[IMI-List] [0452] IMI-Kongress: Bericht und Audio-Dokumentation / EU-Beistandsklausel

imi imi at imi-online.de
Do Nov 26 17:19:24 CET 2015


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Online-Zeitschrift "IMI-List"
Nummer 0452 .......... 18. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563
Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Red.: IMI / Thomas Mickan/ Jürgen Wagner / Christoph Marischka
Abo (kostenlos).. https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/imi-list
Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste.php3
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Liebe Freundinnen und Freunde,

in dieser IMI-List finden sich

1.) die Links zu den Aufnahmen der Beiträge beim diesjährigen IMI-Kongress;

2.) ein Eigenbericht zum Kongress;

3.) eine erste kurze Analyse zur Aktivierung der EU-Beistandsklausel
nach den Anschlägen in Paris


1.) Audio-Aufnahmen der Kongressbeiträge

Unser Medienpartner beim IMI-Kongress 2015, das Freie Radio Wüste Welle,
hat die Vorträge aufgenommen und auf seiner Homepage veröffentlicht.
Hier findet sich eine Zusammenstellung der Links, jeweils auch mit
kurzer Zusammenfassung des Inhalts auf der Homepage der Wüsten Welle:
http://www.imi-online.de/2015/11/23/beitraege-des-imi-kongress-2015-als-audio-dateien/


2.) Bericht vom IMI-Kongress 2016

Wir selbst haben den Kongress deutlich ausführlicher zusammengefasst und
den resultirenden Bericht als Standpunkt veröffentlicht:

IMI-Standpunkt 2015/042
Militärische Landschaften: Diskurse – Räume – Strategien
Bericht vom 19. Kongress der Informationsstelle Militarisierung
http://www.imi-online.de/2015/11/26/militaerische-landschaften-diskurse-raeume-strategien-2/
IMI (26. November 2015)


3.) Analyse zur Aktivierung der EU-Beistandsklausel und zur Ausweitung
des Bundeswehr-Einsatzes in Mali nach den Anschlägen in Paris.

IMI-Standpunkt 2015/041
EU-Beistandsklausel: Wie Terror zum Krieg wird
http://www.imi-online.de/2015/11/26/eu-beistandsklausel-wie-terror-zum-krieg-wird/
Jürgen Wagner (26. November 2015)

„Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines
Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer
Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der
Charta der Vereinten Nationen. Dies lässt den besonderen Charakter der
Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten
unberührt.“ („Beistandsklausel“ nach Artikel 42, Absatz 7 des EU-Vertrages)


Als eine der wichtigsten Reaktionen auf die Pariser Terroranschläge
kündigte Frankreich am 16. November 2015 zum ersten Mal überhaupt die
Aktivierung der sogenannten „Beistandsklausel“ nach Artikel 42, Absatz 7
des EU-Vertrages (EUV) an, der am Folgetag alle EU-Mitgliedsstaaten
zustimmten. An diesem Vorgang sind besonders zwei Aspekte
hochproblematisch: Einmal schließen sich damit auch die anderen
Mitgliedsländer faktisch der zu Recht hochgradig umstrittenen Sichtweise
Frankreichs an, bei den Anschlägen habe es sich um Kriegsakte gehandelt,
da hierüber das – primär militärische – „Reaktionsspektrum“ legitimiert
wird. Und zweitens wird hieraus nicht zuletzt in Deutschland eine
regelrechte Verpflichtung abgeleitet, Frankreich militärisch beispringen
zu müssen – und zwar auch in Einsätzen, die kaum erkennbarem
Zusammenhang zu den Anschlägen stehen. Doch obschon es richtig ist, dass
die Beistandsklausel Formulierungen enthält, die verbindlicher sind als
Artikel 5 des NATO-Vertrages, verbleibt es in der freien
Entscheidungsgewalt jedes Mitgliedslandes, wann, in welcher Form und in
welchem Umfang Frankreich von ihm Unterstützung erfährt. Eine wie auch
immer geartete Pflicht, sich militärische stärker zu engagieren, wie sie
gerade in Deutschland heraufbeschworen wird, lässt sich jedenfalls nicht
zwingend aus der Beistandsklausel ableiten. Mehr noch: Der Verweis auf
ihre Aktivierung scheint derzeit sogar teils dazu genutzt zu werden,
ohnehin bereits länger beschlossenen Militäreinsätzen ein neues
Begründungs- und Legitimierungsmuster zu verleihen.


