From imi at imi-online.de Fri Jul 25 15:21:20 2008 From: imi at imi-online.de (Informationsstelle Militarisierung) Date: Fri, 25 Jul 2008 15:21:20 +0200 Subject: [IMI-List] [0290] EUFOR-Einsatz im Tschad / EU-Sicherheitsforschung Message-ID: <4889D350.7080906@imi-online.de> ---------------------------------------------------------- Online-Zeitschrift "IMI-List" Nummer 0290 .......... 12. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563 Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. Red.: IMI / Christoph Marischka / Jürgen Wagner Abo (kostenlos)........ IMI-List-subscribe at yahoogroups.com Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste.php3 ---------------------------------------------------------- Liebe Freundinnen und Freunde, in dieser IMI-List finden sich 1. Hinweise zum Umzug der IMI-List; 2. Ein Link auf die Sonderseite der IMI zum irischen Nein zum Vertrag von Lissabon; 3. Den Hinweis auf eine Studie zum EU-Militäreinsatz im Tschad und wie dieser die Region destabilisiert; 4. Eine Analyse zur EU-Sicherheitsforschung als Subventionsprogramm für die Rüstungsindustrie. 1. Umzug der IMI-List Wir waren zunehmend unzufrieden insbesondere mit der Werbung und den Anmeldeformalitäten der IMI-List, deshalb haben wir nun den Anbieter gewechselt. Wir hoffen, dass dabei keine Probleme oder Unannehmlichkeiten für die AbonnentInnen entstehen. Falls doch, bitten wir um Mitteilung und entschuldigen uns schon einmal im Voraus. 2. Sonderseite zum irischen Nein zum Vertrag von Lissabon Wir haben eine Sonderseite zum irischen Referendum über den Vertrag von Lissabon und die Bemühungen der EU-Eliten, den Vertrag dennoch umzusetzen, eingerichtet. Sie findet sich unter: http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1790 3. EUFOR Tschad Mittlerweile haben sich sowohl die irische, als auch die polnische Militärführung dafür ausgesprochen, den EU-Militäreinsatz im Tschad und der Zentralafrikanischen Republik (EUFOR) zu verlängern. Dabei sprechen selbst EU-nahe Thinktanks davon, dass die EUFOR immer mehr selbst zum Problem in der Region wird. Die Fakten sprechen für sich, die IMI hat diese in einer Studie zusammengefasst: IMI-Studie 2008/06 Tschad: Die EUFOR als Brandbeschleuniger http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1795 http://www.imi-online.de/download/CM-Chad-Studie-06-08.pdf 22.7.2008, Christoph Marischka 4. Analyse zur EU-Sicherheitsforschung und den ersten geförderten Projekten Der Albtraum Sicherheit Europäische Sicherheitsforschung als Subventionsprogramm für die Rüstungsindustrie http://www.heise.de/tp/r4/artikel/28/28390/1.html 25.07.2008, Christoph Marischka Der Albtraum Sicherheit Europäische Sicherheitsforschung als Subventionsprogramm für die Rüstungsindustrie "Die Entscheidung, ein EU-Programm zur Sicherheitsforschung (ESRP) einzurichten, wurde von der Europäischen Kommission 2003 informell gefällt. Es gab keinen offiziellen Vorschlag für einen Rechtsakt, wie es sonst bei der Schaffung von Budgets üblich ist, und somit unterblieb auch jede Beratung mit dem Europäischen und den nationalen Parlamenten in dieser Angelegenheit? Die Europäische Kommission beschloss, eine "Group of Personalities einzuberufen, welche die Entwicklung der europäischen Sicherheitsforschung begleiten sollte". So beschrieb Ben Hayes die Entstehung der Europäischen Sicherheitsforschung in seiner Studie Arming Big Brother. In dieser wird deutlich, wie sich die Rüstungskonzerne intensiv bemühten, die Sicherheitsagenda der EU zu beeinflussen und eine Förderung durch die EU zu forcieren, um für eine "nachhaltige und konkurrenzfähige technologische und industrielle Basis" der europäischen Rüstung Sorge zu tragen. Die EU ihrerseits begrüßt im Bereich der Sicherheitspolitik so genannte Public-Private-Partnerships (PPPs), also die massive Einflussnahme der Wirtschaft auf die Politik und bezieht die Anbieter von Sicherheitsdienstleistungen und -technologien, ebenso wie deren private Nachfrager, gerne in ihre Politikgestaltung ein. Das Resultat dieser Kooperation ist eine Vorstellung von Sicherheit, die lediglich den Interessen großer Konzerne dient und sich in Zeiten asymmetrischer Kriegsführung und fehlender militärischer Gegner v.a. gegen ImmigrantInnen und die eigene Bevölkerung richtet. Die "Group of Personalities" (GoP) bestand beispielsweise aus vier Vertretern der EU-Kommission und 16 Vertretern der Industrie - darunter zwölf der großen europäischen Rüstungskonzerne EADS, Thales, Diehl, BAE Systems, Finmeccanica und INDRA sowie Mitarbeitern der Telekommunikationsanbieter Siemens und Ericcson. Neben acht Mitgliedern des Europäischen Parlaments waren noch sieben weitere Institutionen vertreten, darunter neben einigen Forschungsinstituten auch das griechische und das belgische Verteidigungsministerium. Im Februar 2004 machte sich die Kommission die Vorschläge der GoP zu eigen und beschloss, 65 Mio. Euro für "Vorbereitungsmaßnahmen zur Förderung des Europäischen technologischen Potentials in der Sicherheitsforschung" zwischen 2004 und 2006 bereit zu stellen. 