[Debatte-Grundeinkommen] Debatte-grundeinkommen / Zehn Thesen

Michael Opielka michael.opielka at isoe.org
Di Aug 29 09:36:59 CEST 2006


Lieber Herr Hoffmann,

Ihre Gedanken sind nahe liegend. Glücklicherweise mussten Sie nicht allein
diese Diskussion "lostreten", weil sie - wenn Sie sich die einschlägige
wissenschaftliche Literatur ansehen - bereits von anderen gedacht  wurden.

Sie machen aber zu Recht auf den perspektivischen Unterschied zwischen
"Negativer Einkommenssteuer" und "Sozialdividende" aufmerksam. Erstere
argumentiert vom Negativen her, also vom Fehlen existenzsichernden
Einkommens (und stellt insoweit eine modernisierte Sozialhilfe dar),
zweitere argumentiert vom Anteil an gemeinschaftlichen Gütern einer
Gesellschaft.

Beste Grüße
Michael Opielka 


__________________________________________

prof. dr. michael opielka
fachhochschule jena - fachbereich sozialwesen - university of applied
sciences - faculty of social welfare
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-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: Florian Hoffmann [mailto:florian.hoffmann at intereasy.de] 
Gesendet: Dienstag, 29. August 2006 09:17
An: Debatte Grundeinkommen
Betreff: Debatte-grundeinkommen / Zehn Thesen


Liebe Listis,

die Erkenntnissuche hat mittlerweile literarische Dimensionen angenommen,
was ich sehr erbaulich finde, weil auch freie Geister zu Wort kommen. In der
Sache selbst bewegt sich aber nicht mehr viel, bzw. bewegt sich alles im
Kreis, neue Disputanten ergehen sich - was sehr,
sehr erfreulich ist! - in Begeisterung ob der tollen Idee "BGE".

Im Januar diesen Jahres habe ich mit einem neuen Finanzierungsmodell
(Einkommensteuer = BGE-Umlage für die Bürger; Umsatzsteuer = Einnahmen des
Staates) eine intensive Diskussion losgetreten. Das wichtigste Ergebnis der
Diskussion ergab sich aus einer Mail von Strengmann-Kuhn, die ich - weil sie
so schön war - hier noch einmal wiedergeben möchte:

"Lieber Herr Hoffmann, liebe MitstreiterInnen,

ich finde auch, man sollte zumindest fuer interne Diskussionen nicht so
dogmatisch mit den vier Kriterien umgehen. So sind viele Wege zu einem
unbedingten Basiseinkommen im Sinne der vier Kriterien des Netzwerks
möglich, auch wenn in Zwischenschritten nicht gleich alle Kriterien erfuellt
werden. Ein partielles Grundeinkommen (also ein Grundeinkommen unter dem
Existenzminimum) ist dabei durchaus eine Moeglichkeit - allerdings muss es
dann noch zusaetzlich eine existenzsichernde (bedarfsgeprüfte)
Grundsicherung geben.

Im uebrigen gehoert "existenzsichernd" bei B.I.E.N nicht zu den Kriterien!

Die drei Kriterien bei BIEN sind:
*      it is being paid to individuals rather than households;
*      it is paid irrespective of any income from other sources;
*      it is paid without requiring the performance of any work or the
willingness to accept a job if offered.

Schoene Gruesse
Wolfgang Strengmann-Kuhn"

Heute möchte ich eine neue Diskussion lostreten. Mein inneres Anliegen ist
dabei, zu verhindern, dass eine Einführung des BGE an konzeptionellen
Defekten politisch scheitert. Es geht darum, kritischen Einwänden von vorne
herein den Wind aus den Segeln zu nehmen. Wesentliche Einwände sind z. B.

	- nicht finanzierbar
	- nicht durchsetzbar
	- ungerecht, warum soll jeder gleich viel bekommen?
	- die Leute hören auf zu arbeiten
	- nicht marktwirtschaftlich
	- die Menschen würden gravierend ihr Verhalten ändern; aber wie?

Ich habe dazu zehn Thesen entwickelt, deren Plausibilität vielleicht sogar
schon beim ersten Durchlesen gegeben ist:

	1. Es gibt bei uns schon eine Art BGE, nämlich in Form des
Kindergeldes.
Ein richtiges BGE, nämlich bis zum Lebensende ausbezahlt, würde im Prinzip
nicht viel anders funktionieren. Der Vergleich mit dem Kindergeld eliminiert
viele Gegenargumente a priori, weil schon alle Erfahrungen damit haben!!!!!!