Beistands- oder Solidaritätsklausel – Krieg oder Terroranschlag?

Die französische Sicht der Dinge formulierte Präsident Hollande nahezu
unmittelbar nach den Anschlägen mit den Worten, es habe sich bei den
Anschlägen um einen „Akt des Krieges“ gehandelt (taz, 17.11.2015). Ihm
sprang rasch u.a. auch Bundespräsident Joachim Gauck zur Seite, der in
einer Rede von einer „neuen Art von Krieg“ sprach und dies gleich noch
in einen direkten Zusammenhang mit Auslandseinsätzen der Bundeswehr
brachte: „Seit Jahren wissen wir, dass die kriegerischen Konflikte,
näher an uns heranrücken. Wir leben in Zeiten, in denen auch deutsche
Soldaten an internationalen Einsätzen teilnehmen, in denen sie zu Opfern
dieser Art der Kriegführung werden können.“ Der Bundespräsident folgerte
in einem Statement: „Aus unserem Zorn über die Mörder müssen
Entschlossenheit und Verteidigungsbereitschaft werden. Auch dabei stehen
wir an der Seite der Franzosen.“ (IMI-Aktuell 2015/669)

Tatsächlich handelt es sich beim „Islamischen Staat“, der für die
Anschläge verantwortlich gemacht wird und sich wohl auch zu ihnen
bekannt hat, aber völkerrechtlich keineswegs um einen Staat. Aus diesem
Grund handelt es sich bei den Anschlägen auch nicht um kriegerische
Akte, sondern um kriminelle Handlungen. Dies ist insofern alles andere
als irrelevant, als nach gängiger Auffassung völkerrechtlich auf einen
bewaffneten Angriff auf Grundlage von Artikel 51 der UN-Charta auch
militärisch reagiert werden kann, nicht aber auf einen kriminellen
Terroranschlag.

Das EU-Rechtsgebäude hält vor allem zwei Artikel parat, die mögliche
Reaktionen auf Gewaltakte gegen ein Mitgliedsland zum Inhalt haben.
Einmal besagte Beistandsklausel des EU-Vertrages und andererseits die
sogenannte „Solidaritätsklausel“ nach Artikel 222 des „Vertrages über
die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV). Terroranschläge fallen
– eigentlich – explizit in den Bereich der Solidaritätsklausel, die vor
allem auf die Option abzielt, unter verschiedensten Umständen Militär im
EU-Inland einsetzen zu können. Ungeachtet dessen berief sich Frankreich
dennoch auf die Beistandsklausel, womit augenscheinlich unterstrichen
werden sollte, dass es um eine Unterstützung französischer
Militäraktionen im Ausland gehen soll.

Dies legt zumindest der in der Beistandsklausel enthaltene Begriff des
„bewaffneten Angriffs“ fast zwingend nahe, wie etwa auch das
Nachrichtenportal euractiv (20.11.2015) ausführt: „Mit den hohen
militärischen Ambitionen, die Frankreich nach wie vor für den Kontinent
und für die EU als globalen Sicherheitsakteur verfolgt, ist auch zu
erklären, dass sich Staatspräsident François Hollande für ein Instrument
der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und nicht für die
Solidaritätsklausel des Vertrags von Lissabon (Artikel 222 Vertrag über
die Arbeitsweise der EU) entschied. Während sich die Beistandsklausel
auf einen ‚bewaffneten Angriff auf das Hoheitsgebiet eines
Mitgliedstaats‘ bezieht, greift die Solidaritätsklausel im Falle eines
Terroranschlags und wäre demnach eigentlich die passendere Option (so
ist durchaus umstritten, ob es sich bei den Pariser Anschlägen um einen
bewaffneten Angriff im völkerrechtlichen Sinne handelt). Dass Frankreich
dennoch auf die Beistandsklausel zurückgreift, die im Übrigen ein
bilateraler Mechanismus ist, der die europäischen Institutionen
weitgehend außen vor lässt, weist schon in die Richtung der Wünsche, die
Paris damit verbindet.“

Mit ihrer Entscheidung, der Aktivierung der Beistandsklausel
zuzustimmen, schlossen sich die EU-Mitglieder also faktisch der
französischen Interpretation an, bei den Anschlägen habe es sich um
Kriegsakte gehandelt. So problematisch dies an sich schon ist, folgt
hieraus aber trotzdem noch lange nicht, sich nun umfangreich militärisch
betätigen zu müssen.


