
>>>>"Die Betätigung der Arbeitskraft, die Arbeit, ist aber die eigene
>>>>Lebenstätigkeit des Arbeiters, seine eigne Lebensäusserung. Und diese
>>>>Lebenstätigkeit verkauft er an einen Dritten, um sich die nötigen
>>>>Lebensmittel zu sichern. Seine Lebenstätigkeit ist für ihn also nur ein
>>>>Mittel, um existieren zu können. Er arbeitet, um zu leben. Er rechnet
>>>>die Arbeit nicht selbst in sein Leben ein, sie ist vielmehr ein Opfer
>>>>seines Lebens. Sie ist eine Ware, die er an einen Dritten zugeschlagen
>>>>hat. Das Produkt seiner Tätigkeit ist daher auch nicht der Zweck seiner
>>>>Tätigkeit. Was er für sich selbst produziert, ist nicht Seide, die er
>>>>webt, nicht das Gold, das er aus dem Bergschacht zieht, nicht der
>>>>Palast, den er baut. Was er für sich selbst produziert, ist der
>>>>Arbeitslohn, und Seide, Gold, Palast lösen sich für ihn aus in ein
>>>>bestimmtes Quantum von Lebensmitteln, vielleicht in eine Baumwolljacke,
>>>>in Kupfermünze und in eine Kellerwohnung. Und der Arbeiter, der zwölf
>>>>Stunden webt, spinnt, bohrt, dreht, baut, schaufelt, Steine klopft,
>>>>trägt usw. ? gilt ihm dies zwölfstündige Weben, Spinnen, Bohren, Drehen,
>>>>Bauen, Schaufeln, Steinklopfen als Äusserung seines Lebens, als Leben?
>>>>Umgekehrt. Das Leben fängt da für ihn an, wo diese Tätigkeit aufhört am
>>>>Tisch, auf der Wirtshausbank, im Bett. Die zwölfstündige Arbeit dagegen
>>>>hat ihm keinen Sinn als Weben, Spinnen, Bohren usw., sondern als
>>>>Verdienen, das ihn an den Tisch, auf die Wirtshausbank, ins Bett bringt.
>>>>Wenn der Seidenwurm spänne, um seine Existenz als Raupe zu fristen, so
>>>>wäre er ein vollständiger Lohnarbeiter."
>>>>
>>>>Aus: Lohnarbeit und Kapital
>>>>
>>>
>>>
>>>
>>>FH: Was ein Künstler, ein Musiker, ein Dirigent, ein Arzt, ein
>>
>>Rechtsanwalt,
>>
>>>ein Zeitungsverkäufer, ein Bauer, ein Bundeskanzler, an
>>
>>Leistung produziert,
>>
>>>behält er auch nicht für sich, denn davon hat er nichts. Er
>>
>>bekommt Geld als
>>
>>>Gegenleistung, er bekommt einen Arbeitslohn, den er dann frei gegen das
>>>eintauschen kann, was er zum Leben braucht und das, was er sich darüber
>>>hinaus noch davon an Luxus leisten kann. Die Arbeitsteilung, so
>>
>>wie Marx sie
>>
>>>hier beschreibt, hat eben bei uns in keiner Weise zur Folge,
>>
>>dass die die
>>
>>>Menschen nur an den Tisch, die Wirtshausbank und ins Bett
>>
>>bringt. Sie hat
>>
>>>die Leute heute, z. B. hier in Deutschland, in einen Zustand
>>
>>gebracht, dass
>>
>>>die Ruhestandsperiode im Leben eines Menschen im Schnitt schon
>>
>>länger ist
>>
>>>als Periode des Arbeitens.
>>>
>>>
>>>Deshalb, lieber Rüdiger Heerscher, meine Bitte: Marx als große
>>
>>historische
>>
>>>Figur im Regal stehen lassen und selbst beobachten (nicht
>>
>>selten hilft einem
>>
>>>dabei sogar das Fernsehen).
>>>
>>>Schöne Grüße
>>>Florian Hoffmann
>>>
>>>
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