[Debatte-Grundeinkommen] Fw: Anrechnung von gesellschaftsfördernder Lebenszeit auf BGE

Werner & Sigrid Herwig wesi.herwig at gmx.de
Do Aug 31 12:52:53 CEST 2006


Lieber Herr Jäger,

ich danke Ihnen für Ihre Mail vom Dienstag. Dass Sie Befürworter des BGE sind, davon bin ich aufgrund Ihres intensiven Engagements ausgegangen. Auch ich bin der Meinung, dass die Debatte nicht isoliert geführt werden darf. Vor allem nicht isoliert von Gesellschaft und gesellschaftlichen Aufgaben. Sollte es diesbezüglich Irritationen gegeben haben, mag das wohl daran liegen, dass Sie sich sicherlich schon sehr viel länger als ich mit dem Thema auseinander setzen, vielleicht sogar von Berufs wegen und Machbares und Mögliches bereits wie ein aufgeschlagenes Buch vor Ihnen liegen mag. Ich habe die für mich noch recht neue Idee vom Anfang an gedacht (so wird es wohl den meisten Neueinsteigern dieser Debatte gehen) und suche verständlicherweise nun auch Feed-back, das ich leider bislang nur in diesem kleinen Kreis der Mailingliste zu finden vermag. 

Dass es aber grundsätzlicher Überlegungen bedarf, dieses Projekt zu verkaufen, vielleicht nicht gerade mit der selben Werbung wie bei einem Staubsauger, erscheint mir doch wichtig. Menschen müssen gerade der großartigen Chancen wegen, die damit verbunden sind, mitgenommen werden. Es gilt also, ihr Bedürfnis, das oft schon abgetötete Bedürfnis hin zu mehr Freiheit wieder neu zu wecken. Wie viele sind denn in der Lage, ihre Bedürfnisse prägnant zu formulieren und sie auch noch zu einzufordern?

Anbei weiterführende Überlegungen und auch viele Fragen, die ich gerne den Teilnehmern der Mailingliste bekannt geben wollte. Dies hat offenbar nicht geklappt. Woran könnte das gelegen haben? 

Mit freundlichen Grüßen

Sigrid
----- Original Message ----- 
From: Werner & Sigrid Herwig 
To: debatte-grundeinkommen- at listen.grundeinkommen.de 
Sent: Thursday, August 31, 2006 11:27 AM
Subject: Anrechnung von gesellschaftsfördernder Lebenszeit auf BGE


Guten Tag an alle Mailer,

diese Debatte mit ihrem Facettenreichtum fasziniert mich täglich aufs Neue, regt an, zu erörtern, wie die Welt von morgen menschenfreundlich zu gestalten wäre.

Überlegung Nr. 1) Ob leben mit oder ohne Geld würde ich beim derzeitigen Stand der Debatte nicht als primäres Thema betrachten. Wir bräuchten eher sanfte Übergänge, damit jeder Mensch auch mitkommt

Überlegung Nr. 2) Wenn JedeR ein bedingungsloses BGE erhält, wie geht man dann mit essenziellen, primären und sekundären gesellschaftlichen Aufgaben um? 

Überlegung Nr. 3) Welchen (Geld-)Wert soll das BGE haben und wem steht es zu?

Überlegung Nr. 4) Wie verkauft man solch eine segensreiche Idee? 

Letzteres zu Frage 3 habe ich mir schnell beantwortet. Jedem, der mit zwei Beinen auf die Welt kommt und einen aufrechten Gang hat, also unabhängig von geografischer und ethnischer Herkunft, Bildungsstand, Gesundheit u. Intelligenz. Den Geldwert muss man den jeweiligen Lebensverhältnissen eines Landes anpassen und für Deutschland scheint es ja bereits sehr ausgeklügelte Berechnungsmodelle zu geben. 

Inwieweit wurde in diesen Modellen der für mich sehr wichtige Faktor Zeit behandelt, um die in Nr. 2 angesprochenen Aufgaben in gerechter Art und Weise zu gestalten?
Darüber habe ich in der Debatte noch zu wenig gelesen. Die Theorie "Recht auf Faulheit" lenkt m. E. davon sogar ein wenig davon ab.