Militärische Beistandspflicht?

Mögliche französische Motive, sich auf die Beistandsklausel zu berufen
und nicht etwa auf die Beistandsverpflichtung nach Artikel 5 des
NATO-Vertrages, gibt es mehrere. Inwieweit die häufig genannte Sorge
eine Rolle gespielt haben könnte, eine Einbeziehung der NATO werde die
Einbeziehung Russlands in eine Anti-IS-Koalition erschweren, hier
wesentlich war, ist nur schwer zu beurteilen. Sicher eine Rolle gespielt
haben dürfte das traditionelle französische Interesse an einer Stärkung
der militärischen EU-Strukturen gegen die von den USA dominierte NATO:
„Frankreich hat seine Partner mit der Reaktion auf die Terroranschläge
in Paris überrascht. Es bittet nicht die Nato, sondern die Europäische
Union um Beistand. Die Vereinten Nationen sollen mit einer Resolution
nach Kapitel VII ihrer Charta auch ein militärisches Vorgehen billigen.
Das französische Vorgehen hat strategische Bedeutung.“ (taz, 17.11.2015)

Gleichzeitig ist es offensichtlich, dass Frankreich die Reaktionen auf
die Anschläge nicht allein schultern will – oder womöglich auch kann. So
war die Aktivierung der Beistandsklausel aus Sicht von Björn Müller
angesichts der militärischen Realitäten eine Notwendigkeit, nachdem
Paris augenscheinlich nicht auf die NATO zurückgreifen wollte: „Die
Terroranschläge in Paris zeigen Frankreich als gescheiterte
Militärmacht. Der Anspruch, militärisch eine eigenständige Großmacht zu
sein, ist nicht mehr haltbar. […] Mit seinem Beistandsgesuch an die
EU-Partner gesteht Frankreich de facto ein, dass es, aus eigener Kraft,
zu einem substanziellen militärischen Vorgehen gegen den IS, nicht in
der Lage ist.“ (Offiziere.ch, 20.11.2015)

Jedenfalls ließ Frankreich wenig Zweifel aufkommen, dass es auf
Grundlage der Beistandsklausel auch und gerade eine militärische
Unterstützung erwartet. Dabei sind eine Reihe von Optionen im Gespräch,
die von der direkten Beteiligung an Bombardierungen des IS über
„Kompensationsleistungen“ durch die Aufstockung anderer
Einsatzkontingente zur Entlastung Frankreichs bis hin zu logistischer
Unterstützung reichen. Entscheidend ist, dass in der aktuellen Debatte
die Beistandsklausel nur allzu häufig in eine Art militärische
Beistandsverpflichtung uminterpretiert wird, wenn etwa euractiv
(20.11.2015) schreibt: „Klar ist: Wenn die europäische Beistandsklausel
nicht toter Buchstabe sein soll, muss sich die rhetorische Solidarität
der EU-Partner auch in einer Solidarität der Tat niederschlagen.“

Zwingend leiten sich aber militärische Unterstützungsmaßnahmen
keineswegs aus der Beistandsklausel ab. So finden die EU-Institutionen
darin ohnehin keinerlei Erwähnung, alles muss demzufolge in bilateralen
Verhandlungen mit Paris besprochen werden. Und hier ist die Formulierung
in Artikel 42 (7) EUV, die Mitgliedsländer würden einem angegriffenen
EU-Land „alle in ihrer Macht stehende Hilfe“ zukommen lassen, zwar
tatsächlich konkreter als die im NATO-Vertrag enthaltene
Beistandsverpflichtung.[1] Sie lässt allerdings mehr als genug
Spielraum, um frei das Ausmaß der eigenen Unterstützungsleistungen
wählen zu können. Vor allem die Passage, die Beistandsklausel lasse den
„besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik
bestimmter Mitgliedstaaten unberührt“, eröffnet gerade Deutschland alle
Optionen, militärische Unterstützungsforderungen rundweg abzulehnen. So
bezieht sich diese Aussage nicht nur auf die neutralen EU-Länder,
sondern sie schließt beispielsweise auch den deutschen
Parlamentsvorbehalt ein. Oder anders formuliert: Die deutschen
Abgeordneten haben weiterhin jedes „Recht“, einen Militäreinsatz, den
sie für unsinnig halten, abzulehnen. Nur machen sie von diesem Recht nur
allzu selten Gebrauch und aktuell hat es eher den Anschein, als liefere
die Beistandsklausel sogar eine Pseudolegitimation zur Ausweitung der
militärischen Aktivitäten.