30 Mio. Euro hierfür flossen in 24 Projekte, Marktanalysen und Machbarkeitsstudien, von denen 17 von Rüstungsunternehmen geleitet wurden. Die GoP definierte die Schwerpunkte der Sicherheitsforschung, die im 7. EU-Forschungsrahmenprogramm (RFP7) für die Jahre 2007 bis 2013 unter dem Posten "Sicherheit und Weltraum" (insgesamt 570 Mio. Euro) mit jährlich 235 Mio. Euro gefördert werden sollen. Im Anschluss wurden nationale [extern] Kontaktstellen für Sicherheitsforschung benannt, die gemeinsam mit den jeweiligen Forschungsministerien sehr breit gestreut mögliche Antragsteller informierten. Dabei griffen sie auf private und öffentliche Institutionen zurück, welche zuvor einen Überblick über die Rüstungs- und Sicherheitsunternehmen boten. In Deutschland wurden vom Bundesforschungsministerium eine Karte und eine schriftliche Zusammenfassung sowie vom Verteidigungsministerium eine Broschüre über mögliche Projektpartner angefertigt. Die Gutachter Mittlerweile sind die ersten zwölf Projekte zur Sicherheitsforschung im Rahmen des RFP7 bewilligt worden. Um diese auszuwählen, wurde eigens ein Gutachterkreis für den Bereich Sicherheit eingerichtet, bestehend aus 143 Personen, von denen lediglich 38 Frauen waren (für den nächsten Gutachterkreis wird ein Frauenanteil von 40% angestrebt). Die meisten GutachterInnen stammten aus privaten Unternehmen wie etwa dem Hersteller für Kleinwaffen FN Herstal oder Forschungseinrichtungen, die staatlich bezuschusst werden. Von den öffentlichen Einrichtungen, die vertreten waren, kommen ebenfalls viele aus dem Bereich der Rüstung ? vertreten waren die Verteidigungsministerien mehrerer Länder und staatliche Ämter, die mit der Strategieplanung und Ausrüstung der Streitkräfte beauftragt sind, wie etwas das deutsche Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung. Die EU war insbesondere durch 4 Mitglieder der EU-Rüstungsagentur und einen Vertreter der EU-Grenzschutzagentur Frontex beteiligt. Selbst die NATO hat über einen Mitarbeiter des George C. Marshall Centers in Garmisch-Partenkirchen Einfluss auf die Bewilligung der Projekte nehmen können. An "zivilen" Einrichtungen waren neben zahlreichen Beratungsfirmen und Universitäten v.a. Polizeibehörden und Innenministerien sowie einige Forschungsministerien vertreten. Deutschland ist mit 16 GutachterInnen am stärksten präsent, gefolgt von Italien mit zwölf und Frankreich und Großbritannien mit jeweils 10. Außereuropäische Einrichtungen sind lediglich durch drei türkische und vier israelische GutachterInnen vertreten. Erste Recherchen zum Gutachterkreis haben zweierlei offenbart: Erstens ist es im Bereich der Sicherheitsforschung schwierig, zwischen öffentlichen und privaten Institutionen zu unterscheiden, da PPPs in diesem Bereich weit vorangeschritten sind. So finden sich Firmen wie die MoD Electronics, Logistics and Property Management Cooperation, die sich vollständig oder teilweise im Besitz der Verteidigungsministerien befinden, oder Forschungsgesellschaften, die nur durch staatliche Aufträge entstanden sind oder fortbestehen können. Zweitens haben sich mittlerweile zahlreiche Unternehmen gegründet, deren vorrangige Dienstleistung darin besteht, Lobbyarbeit für die Rüstungsindustrie zu betreiben, die Sicherheitsunternehmen zu vernetzen oder die Umsetzung des RFP7 zu befördern, also die gemeinsame Sicherheitsagenda voranzutreiben. Science Fiction wird Realität Aufschluss über diese Sicherheitsagenda liefern die ersten zwölf bewilligten Projekte. Offensichtlich eingeflossen sind dabei die Empfehlungen der Frontex-Agentur zum Einsatz von Drohnen an den Außengrenzen und zu einer besseren Vernetzung der nationalen Überwachungstechnologien, die zur Kontrolle der Küsten eingesetzt werden. So wird am umfangreichsten das Projekt TALOS mit 12.9 Mio. Euro unterstützt, das unbemannte Flugkörper und Fahrzeuge entwickelt, welch die Grenze überwachen sollen. Die Fördersumme bezieht sich dabei v.a. auf die Fahrzeuge, die "zugleich als Kontrollposten und first reaction patrols dienen sollen. Sie informieren den Control and Command Centre sowie den Eindringling über seine/ihre Lage und unternehmen nahezu autonom unter der Aufsicht von Grenzschutzbeamten angemessene Maßnahmen, um die illegale Handlung zu unterbinden." 