Deshalb möchte ich an dieser Stelle aufgliedern, was für mich essenzielle Bedeutung, primäre und sekundäre hätte, die in Zeiteinheiten umzurechnen wären, damit auch sie gerecht aufgeteilt werden könnten (etwa in der Art einer Lebensversicherung, Existenzsicherung oder wie auch immer benannt):

essenziell
- Ernährung, Wohnung, Kleidung, Hausbrand (Agrarindustrie mit all ihren Zweigen)
- Gesundheitsfürsorge (Prävention, Heilen und Pflegen - Einbindung der Pharmaindustrie)

primär
- Sicherheit (Rettungswesen und Kathastrophenschutz, Polizei, Seelsorge, defensiv-vermittelnde Außenpolitik)
- Recht (Weiterentwicklung der Gesetze, Rechtlicher Beistand für JedeN)
- Bildung (Allgemeinbildung - Grundwissen - weiterführende Wissensvermittlung, berufliche Bildung)
- Infrastruktur (Energieversorgung, Wegenetz, Datennetz nebst aller medialer Information, Administration)

sekundär
- Kulturerhalt- und Weiterentwicklung
- Erhalt- und Weiterentwicklung von Freizeiteinrichtungen
- Mobilität (Kostenlose? Verkehrsmittel für Privat)

All diese Aufgaben (bestimmt gäbe es noch Ergänzungen, die ich nicht bedacht habe) könnten nun auf die BRD bezogen in Zeitwerten und tatsächlichen Kostenwerten ermittelt werden. So könnte man erstens umrechnen anhand der Gesamtbevölkerung, wieviel Zeitaufwand jeder hätte, um seine Existenz in bestehender Gesellschaft zu sichern. Dies wären die (Zeit-)Aufgaben, die JedeR im Laufe seines Lebens zu leisten hätte und hier bedürfte es eines sehr gut entwickelten und neutralen Kontrollings, damit nicht wieder irgendwelches Machtgehabe zum Zuge kommt und Zeitverschwendung auferlegt. Zweitens würden diese derzeitigen Kosten frei und könnten die Grundlage für das BGE bilden. Ein Leben ganz ohne Arbeit, so sehe ich das, würde uns auf Dauer an den Ursprung menschlichen Seins zurückwerfen. Gesellschaftliche Leistung auf vollständig freiwilliger Basis könnte zu erneuter Ungerechtigkeit führen. JedeR müsste also bereits bei seiner Grundbildung auf notwendige gesellschaftliche Aufgaben vorbereitet werden, um frühzeitig die Entscheidung treffen zu können, in welchen Sektor er sich einwählen möchte. Dazu bedürfte es der Reformierung der heutigen Administration und allem Voraus die Gewinnung der im essenziellen und primären Bereich tätigen Administrationen und Wirtschaftszweige, gewiss ein hohes Ziel. 

Somit steht m. E. am Anfang der Verkauf der Idee des BGE. Verkauf benötigt Marketing und dies kostet (viel) Geld und Engagement. Die erforderliche Administration drum herum musste Stück für Stück entwickelt werden (vielleicht sogar durch eine gerechte, aufrichtige Reform, aubauend auf Hartz-IV?). 

Warum habe ich eigentlich in meiner Tageszeitung noch nie etwas über das BGE gelesen (Nordhessen)? Warum noch nie in der meiner Schwester (Nordbayern)? Warum beinhandelt aber fast jeder politische Leserbrief die indirekte, unausformulierte Frage nach einer Veränderung in diese Richtung? Warum laufen TV-Sendungen, die sich mit diesem Thema befassen nur auf Nebenschauplätzen (Prof. Werner bei Maischberger)? Nur die breite Debatte bietet genügend Informationen mit Pro und Contra bezüglich der persönlichen Meinungsbildung. Folglich müsste dieses Thema doch eingebunden werden als vorrangige Strategie bei einer unserer repräsentativen Volksparteien. Welche steht diesen Interessen am nächsten? 

Für mich erscheint weiterhin logisch, dass die Ausführung eines solch weltbewegenden Projekts aufgrund derzeitiger neoliberaler und kapitalistischer Zwänge in der Politik sich letztdendlich nur an einem Ort entwickeln kann, an dem ausschließlich der Bürgerentscheid zählt (Basisdemokratie). Wäre Deutschland demnach zur Zeit der falsche Entwicklungsort für diese Idee?

Mit freundlichen Grüßen

Sigrid


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