[Debatte-Grundeinkommen] Debatte-grundeinkommen Nachrichtensammlung, Band 20, Eintrag 2

Rüdiger Heescher ruediger.heescher at attac.de
Fr Nov 3 12:24:24 CET 2006


Lieber Florian

dann bitte ich Dich einfach mal vom Fernseher wegzugehen und sich nicht 
die Hochglanzbilder anzuschauen. Bewege Dich mal vom Fernseher, Computer 
und Deiner Wohnung weg in die wirkliche Welt. Gehe mal nach Ewing 
(Norden) in Dortmund oder in den Osten von Hamburg usw. und schaue Dir 
dort mal an, wie die Menschen dort leben, von was sie leben, welche 
Zukunftsperspektiven sie haben und wo der sogenannte Mittelstand heute 
steht. Wenn jemand abrutscht in Hartz 4, weil er arbeitslos geworden ist 
und mit 50 sowieso keine Arbeit mehr bekommen kann, weil ihn keiner mehr 
haben will. Dann ist der Besitz (das Häuschen), den er sich mit 
Bankenhilfe aufgebaut hat auch bald futsch. Der sogenannte Mittelstand 
muss auch das halten, was er sich aufgebaut hat und das kostet jeden 
Monat gutes Geld. Ein Haus zu besitzen kostet mehr als eine Mietwohnung, 
gerade nach 20-30 Jahren, wenn erst recht Reparaturen anfallen! 
Vielleicht gibt es hier ja Hausbesitzer, die das noch treffender 
formulieren können.

Wir haben mittlerweile wieder ungefähr 50 % Schulkinder, die nicht 
schwimmen können, weil sie kein Schulschwimmen mehr haben (fehlende 
Hallenbäder für Schulschwimmen, weil Kommunen dicht gemacht haben oder 
umgewandelt in Wellness-Spassbäder aber ungeeignet für Schulschwimmen) 
was zeigt, dass es sowas wie ein Analphabetentum in diesem Bereich gibt 
(Ich rede hier nur von Deutschland, dem reichsten Land an Wissen und 
sogenannten Dienstleistungen). Es fängt jetzt mit Schwimmen an und endet 
mit wirklichem Analphabetentum in der soganannten "Unterschicht" 
(Unterschichtendebatte will ich hier aber nicht wirklich führen)

Die neue Existenzangst macht die Leute kaputt und werden in ein paar 
Jahren nicht mehr so lange von ihrem Ruhestand zehren können.

Was Du beschreibst ist noch die Wohlstandsgesellschaft der 80er Jahre, 
wo noch der Mittelstand gefördert wurde. Aber selbst das ist jetzt 
vorbei, wenn ein Schlachtermeister mit eigenem Metzgerverkaufsladen 
zusätzlich noch in einen Schlachthof gehen muss zum arbeiten um seinen 
kleinen Metzgerladen am laufen zu halten. Dieses Beispiel kann ich hier 
aus Uetersen anführen! Besitz heutzutage zu halten ist schon schwieriger 
geworden. Es reicht nicht sein Häuschen zu besitzen. Man kann es auch 
ganz schnell wieder verlieren.