4.5 Mio. fließen hingegen in das Projekt SECTRONIC, mit dem Schiffahrtsrouten überwacht werden, indem Daten von Satelliten, Drohnen und Aufklärungsflugzeugen sowie Sensoren auf See wie an der Küste zusammengeführt werden. Mehr als 3.5 Mio. Euro erhält das Projekt AMASS, das mit Bojen auf See ebenfalls die Gewässer überwachen soll. Am dahinter stehenden Konsortium unter der Leitung der Carl Zeiss Optronics GmbH sind neben dem Fraunhofer Institut für Informations- und Datenverarbeitung und der deutschen Firma IQ Wireless die Streitkräfte Maltas und die Universität Las Palmas auf Grand Canaria beteiligt. Neben der Bekämpfung des Schmuggels soll es auch bei diesem Projekt ganz offiziell um illegale Migration gehen. Ein drittes Projekt zur Überwachung der See und der Vernetzung der hiermit beauftragten Behörden unter der Leitung von Thales wird mit knapp 700.000 Euro unterstützt. Auch das mit 2.5 Mio. Euro geförderte Projekt COPE zielt unter Beteiligung von BAE Systems darauf ab, die Zusammenarbeit zwischen militärischen, polizeilichen und zivilen Behörden dadurch zu verbessern, dass sie international Bilddaten, beispielsweise von Satelliten und Drohnen, besser austauschen können. Mit 2.3 Mio. Euro wird IDETECT 4ALL dabei unterstützt, ein kostengünstiges Gerät zu entwickeln, eine Art Bewegungsmelder, mit dem so genannte Kritische Infrastrukturen weitläufig überwacht werden können. Mehrere der restlichen geförderten Projekte mit einem Volumen von unter 3 Mio. Euro dienen der Vernetzung der Nachfrager und Anbieter von Sicherheitstechnologie und der nationalen Forschungsförderung. Nur drei der zwölf Projekte mit einer Gesamtfördersumme von weniger als 5.5 Mio. Euro können ihrer Anlage nach auch der Sicherheit breiter Bevölkerungsteile dienen. Im Rahmen des Projekts CRISCOMSCORE soll ein Leitfaden für die Mitarbeiter in Behörden für die Kommunikation im Krisenfall entstehen, also Richtlinien für den Umgang mit Presse, Angehörigen, Überlebenden etc. SICMA soll medizinischem Personal auf der Grundlage von Simulationen computergestützte Entscheidungshilfen bieten und BESECU beinhaltet eine "interkulturelle" Studie in sieben europäischen Ländern zum Verhalten der Bevölkerung in Krisenfällen, die Hilfskräften und Architekten hilfreich sein sollen. Zahlreiche der rund 150 begünstigten Unternehmen, Institute und Behörden waren im Gutachterkreis vertreten. Auch unter den geförderten außereuropäischen Unternehmen befinden sich fast nur israelische und türkische Rüstungsfirmen. Videoüberwachung von Menschenansammlungen im Hinblick auf verdächtigtes Verhalten Im September 2007 hat die Europäische Kommission ein weiteres informelles Gremium ins Leben gerufen, um die Sicherheitsforschung und damit die Rüstungsindustrie zu fördern. Das Europäische Forum für Sicherheitsforschung und Innovation (ESRIF). In der Pressemitteilung der Kommission zu dessen Gründung heißt es: "Das ESRIF ist eine informelle, beratende Plattform, an der die Interessengruppen aus dem öffentlichen und dem privaten Sektor auf freiwilliger Basis teilnehmen. Diese Interessengruppen sind die Industrie, Forschungseinrichtungen, öffentliche und private Endnutzer, Organisationen der Zivilgesellschaft, EU-Institutionen (insbesondere das Europäische Parlament) und europäische Organisationen. Ein öffentlich-privater Dialog im Bereich der Sicherheitsforschung ist von zentraler Bedeutung für eine höhere Sicherheit der Infrastrukturen, den Kampf gegen das organisierte Verbrechen und den Terrorismus, für die Wiederherstellung der Sicherheit in Krisenzeiten sowie für eine Verbesserung der Grenzüberwachung und -kontrolle. Bis Ende 2009 soll das ESRIF eine gemeinsame Agenda für Sicherheitsforschung aufstellen, die gegebenenfalls Empfehlungen an die Behörden enthalten wird. Das Forum wird für eine begrenzte Zeit, bis Ende 2009, eingesetzt. Die Europäische Union hat auf den Bedarf an mehr Sicherheitsforschung mit zwei auf sieben Jahre ausgelegten Rahmenprogrammen im Sicherheitsbereich reagiert, die mit insgesamt 2,135 Mrd. EUR für den Zeitraum 2007-2013 ausgestattet wurden. Dabei handelt es sich um das 7. Forschungsrahmenprogramm, in dem auch die Sicherheit ein Thema ist, und um das EU-Rahmenprogramm ´Sicherheit und Schutz der Freiheitsrechte.´ Die Kommission hat kürzlich grünes Licht für neue, spezifische Sicherheitsforschungsprojekte in folgenden Bereichen gegeben: optische Technologien zur Kennzeichnung von Sprengstoffen, Aufspüren von Sprengstoffen in städtischem Umfeld, Videoüberwachung von Menschenansammlungen im Hinblick auf verdächtigtes Verhalten sowie Terrorismusabwehr bei Großveranstaltungen." Auch im ESRIF haben die Männer das Sagen: Den Vorsitz führt der ehemalige EU-Koordinator für Terrorismusbekämpfung, Gijs de Vries, stellvertretende Vorsitzende sind BKA-Vizepräsident Jürgen Stock und Giancarlo Grasso von der italienischen Rüstungsfirma Finmeccanica. Hier können Betreiber Kritischer Infrastrukturen, Anbieter von Sicherheitstechnologie, Rüstungsfirmen und