[Debatte-Grundeinkommen] taz: 10.5.05

Wolfgang Strengmann strengmann at wiwi.uni-frankfurt.de
Di Mai 10 07:36:50 CEST 2005


"Konzepte wie das Grundeinkommen, das Bürgergeld oder die negative Einkommensteuer, die in den 
Schubladen schlummern, müssen wieder auf die Tagesordnung." (Reinhard Loske, stellvertretender 
Vorsitzender der Bundestagsfraktion der Grünen)

Der ganze Artikel aus der taz vom 10.5.:
http://www.taz.de/pt/2005/05/10/a0187.nf/text.ges,1
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Ein anderes Lied
NEUE KAPITALE KRITIK (3): Den Grünen ist die enttäuschte Liebe der SPD zur Großindustrie fremd. 
Münteferings Kritik ist unglaubwürdig - und ihr fehlt die ökologische Dimension

An der von Franz Müntefering losgetretenen Kapitalismusdebatte haben sich die Grünen bislang nicht 
mit viel Engagement beteiligt. Das überrascht, denn man darf annehmen, dass ihre Anhänger die 
Herrschaft der Ökonomie auf der ganzen Linie kritisch sehen. Die These, dass die Jagd nach 
schnellem Geld ohne ehrliche Arbeit das Gemeinwesen zersetzt, dürfte beim grünen Publikum auf 
ebenso große Zustimmung treffen wie die Feststellung, Unternehmertum ohne soziale Verantwortung 
sei asozial.

Auch die gängigen Rezepte gegen die Maßlosigkeit des Kapitals, etwa die Tobin-Steuer gegen 
globale Devisenspekulation oder der Mindestlohn gegen Dumping, stehen bei Grünwählern hoch im 
Kurs. Warum also stimmen viele Grüne nicht frohgemut ein, wenn Müntefering nun "das Kapital" 
angreift?

Zunächst sticht ins Auge, dass mit der starken Betonung der Dichotomie von Kapital und Arbeit die 
dritte Dimension nachhaltiger Entwicklung, die Natur, wieder vollends aus dem Blickfeld gerät. Sie 
kommt nicht mehr vor in einem Diskurs, der nur noch um ökonomische Verteilungsfragen und die 
Aneignung des Mehrwerts kreist, um Renditen und Löhne. Von einer Reflexion über die Qualität des 
Sozialprodukts fehlt jede Spur. Der Kuchen soll wachsen, egal wie, gebalgt wird nur um die Stücke. 
Das ist nach dreißig Jahren Einsicht in ökologische Zusammenhänge und die Fragilität unseres 
Planeten ein bemerkenswertes Retardieren, das sich unsere Gesellschaft und erst recht eine grüne 
Partei nicht leisten kann. Für sie müssen sich soziale und ökonomische Entwicklung innerhalb 
ökologischer Leitplanken vollziehen.

Münteferings Thesen haben auch etwas von enttäuschter Liebe: Nun haben wir so viel für die große 
Industrie getan, scheint er sagen zu wollen, und sie liefert einfach nicht - weder Arbeitsplätze noch 
Steuern. Welch ein Ärgernis! In der Tat ist diese Bundesregierung, allen voran Wirtschaftsminister 
Clement, den Wünschen der großen Kapitalgesellschaften ja sehr weit entgegengekommen, nicht nur 
bei der Senkung der Körperschaftssteuer. In der Energie-, der Automobil- oder der Chemikalienpolitik 
macht sich der SPD-Mainstream die Anliegen der großen Konzerne (und der entsprechenden 
Konzernbetriebsräte) weitestgehend zu Eigen. Verbraucherinteressen oder die Interessen kleiner und 
mittlerer Unternehmen, in der Regel Personengesellschaften, zählen da wesentlich weniger.

Den Grünen ist dieses Vertrauen in Großunternehmen kulturell immer fremd gewesen. Im Gegenteil, 
in der Blütezeit des Korporatismus, als Staat, Industrie und Gewerkschaften noch gemeinsam 
definierten, was das Gemeinwohl ist, sind die Grünen als Protestbewegung erst entstanden: gegen 
Umweltzerstörung, mangelnde Bürgerbeteiligung, Zentralismus und den Primat von 
Konzerninteressen. Vernünftigerweise setzen sie in ihrer Wirtschaftspolitik deshalb eher auf kleine 
und mittlere Unternehmen, auf neue Dienstleistungen und den Non-profit-Sektor, kurz: auf dezentrale 
und eher selbst organisierte Strukturen. Das ist eine andere Welt als die des sozialdemokratisch 
geprägten Facharbeiters. Nicht besser, nicht schlechter, aber anders.