	2. Genauso wenig wie das Kindergeld sich als Existenzminimum
definiert,
genau so wenig darf das BGE sich als Mindesteinkommen o. ä. definieren. Mein
Vorschlag dazu wäre, dass sich ein BGE als Sozial-Dividende definiert, als
allgemeine Teilhabe am allgemeinen Wohlstand. Einkommen definiert sich
eigentlich nie nach den Ausgaben (Wen interessieren meine Ausgaben bei
meiner Rechnungsstellung?), sondern an der eingebrachten Leistung. Da es
eine gesamtwirtschaftliche Leistung gibt, die sich nicht am Einzelnen
festmachen läßt, oder die vom Einzelnen miterbracht wird, ohne daß er dafür
immer gerecht entlohnt würde, ist eine Sozial-Dividende gerechtfertigt und
auch gerecht.

	3. Das Kindergeld gibt Sicherheit, aber es führt keineswegs zu den
von
vielen befürchteten negativen Verhaltensmustern (Faulheit), oder zu
dramatischen strukturellen Veränderungen des Wirtschaftlebens. (Ausnahme:
Ausländer deren Einkommensniveau im Heimatland deutlich unter unserem liegt,
und die Kindergeld dazu nutzen, echtes Grund- und Zusatzeinkommen zu
erzielen.) Aber: Auf die Dauer (nicht am Anfang) sollte ein BGE immer
wesentlich höher liegen, als das Kindergeld. Der Wechsel vom Kindergeld zum
BGE sollte vielleicht im 16. oder 17. Lebensjahr erfolgen.

	4. Das BGE, definiert als Teilhabe am allgemeinen Wohlstand
(Gerechtigkeit)
und als Mittel, andere bürokratisch orgsanisierte Sozialinstitutionen zu
ersetzen (Transparrenz, Vereinfachung), könnte alle politischen Lager
befriedigen!

	5. Eine Definition als Sozial-Dividende würde deren Höhe variabel
werden
lassen, und zwar nach der gesamtwirtschaftlichen Leistung, bzw. nach den
Steuereinnahmen. Hohe Steuereinnahmen führen zu einer hohen Ausschüttung,
bei sinkenden Einnahmen gehen die Ausschüttungen zurück.

	6. Man sollte die Höhe der Ausschüttungen dynamisieren, d. h. an die
Einnahmen aus der Einkommensteuer koppeln, d. h. die Sozial-Dividende würde
die allgemeine Entwicklung der persönlichen Einkommen wiederspiegeln: Sie
erschiene der Höhe nach gerecht und sie reagiert auf grundlegende
Verhaltensänderungen richtig, d. h. wenn die Leute wegen bedingt durch die
Höhe der Ausschüttungen weniger arbeiten und verdienen, sinkt auch die
Ausschüttung. Man könnte im System auf ein dynamisches Gleichgewicht
hinarbeiten.

	7. Mit einer so geschaffenen Gerechtigkeit wäre die - mit absoluter
Sicherheit ergebnislos endende - Diskussion über die "richtige" Höhe einer
Existenzsicherung vom Tisch.

	8. Mit einer Sozial-Dividende (oder Sozialdividende, oder -
ausschüttung)
wäre geleichzeitig eine sukzessive Einführung (beginnend mit kleinen
Beträgen) problemlos zu diskutieren. Damit könnte eine Einführung in der
Weise geschehen, dass man Spezialregelungen (Bafög, Wohngeld, Hartz IV,
etc.) langsam reduziert und die Ersparnis in den BGE-Topf einfließen läßt.
Die absolute Höhe des BGE wäre dann keine politische Entscheidung. Sache der
Politik wäre die Entscheidung über die faktische Rate der Veränderung der
bestehenden Sozialzuwendungen nach unten, mit der Folge der Entwicklung des
BGE nach oben.

	9. Für dieses von mir vorgeschlagene Modell gilt auch, dass es nicht
nur
hier in unserem hochindustrialisierten Land, sondern weltweit und überall
praktikabel wäre.

	10. Auch das extrem wichtige Thema Finanzierbarkeit wäre vom Tisch,
wenn
man BGE nicht als Anspruch, sondern als Teilhabe verstünde.


Ich meine, mit der Berücksichtigung dieser Thesen würde das BGE
verständlicher und politisch leichter durchsetzbar - in Parteien aller
Coleur.

Florian Hoffmann







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