andere Wirtschaftsunternehmen gemeinsam mit Sicherheitspolitikern und Praktikern Bedrohungsszenarien entwickeln und ihre "Lösungen" anbieten, für welche die EU dann Geld bereitstellt. Mit der Sicherheit der Bürger hat dies nicht viel zu tun und eine kritische Evaluation der Risiken neuer Technologien wird bislang nicht gefördert ? noch nicht einmal in der Funktion eines Feigenblattes. Drohnen beispielsweise neigen um ein vielfaches häufiger zu Abstürzen als bemannte Flugzeuge. Dabei können Menschen verletzt und getötet werden. Wichtiger scheint aber zu sein, dass [extern] Kritische Infrastruktur, Problemviertel und Grenzen kostengünstig überwacht werden. Kostengünstig meint in diesem Falle Kapital- und nicht Arbeitsintensiv. Auch die Rolle der Bürger- und Menschenrechte wird nur dem Namen nach beachtet. So setzt sich das oben angesprochene "Rahmenprogramm Sicherheit und Schutz der Freiheitsrechte" einem [extern] Entwurf der Kommission nach folgendermaßen zusammen: "Das Rahmenprogramm "Sicherheit und Schutz der Freiheitsrechte" soll für den Zeitraum 2007-2013 mit 745 Mio. EUR (zu jeweiligen Preisen) ausgestattet werden. Davon sind 597,6 Mio. ? für das Programm ´Kriminalprävention und Kriminalitätsbekämpfung´ und 137,4 Mio. ? für das Programm ´Prävention, Abwehrbereitschaft und Folgenbewältigung im Zusammenhang mit Terrorakten´ vorgesehen. Innerhalb dieser Mittelausstattung sind 10 Mio. EUR für Verwaltungsausgaben hinzugefügt." Christoph Marischka Belege und weiterführende Links finden sich unter: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/28/28390/1.html From imi at imi-online.de Wed Aug 6 17:36:32 2008 From: imi at imi-online.de (Informationsstelle Militarisierung) Date: Wed, 06 Aug 2008 17:36:32 +0200 Subject: [IMI-List] =?windows-1252?q?=5B0291=5D_Dossier=3A_Sozialabbau_+_M?= =?windows-1252?q?ilitarisierung_/_Neuer_EU-Flyer_/_Milit=E4r_und_EM?= Message-ID: <4899C500.1070800@imi-online.de> ---------------------------------------------------------- Online-Zeitschrift "IMI-List" Nummer 0291 .......... 12. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563 Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. Red.: IMI / Christoph Marischka / Jürgen Wagner Abo (kostenlos)........ IMI-List-subscribe at yahoogroups.com Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste.php3 ---------------------------------------------------------- Liebe Freundinnen und Freunde, in dieser IMI-List finden sich 1) der Hinweis auf ein neues Dossier: "Sozialabbau und Rekrutierungsstrategien der Bundeswehr? 2) Ein neuer Flyer: "Irland: Nein heißt Nein! Den Militärvertrag von Lissabon endgültig beerdigen!" 3) Ein Text zum Einsatz von Soldaten bei der Fußball-EM. 1) Dossier: Sozialabbau und Rekrutierungsstrategien der Bundeswehr In Zusammenarbeit mit Bundeswehr Wegtreten hat die IMI soeben das Dossier Nr. 58 der Zeitschrift Wissenschaft und Frieden mit dem Titel "Sozialabbau und Rekrutierungsstrategien der Bundeswehr" veröffentlicht. Das Thema "Sozialabbau und Militarisierung", beschäftigt uns schon seit längerer Zeit. Dabei haben sind wir insbesondere der Frage nachgegangen, wie sich die Bundeswehr die soziale Situation Jugendlicher zu Nutze macht, um an neue Rekruten zu kommen und wie die Arbeitsagenturen dabei mit dem Militär kollaborieren. Nun haben wir einige der bislang dazu erschienen Texte erweitert, aktualisiert und in einer einheitlichen Publikation veröffentlicht. Das 20seitige Dossier (A4) kann zum Preis von 2 Euro das Stück (plus Porto) unter imi at imi-online.de bestellt werden oder unter folgender Adresse (mit anderem Layout) heruntergeladen werden: http://www.imi-online.de/download/Militarisierung-und-Sozialabbau.pdf 2) Neuer Flyer zum Militärvertrag von Lissabon nach dem irischen NEIN Trotz des irischen NEIN beim Referendum am 12. Juni soll der Vertrag von Lissabon unter allen Umständen durchgeboxt werden ? selbst ein Rausschmiss aus der Europäischen Union wird Irland offen angedroht. Nun ist es wichtig, das irische NEIN zu verteidigen und sich mit der irischen Ablehnung zu solidarisieren. Soeben haben wir ein neues Flugblatt hierfür erstellt. Es kann unter folgender Adresse heruntergeladen werden: http://www.imi-online.de/download/euflyer2008-irland.pdf Der Flyer kann auch unter imi at imi-online.de gegen Porto und Verpackung bestellt werden. 