Es mag sein, dass viele Sozialdemokraten mit Wehmut auf die seligen Zeiten zurückschauen, in 
denen Kapital und Arbeit sich im Nationalstaat noch wohl organisiert gegenüberstanden und 
Verteilungsfragen unter sich ausmachten - häufig zu Lasten Dritter, nämlich derjenigen, die außerhalb 
dieser Strukturen agierten. Für die Grünen gibt es keinen vernünftigen Grund, sich die 70er- und 
80er-Jahre zurückzuwünschen. Sie tun gut daran, sich nicht an Einzelinteressen von 
Großunternehmen zu orientieren, sondern einen Ordnungsrahmen zu spannen, der fairen 
Wettbewerb, soziale Gerechtigkeit und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ermöglicht. Das 
kann nicht mehr allein auf nationalstaatlicher Ebene geschehen, sondern muss in Europa und in 
internationalen Verträgen angegangen werden. Die unterschwellige Rhetorik gegen polnische 
"Billigarbeiter" und amerikanische "Spekulanten" hat daher einen etwas schalen Beigeschmack.

Bleibt ein letzter Grund, warum die Grünen in Münteferings Arie nicht ohne weiteres einstimmen 
können. In der Debatte nämlich fehlt ein Aspekt völlig: Was wird aus denjenigen, die am unteren Ende 
der gesellschaftlichen Skala stehen, die weder Kapitalbesitzer noch Inhaber eines auskömmlichen 
Arbeitsplatzes sind? Es dürfte kaum ausreichen, bloß Kapitalismuskritik zu betreiben und gleichzeitig 
bei Hartz IV alles beim Alten zu lassen.

Wenn die Arbeitsmarktreform auf den Prüfstand kommt, muss vor allem darüber nachgedacht 
werden, wie die Situation von Kindern arbeitsloser Eltern verbessert werden kann. Es ist ein 
Widerspruch erster Güte, sich einerseits vorzunehmen, die Bildungsreserven unserer Gesellschaft zu 
heben, andererseits aber zuzulassen, dass mehr und mehr Kindern aus armen Familien der Zugang 
zu Bildung und Ausbildung verwehrt bleibt.

Die Debatte darüber, wie denn die Ökonomie wieder in den Dienst des Gemeinwohls gestellt werden 
kann, ist jetzt eröffnet. Schnelle Antworten kann es wohl nicht geben, aber einige drängen sich auf.

Erstens müssen diejenigen, die den Nachtwächterstaat propagieren, in die Schranken gewiesen 
werden. Gerade wer eine gesunde Volkswirtschaft will, braucht einen starken Staat, der fairen 
Wettbewerb garantiert und Kartelle bekämpft, der sozialen Ausgleich und die Leistungsbereitschaft 
seiner Bürger in Einklang bringt, der seiner Verantwortung für Bildung, Forschung und nachhaltige 
Entwicklung gerecht wird. Wir brauchen also keine Debatte über weitere Steuersenkungen, sehr wohl 
aber darüber, wie öffentliche Mittel zugunsten von Zukunftsinvestitionen umgeschichtet werden 
können.

Zweitens muss die zunehmende Armut in unserem Land, vor allem die Kinderarmut, stärker bekämpft 
werden. Alles auf die Karte Vollbeschäftigung zu setzen, ist absolut illusorisch. Die wird es auf 
absehbare Zeit nicht geben. Konzepte wie das Grundeinkommen, das Bürgergeld oder die negative 
Einkommensteuer, die in den Schubladen schlummern, müssen wieder auf die Tagesordnung.

Drittens ist zur Domestizierung international vagabundierenden Kapitals eine Fülle von Maßnahmen 
erforderlich, von der Stilllegung von Steueroasen bis zur Tobin-Tax. Das wird dauern. Eine 
Maßnahme kann die Bundesregierung aber sofort ergreifen. Von der Bonner "Stiftung 
Zukunftsfähigkeit" liegt ein Vorschlag auf dem Tisch, der alle Pensionsfonds dazu verpflichten soll, 
jährlich zu berichten, ob und wie sie soziale, ethische und ökologische Kriterien in ihrer Geldanlage 
berücksichtigen. Bislang blockt das Finanzministerium. Würde dieser Vorschlag, den viele 
Abgeordnete unterstützen, in deutsches und EU-Recht umgesetzt, hätte die jetzige Debatte enorm an 
Glaubwürdigkeit gewonnen. REINHARD LOSKE

taz Nr. 7660 vom 10.5.2005, Seite 12, 242 Kommentar REINHARD LOSKE, taz-Debatte

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