Deutsche Kompensationsleistungen

Die Bevölkerung spricht sich laut Deutschland-Trend vom 20. November
2015 mit 52% mehrheitlich gegen eine deutsche Beteiligung an Angriffen
auf den Islamischen Staat aus (dafür: 41%). Aktuell hat es den Anschein,
dass sich auch die Bundesregierung nicht zu einem solchen Schritt
entscheiden dürfte. Was allerdings unter Verweis auf die
Beistandsklausel und die Notwendigkeit, Frankreich nicht im Regen stehen
lassen zu dürfen ins Spiel gebracht wird, sind eine Reihe anderer
militärischer Kompensationsleistungen.

Berichten zufolge sei in diesem Zusammenhang eine deutliche Erhöhung des
deutschen Mali-Kontingentes von der Bundesregierung bereits beschlossen
worden. Die bisherige Obergrenze von 150 Soldaten, die zur Unterstützung
der UN-Truppen durch Lufttransport und Luftbetankung überwiegend im
Senegal stationiert waren, soll auf 650 Soldaten angehoben werden und
zukünftig vor allem Bodentruppen direkt in Mali umfassen, so heißt es.
Diese Entscheidung sei, ebenso wie die scheinbar ebenfalls bereits
eingetütete Erhöhung der Bundeswehr-Soldaten, die im Irak Peschmerga
ausbilden, sie soll von 100 auf 150 steigen, lediglich noch von einer
Zustimmung des Bundestags abhängig (taz, 25.11.2015). Und der wird –
ohnehin unter dem Eindruck, Frankreich militärisch „beistehen“ zu müssen
– seine Zustimmung wohl kaum versagen.

Worauf allerdings u.a. Thomas Wiegold von Augengeradeaus hinweist, sind
die Pläne für die Kontingentserhöhungen in Mali und im Irak älter als
die Anschläge von Paris. Inwieweit sie also mit der nun vorgebrachten
Begründung, Frankreich helfen zu wollen, zusammenhängen, ist doch
fraglich: „Die deutschen Pläne für den MINUSMA-Einsatz sahen vermutlich
am 12. November nachmittags, also vor den Anschlägen in Paris, nicht so
viel anders aus als am heutigen 25. November. Weil sie mit einer
Entlastung Frankreichs nur sehr, sehr mittelbar zu tun haben. Das
Gleiche gilt übrigens auch für die angekündigte Aufstockung der
Ausbildung kurdischer Kämpfer im Nordirak. Da ist jede Ausweitung des
Kampfes gegen ISIS auch sehr mittelbar eine Unterstützung Frankreichs.
Aber die wäre vermutlich auch ohne die Anschläge in Paris passiert.“

Hieraus wird ersichtlich, wie die Beistandsklausel in Deutschland
letztlich dazu dient, die Ausweitung längst beschlossener militärischer
Aktivitäten zu legitimieren. Zwingend ist hieran überhaupt nichts, außer
die moralische Verpflichtung der Abgeordneten, dieses Spiel nicht
mitzumachen. Dies dürfte allerdings wohl – einmal mehr  – zu viel
verlangt sein. Und dies ist umso problematischer, als der jetzige Umgang
mit der Beistandsklausel als Präzedenzfall für künftige Fälle dienen dürfte.


Anmerkung

[1] Konkret heißt es in Artikel 5 des NATO-Vertrages: „Die Parteien
vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von
ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle
angesehen wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen
bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der
Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder
kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die
angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich
für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen,
einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für
erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets
wiederherzustellen und zu erhalten.


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