3) Text zum Einsatz von Soldaten bei der Fußball-EM. IMI-Analyse 2008/026 Sicher ins Finale Der Einsatz von Soldaten bei der Fußball-EM http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1803 6.8.2008, Uwe Reinecke Das österreichische Bundesheer gab sich im April für die UEFA-EM im Juni 2008 das Motto ?Sicher ins Finale.? Bekanntlich schied Österreich als schlechtester Gastgeber der EM-Geschichte bereits in der Vorrunde aus und verfehlte die Finalteilnahme, aber militärisch betrachtet, bedeutet die Fußball-EM ein Sieg der verordneten ?Sicherheit.? Auch in der Schweiz, dem zweiten Gastgeber, setzte schon lange vor Beginn der EM eine Ausweitung der Armeebefugnisse für Einsätze im Innern ein. Sowohl in Österreich als auch in der Schweiz wurde dabei ein Schritt der Sicherheitspolitik nachvollzogen, den die meisten EU-Staaten bereits hinter sich haben. Erfahrungen aus Deutschland während der FIFA-WM 2006 wurden aufgegriffen. Wenn es auch in den betroffenen Staaten Kritik von unterschiedlichsten Seiten gab, bekamen und bekommen die Armeen Befugnisse und Waffen zur Verfügung gestellt, die nicht der Landesverteidigung gegen äußere Angreifer, sondern allein dem Zweck der ?Aufstandsbekämpfung? gegen im Innern des eigenen Staates entdeckte Feinde dienen. Kritik daran von unerwarteter Seite sprach Jean Pierre Monti, der Generalsekretär des Verbandes Schweizerischer Polizeibeamter (VSPB), bereits im November 2002 aus: ?Es kann nicht angehen, dass Kräfte mit kombattantem Status zivile polizeiliche Aufgaben übernehmen und die Polizei belasten, nur weil die Landesregierung im Streit um die innere Sicherheit offenbar nicht mehr den politischen Willen hat, eine klare Trennung zwischen dem Gewaltenmonopol von Polizei und Militär aufrechtzuerhalten. Der VSPB verlangt vom Bundesrat, dass der polizeiliche Bereich der inneren Sicherheit nach wie vor von Polizistinnen und Polizisten wahrgenommen wird, die dafür ausgebildet sind und nebst den beruflichen auch über entsprechende soziale Kompetenzen verfügen.? Diese Kritik wurde von den Regierungen schnell verworfen und nicht weiter beachtet. Übungen wie ?Wachhund 99? im Jahr 1999 in Österreich und reale Einsätze der Armee zur Erlangung von Erfahrungen, wie während der FIFA-WM 2006 in Deutschland, dienen dagegen der ?Verbesserung der Einsatzmöglichkeiten? von Armeen im Innern gegen eigene Staatsbürger und damit der Gewöhnung an militärische Einsätze im zivilen Leben. Grundlagen Während das deutsche Grundgesetz der Bundeswehr im Art. 87a einem Einsatz im Innern strikte Grenzen setzt, gibt das Österreichische Verfassungsgesetz dem Militär diesbezüglich mehr Freiheiten (Art. 79b VG): (1) Dem Bundesheer obliegt die militärische Landesverteidigung. Es ist nach den Grundsätzen eines Milizsystems einzurichten (2) Das Bundesheer ist, soweit die gesetzmäßige zivile Gewalt seine Mitwirkung in Anspruch nimmt, ferner bestimmt 1. auch über den Bereich der militärischen Landesverteidigung hinaus a) zum Schutz der verfassungsmäßigen Einrichtungen und ihrer Handlungsfähigkeit sowie der demokratischen Freiheiten der Einwohner b) zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit im Inneren überhaupt; 2. zur Hilfeleistung bei Elementarereignissen und Unglücksfällen außergewöhnlichen Umfanges. Die Schweiz benennt in ihrer Bundesverfassung der österreichischen sehr ähnliche Befugnisse der Armee (Art. 58): (1) Die Schweiz hat eine Armee. Diese ist grundsätzlich nach dem Milizprinzip organisiert. (2) Die Armee dient der Kriegsverhinderung und trägt bei zur Erhaltung des Friedens; sie verteidigt das Land und seine Bevölkerung. Sie unterstützt die zivilen Behörden bei der Abwehr schwerwiegender Bedrohungen der inneren Sicherheit und bei der Bewältigung anderer ausserordentlicher Lagen. Das Gesetz kann weitere Aufgaben vorsehen. Im schweizerischen Militärgesetz von 1995 (§§ 67, 70, 92) und in der Verordnung über Polizeibefugnisse der Armee von 1994 (Art. 4) wurde detailliert geregelt, dass zum Erhalt der "Inneren Sicherheit" der Armee verschiedene Maßnahmen wie Passkontrollen, Vernehmungen, Durchsuchung der mitgebrachten Gegenstände, Platzverweise und Festnahmen bis hin zum Waffengebrauch erlaubt sind. Diese gesetzlichen Regelungen wurden im Zusammenhang mit den Weltwirtschaftsforen in Davos eingeführt. Die Erfahrungen der Schweizer Armee im Bereich der ?Inneren Sicherheit? konnten durch die Erfahrungen der deutschen Polizeien und der Bundeswehr während der FIFA-WM 2006 ergänzt werden. Denn Fußballfans sind nicht per se systemkritisch und wollen auch nicht protestieren. Sie wollen in erster Linie feiern und gemeinsam Spaß haben. Das gilt es staatlich zu kanalisieren. Polizei und Bundeswehr haben vor zwei Jahren ?gut zusammen gearbeitet,? wie in einer Mitteilung des deutschen Bundesinnenministeriums bilanziert wurde. Etwa 2.000 Soldaten waren damals in die Stadien der WM (in ziviler Kleidung) kommandiert worden. Auch kam die NATO mit ihren AWACS-Kriegsfliegern zum Einsatz. Das sollte sich nun alles wiederholen. Der kooperative Einsatz im Innern Schon lange vor Beginn der EM wurden zur Koordination mehr oder weniger regelmäßige Treffen der Organisatoren der EM mit Polizei- und Militärkräften organisiert. Vertreter