gruss

Rüdiger





Florian Hoffmann wrote:
> 
> Liebe Listis,
> lieber Rüdiger,
> 
> uns' Charly war ein ehrenwerter Mann und sicherlich ein ernstzunehmender
> Wissenschaftler, aber das, was Du uns da vorsetzt, hat nun wirklich nichts
> mehr mit unserer Arbeitswelt hier zu tun, ist doch wahrlich keine
> Beschreibung der Realität von heute in Europa mehr, es sei denn, man meint
> die Fabrikarbeit in China, Bolivien oder Bangladesh und die Kinderarbeit in
> Indien, Slums im Kongo oder die Verhältnis auf Zuckerplantagen in Brasilien
> (völlig unvollständige Aufzählung).
> 
> Ich habe als Begründung ein paar Anmerkungen zwischen die Zitate gefügt:
> 
> 
>>"Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das
>>durch Not und äussere Zweckmässigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt
>>also in der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen
>>materiellen Produktion."
>>
>>Aus : Das Kapital Bd. III
> 
> 
> 
> FH: Die Zeiten haben sich gewandelt: Der Natur der Sache nach existiert
> heute die Freiheit millionenfach in der Sphäre der eigentlichen Produktion,
> wenn ich nur an (was nicht immer der Fall ist:) glückliche Lehrer,
> glückliche Ärzte, glückliche Vertriebsleute, glückliche Kellner, glückliche
> Beamte, glückliche Zeitungsmacher, Redakteure und auch Leute in der
> Produktion von Lebensmitteln (auch: Bauern) denke, die ich selbst kenne oder
> erlebt habe. Das Reich der Freiheit steckt auch in der Arbeit. Arbeit ist
> auch Selbstverwirklichung. Das BGE soll von Frohnarbeit befreien, und/oder
> dafür sorgen, dass diese Arbeiten angemessen entlohnt werden.
> 
> 
> 
>>"Man hat eingewendet, mit der Aufhebung des Privateigentums werde alle
>>Tätigkeit aufhören und eine allgemeine Faulheit einreissen. Hiernach
>>müsste die bürgerliche Gesellschaft längst an der Trägheit zugrunde
>>gegangen sein; denn die in ihr arbeiten, erwerben nicht, und die in ihr
>>erwerben, arbeiten nicht."
>>
>>Aus: Marx/Engels: Mainifest der kommunistischen Partei
> 
> 
> 
> FH: Letzteres ist heute bei uns so nicht mehr der Fall, sonst hätten sich
> nicht Millionen abhängig Beschäftigter ihren - wenn auch manchmal nur -
> bescheidenen Wohlstand mit eigenem Auto und Häuschen aufbauen können.
> Deshalb sollte die Aufhebung des Privateigentums heute kein Thema mehr sein.
> Privateigentum ist Ausdruck und wesentlicher Bestandteil der
> Selbstverwirklichung. Was das Privateigentum an Produktionsmitteln angeht,
> so gibt es auch dort - bei aller Tendenz zur Konzentration bei großen
> Produktionseinheiten - die Tendenz zur breiten Streuung des Vermögens in
> Form selbständiger kleiner Einheiten. Wir nennen diese Leute heute
> Mittelstand. Sie sind die tragende Säule unserer Wirtschaft. Und gerade dort
> kann ich nicht sehen, dass die, die dort erwerben, nicht auch selbst
> arbeiten. Kein Scherz: Wer selbständig ist, arbeitet selbet und arbeitet
> ständig. Das ist jedenfalls der Normalfall.
> 
> 
> 
>>"Es ist eins der grössten Missverständnisse, von freier,
>>gesellschaftlicher menschlicher Arbeit, von Arbeit ohne Privateigentum
>>zu sprechen. Die "Arbeit"  ist ihrem Wesen nach die unfreie,
>>unmenschliche, ungesellschaftliche, vom Privateigentum bedingte und das
>>Privateigentum schaffende Tätigkeit. Die Aufhebung des Privateigentums
>>wird also erst zu einer Wirklichkeit, wenn sie als Aufhebung der Arbeit
>>gefasst wird."
>>
>>Aus: Über Friedrich List
>>
> 
> 
> 
> FH: Die Aufhebung von Arbeit und Privateigentum ist das Ende der
> Verantwortlichkeit für irgendetwas, das Ende des Bemühens, des Einsatzes für
> eine Sache, das Ende der Lebensform, die wir für erstrebenswert erachten -
> auch mit Hilfe eines BGE.
> 
> 
> 
> 
> 
> 
>>"Die Betätigung der Arbeitskraft, die Arbeit, ist aber die eigene
>>Lebenstätigkeit des Arbeiters, seine eigne Lebensäusserung. Und diese
>>Lebenstätigkeit verkauft er an einen Dritten, um sich die nötigen
>>Lebensmittel zu sichern. Seine Lebenstätigkeit ist für ihn also nur ein
>>Mittel, um existieren zu können. Er arbeitet, um zu leben. Er rechnet
>>die Arbeit nicht selbst in sein Leben ein, sie ist vielmehr ein Opfer
>>seines Lebens. Sie ist eine Ware, die er an einen Dritten zugeschlagen
>>hat. Das Produkt seiner Tätigkeit ist daher auch nicht der Zweck seiner
>>Tätigkeit. Was er für sich selbst produziert, ist nicht Seide, die er
>>webt, nicht das Gold, das er aus dem Bergschacht zieht, nicht der
>>Palast, den er baut. Was er für sich selbst produziert, ist der
>>Arbeitslohn, und Seide, Gold, Palast lösen sich für ihn aus in ein
>>bestimmtes Quantum von Lebensmitteln, vielleicht in eine Baumwolljacke,
>>in Kupfermünze und in eine Kellerwohnung. Und der Arbeiter, der zwölf
>>Stunden webt, spinnt, bohrt, dreht, baut, schaufelt, Steine klopft,
>>trägt usw. ? gilt ihm dies zwölfstündige Weben, Spinnen, Bohren, Drehen,
>>Bauen, Schaufeln, Steinklopfen als Äusserung seines Lebens, als Leben?
>>Umgekehrt. Das Leben fängt da für ihn an, wo diese Tätigkeit aufhört am
>>Tisch, auf der Wirtshausbank, im Bett. Die zwölfstündige Arbeit dagegen
>>hat ihm keinen Sinn als Weben, Spinnen, Bohren usw., sondern als
>>Verdienen, das ihn an den Tisch, auf die Wirtshausbank, ins Bett bringt.
>>Wenn der Seidenwurm spänne, um seine Existenz als Raupe zu fristen, so
>>wäre er ein vollständiger Lohnarbeiter."
>>
>>Aus: Lohnarbeit und Kapital
>>
> 
> 
> 
> FH: Was ein Künstler, ein Musiker, ein Dirigent, ein Arzt, ein Rechtsanwalt,
> ein Zeitungsverkäufer, ein Bauer, ein Bundeskanzler, an Leistung produziert,
> behält er auch nicht für sich, denn davon hat er nichts. Er bekommt Geld als
> Gegenleistung, er bekommt einen Arbeitslohn, den er dann frei gegen das
> eintauschen kann, was er zum Leben braucht und das, was er sich darüber
> hinaus noch davon an Luxus leisten kann. Die Arbeitsteilung, so wie Marx sie
> hier beschreibt, hat eben bei uns in keiner Weise zur Folge, dass die die
> Menschen nur an den Tisch, die Wirtshausbank und ins Bett bringt. Sie hat
> die Leute heute, z. B. hier in Deutschland, in einen Zustand gebracht, dass
> die Ruhestandsperiode im Leben eines Menschen im Schnitt schon länger ist
> als Periode des Arbeitens.
> 
> 
> Deshalb, lieber Rüdiger Heerscher, meine Bitte: Marx als große historische
> Figur im Regal stehen lassen und selbst beobachten (nicht selten hilft einem
> dabei sogar das Fernsehen).
> 
> Schöne Grüße
> Florian Hoffmann
> 
> 
> _______________________________________________
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