der Polizeien und der Armeen Österreichs, der Schweiz und Deutschlands nahmen daran teil. Erfahrungsaustausch und gemeinsame Planung für die EM wurden als Ziele benannt. Konkret wurden dabei Amtshilfen abgesprochen. Dies geschah von der Öffentlichkeit fast unbemerkt, obwohl die Tatsache der Treffen nicht verheimlicht wurde. Einige Ergebnisse der Treffen wurden noch vor Beginn der EM veröffentlicht. Allerdings sind die Informationen über den finanziellen Aufwand und über die eingesetzte Ausrüstung in den Staaten unterschiedlich genau. So stellte die deutsche Bundeswehr im grenznahen Raum Kasernen zur Unterbringung von Kräften der Bundespolizei und/oder Sanitätsdiensten zur Verfügung (z.B. Prinz-Eugen-Kaserne München aber auch Liegenschaften in Kempten und Mühlheim). In Klagenfurt und Wien (Spielorte des DFB in der Vorrunde) sowie in Basel (Spielort des DFB im Viertel- und Halbfinale) war ein massives Aufgebot deutscher Polizei zu sehen. Die Bundeswehr war wohl in beiden Staaten nicht öffentlich aktiv. Allerdings stellte die Bundeswehr in Meßstetten (Zollernalbkreis/Ba-Wü) zwei Verbindungsoffiziere für den Polizei-Hubschraubereinsatz zur Verfügung. Ferner half die Bundeswehr beim Abgleich von Halterinformationen für KfZs und im taktischen Bereich im Radar- und Funkdienst während der EM. Davon und besonders von den Luftlageinformationen der Bundeswehr profitierten absprachegemäß auch entsprechende Stellen in Österreich und der Schweiz. Einsatzbeispiele Die NATO stellte wieder ihre AWACS-Kriegsflieger zur Überwachung des Luftraums zur Verfügung. In diesen Kriegsflugzeugen ?arbeiten? größtenteils Bundeswehr-Soldaten. In Österreich wurden von der Bundesregierung 3.000 Soldaten für den Einsatz im Innern abgestellt. 1,7 Millionen EUR wendete das Bundesheer auf, um den österreichischen Bundesländern finanziell zu helfen, die ?Sicherheit? zu gewährleisten (Presseeinlassung des Verteidigungsministers). Österreichs Armee trat hier besonders mit Helikoptern und Abfangjägern zur Überwachung des weiträumigen Überflugverbotes (zwei Stunden vor Spielbeginn bis ebenso lange nach Spielschluss) in Erscheinung. Nach Informationen des Verteidigungsministers Norbert Darabos kamen dabei zum Einsatz: Flugzeuge der Typen F-5E "Tiger" II, Eurofighter "Typhoon", Saab 105 Ö und Pilatus PC-7 "Turbo Trainer", Hubschrauber der Typen S-70 "Black Hawk", Bell OH-58 B "Kiowa", Augusta Bell 212 und Alouette III sowie das Radarsystem "Goldhaube". Das Militärkommando Kärnten hatte am ersten Spieltag in Klagenfurt nach eigenen Angaben 600 Soldaten im Einsatz: Krankenträger, Fernmeldespezialisten, Sanitätskräfte, Versorgungseinheiten, Fliegerkräfte und ABC-Abwehrkräfte (sic!) hielt das Militärkommando für die Sicherheit rund um die EM bereit und war damit (Zitat) ?auf jede Eventualität vorbereitet.? Mehrere Polizeieinheiten wurden in insgesamt vier Kärntner Kasernen untergebracht. Das Catering für diese Polizeikräfte und das Österreichische Rote Kreuz wurde durch das Bundesheer organisiert. Ähnlich war es an allen anderen Spielorten in Österreich. Da die österreichische Armee über keine unbemannten Drohnen zur Überwachung des Luftraums verfügt, übernahm die Schweizer Armee diese Aufgabe alleine. Kurz vor Beginn des Spiels Österreich gegen Deutschland überflogen zwei Abfangjäger (Länderkennung unklar, aber wahrscheinlich Österreich) die Millionenstadt Wien und das Ernst-Happel-Stadion. Der Sinn dieser Aktion konnte nicht geklärt werden, denn einen Luftzwischenfall (Angriff feindlicher Flugzeuge oder eine Flugzeugentführung), der den Start der Abfangjäger erforderlich gemacht hätte, gab es laut offizieller Presseeinlassung nicht. Der Schweizer Bundesrat hatte vor Beginn der EM bis zu 15.000 Soldaten für den Einsatz im Innern während des Fußballturniers bewilligt, die wohl doch nicht alle abgerufen wurden. Neben den bereits erwähnten Drohnen kamen an den Spielorten zahlreich Helikopter zur Überwachung der Menschenströme zum Einsatz und Abfangjäger zur großräumigen Luftraumüberwachung. Darüber hinaus wurden um die offiziellen Fanzonen und um die Stadien herum besondere ?Sicherheitszonen? eingerichtet, die das unbegründete Aussprechen von Platzverweisen und den Gebrauch polizeilicher sowie militärischer Gewalt gegen Privatpersonen erleichterten. Ferner wurden an allen Spielorten und Spieltagen jeweils 100 bis 150 Sanitätskräfte abgestellt. Fazit Der militärische Aufwand für die Durchführung der UEFA-EM war riesig und entsprach einer abstrusen Gefahrenprognose. So wurde - ohne die Quellen zu nennen - von österreichischen Sicherheitskräften in Klagenfurt behauptet, dass ?wir leider ganz andere Erkenntnisse über Gewalt haben. Auch bei der WM in Deutschland gab es viel Gewalt und alles wurde verschwiegen! Deswegen sind wir hier.? Zusätzlich wurde von Behörden und Polizei unter Mithilfe einer bereitwilligen Presse in Österreich ein Gewaltszenario entworfen, das ?600 zusätzliche Vergewaltigungen? während der EM erwarten ließ. So sei es jedenfalls bei der WM vor zwei Jahren gewesen (die Quelle für diese Behauptung wurde nicht genannt). Die derart erzeugte Gewaltangst und das daraus resultierende staatlich erwünschte ?Sicherheitsverlangen? der Bevölkerung bereiteten den Boden für diese massive Militärpräsenz ? auch wenn völlig unklar ist, was Soldaten etwa gegen Vergewaltigungen, die ja häufig eher abseits des Geschehens stattfinden, für eine Wirksamkeit haben. Das zumeist besonnene Verhalten der Fans und der anderen Touristen ließen Polizei und Armee aber wenig Möglichkeiten, die vorher herbei geredeten Gewalttaten auch zu bekämpfen. Die Fußball-EM wurde von den drei Regierungen Österreichs, der Schweiz und Deutschlands genutzt, das Militärische wieder einmal als normal und notwendig erscheinen zu lassen. Dies scheint offenbar auch gelungen zu sein. Außer ein paar Fan-Organisationen, die unter dem Motto ?Fußballfans sind keine Verbrecher? sich zu wehren versuchten, gab es wenig Protest gegen den massiven Polizei- und Armee-Einsatz während der EM. Ganz im Gegenteil, es wurde meistens Verständnis geäußert und zaghafte Versuche, sich dem Kontrollzwang zu entziehen, wurden von den anderen Passanten mit Unmut beantwortet. Das war besonders an den Eingängen zu den Fanzonen zu beobachten. Insofern hat die staatliche ?Sicherheit? 3 : 0 gegen die Freiheit gewonnen. Österreichs Verteidigungsminister Darabos bilanziert, ?Für die Sicherheit der EURO war unter großer Mitwirkung des Österreichischen Bundesheeres gesorgt!" Aussicht Das Militär ergreift zunehmend das Zepter auch im internationalen Sport. So ist in Deutschland zwar der für den Sport zuständige Minister der Bundesinnenminister. Aber trotzdem unterstehen viele Sportler und Sportlerinnen der Olympia-Mannschaft nicht als Bundespolizisten dem Innen-, sondern als so genannte Sportsoldaten dem Verteidigungsminister. Auch wurde das deutsche Olympia-Team bis zum 31. Juli nicht zufällig in der ?Kurmainz-Kaserne? (Mainz) für Peking ausgestattet. Dafür wurden 40 Soldaten eingesetzt. Militärs erheben nicht nur den Anspruch, sportlich zu sein, sondern der Sport selbst wird zunehmend militärisch. Dies geschieht ganz im Sinne der Tradition des ?Turnvaters? Jahn. Die Olympischen Spiele in Peking werden den geschilderten Trend zur Militarisierung des Sports verstärkt fortführen. Dagegen und überhaupt gegen die zunehmende Militarisierung der Gesellschaft im Allgemeinen und des Sports im Speziellen gilt es sich zu wehren. Dazu sind Vernetzungen der antimilitaristischen Bewegung mit Sportfans möglich und nötig. From imi at imi-online.de Tue Aug 19 13:28:13 2008 From: imi at imi-online.de (Informationsstelle Militarisierung) Date: Tue, 19 Aug 2008 13:28:13 +0200 Subject: [IMI-List] =?windows-1252?q?=5B0292=5D_EU-Milit=E4rdirektorium_/_?= =?windows-1252?q?Neuer_AUSDRUCK_/_SIPRI-Institut_zu_R=FCstungsexporten?= Message-ID: <48AAAE4D.2090906@imi-online.de> ---------------------------------------------------------- Online-Zeitschrift "IMI-List" Nummer 0292 .......... 12. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563 Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. Red.: IMI / Christoph Marischka / Jürgen Wagner Abo (kostenlos)........ IMI-List-subscribe at yahoogroups.com Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste.php3 ---------------------------------------------------------- Liebe Freundinnen und Freunde, in dieser IMI-List finden sich 1) eine Studie zum neu gegründeten European Council on Foreign Relations und dessen Vorschlägen, ein militärisches Kerneuropa auch ohne den Vertrag von Lissabon durchzusetzen; 2) Links zu allen Texten der August-Ausgabe des AUSDRUCK; 3) Ein IMI-Standpunkt zum neuen SIPRI-Jahrbuch 2008 mit vielen Zahlen zu weltweiten Rüstungsausgaben und ?exporten. 1) Lissabon-Vertrag hin oder her ? das militärische Kerneuropa soll kommen! In einer neuen IMI-Studie stellt Jürgen Wagner das European Council on Foreign Relations vor. Zusammenfassung: Aufgrund der irischen Ablehnung des Lissabonner Vertrages ist eines seiner Hauptanliegen akut gefährdet: die Forcierung des EU-Militarisierungsprozesses. Aus diesem Grund werden derzeit Pläne ausgearbeitet, wie Kernbestandteile des Vertrages dennoch umgesetzt werden könnten. Dies betrifft vor allem die so genannte ?Ständige Strukturierte Zusammenarbeit?, die faktisch die Bildung eines Kerneuropa im Militärbereich ermöglichen würde. Damit würden die sicherheitspolitischen Entscheidungsbefugnisse in der Europäischen Union auf wenige einflussreiche EU-Mitgliedsstaaten konzentriert. Angesichts des drohenden Scheiterns des Lissabonner Vertrages präsentierte der neu gegründete European Council on Foreign Relations nun einen Vorschlag, wie ein solches EU-Militärdirektorium auch ohne neuen EU-Vertrag umgesetzt werden könnte. Da hiermit eine weitere erhebliche Machtverschiebung zugunsten der EU-Großmächte einhergehen würde, setzt sich diese Studie kritisch mit dem gesamten Kerneuropakonzept und vor allem mit den jüngsten Überlegungen zu dessen ?Rettung? auseinander. Lissabon-Vertrag hin oder her ? das militärische Kerneuropa soll kommen! IMI-Studie 2008/08 http://www.imi-online.de/download/Studie-Kerneuropa.pdf Jürgen Wagner, 13.8.2008 2) August-Ausgabe des AUSDRUCK erschienen Soeben ist die August-Ausgabe des IMI-Magazins erschienen. Enthalten sind u.a. Artikel zu den EU-Einsätzen in Tschad und Guinea-Bissau sowie zur zivil-militärischen Zusammenarbeit in Afghanistan und im Rahmen der EM 2008. Die komplette Ausgabe zum download: http://www.imi-online.de/download/AusdruckAugust2008.pdf INHALTSVERZEICHNIS EU-MILITARISIERUNG -- Tobias Pflüger Die Agenda der Französischen Ratspräsidentschaft http://www.imi-online.de/download/TP-Aug08-Lissabon.pdf -- Christoph Marischka Der Albtraum Sicherheit - Europäische Sicherheitsforschung http://www.imi-online.de/download/CM-Aug08-SForschung.pdf -- Jürgen Wagner Orwell im Tschad: Wie Österreich und die Europäische Union Militäreinsätze über die Entwicklungshilfe querfinanzieren http://www.imi-online.de/download/JW-Aug08-Tschad.pdf -- Christoph Marischka Was kostet Guinea-Bissau? Guinea-Bissau als Brüssler Kolonie http://www.imi-online.de/download/CM-Aug08-GuineaB.pdf -- Christoph Marischka Tschad: Die EUFOR als Brandbeschleuniger http://www.imi-online.de/download/CM-Aug08-Tschad.pdf ZIVIL-MILITÄRISCHE ZUSAMMENARBEIT -- Jürgen Wagner Experimentierfeld Afghanistan: Die dauerhafte Institutionalisierung Zivil-militärischer Aufstandsbekämpfung http://www.imi-online.de/download/JW-Aug08-Afghanistan.pdf -- Uwe Reinecke Sicher ins Finale: Der Einsatz von Soldaten bei der Fußball-EM http://www.imi-online.de/download/UR-Aug08-EM.pdf FRANKREICH -- Thomas Mitsch Großer Krieg in naher Zukunft? Das französische Verteidigungsweißbuch 2008 http://www.imi-online.de/download/TM-Aug08-Frankreich.pdf 3) IMI-Standpunkt zum neuen SIPRI-Jahrbuch 2008 mit vielen Zahlen zu weltweiten Rüstungsausgaben und ?exporten Die Geschäfte laufen gut Das SIPRI-Jahrbuch 2008 über Rüstung und internationale Rüstungsexporte IMI-Standpunkt 2008/049 http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1809 19.8.2008, Thomas Mitsch Die Geschäfte laufen gut Das SIPRI-Jahrbuch 2008 über Rüstung und internationale Rüstungsexporte Das Stockholmer Institut zur Internationalen Friedensforschung (SPIRI) hat Anfang August sein Jahrbuch 2008 vorgestellt. Eine Zusammenfassung kann Im Internet heruntergeladen werden: http://yearbook2008.sipri.org/files/SIPRIYB08summary.pdf Das Stockholmer Friedensinstitut ermittelte die größten Waffenexporteure der Welt. Der von den USA ausgerufene ?Krieg gegen den Terror? hat die weltweiten Rüstungsausgaben auf neue Rekordhöhen getrieben. Wie das SIPRI feststellte, wurden 2007 umgerechnet 1,3 Billionen US$ und damit pro Kopf der Weltbevölkerung 202 US$ für militärische Zwecke ausgegeben, davon 1,04 Billionen US$ von den wohlhabendsten Nationen. In den vergangenen zehn Jahren sind die Militärhaushalte damit weltweit um 45 Prozent gestiegen. Fakten und Zahlen: Von den zehn größten Waffenproduzenten im Jahr 2006 stammen alleine 6 aus den USA gefolgt von den europäische Firmen BAE Systems (Großbritannien, Platz 3), EADS (v.a. Frankreich und Deutschland, Platz 7), Finmeccanica (Italien, Platz 9) und Thales (Frankreich Platz 10). Alleine Boing tätigte Waffenverkäufe in Höhe von 30.690 Mio. US$ gefolgt von Lockheed mit 28.120 Mio. US$, BAE Systems machte 24.060 Mio. US$ Umsatz, EADS 12.600 Mio. US$ und Finmeccanica 8.990 Mio. US$. 2007 stiegen die weltweiten Militärausgaben auf ein Rekordniveau. Insgesamt wuchsen die Umsätze der Waffenkonzerne gewaltig und demonstrierten damit, wie gewinnbringend der Handel mit Kriegsmaterial ist. Das Militär verschlingt 2,5 Prozent des globalen Sozialprodukts. 45 Prozent aller offiziellen weltweiten Rüstungsausgaben entfielen 2007 auf die USA, wo sie auf den höchsten Wert seit dem 2. Weltkrieg stiegen. Seit den Terroranschlägen von 2001 sind sie in den Vereinigten Staaten um 59 Prozent gestiegen. Grund hierfür sind laut dem Jahrbuch die Kriege im Irak und in Afghanistan sowie der ?Krieg gegen den Terror?. Mit 36,9 Milliarden US$ liegt Deutschland in der Rangliste der Länder mit den höchsten offiziellen Militärausgaben auf dem sechsten Platz und hat damit einen Anteil von drei Prozent an den weltweiten Ausgaben. Hinter den mit großem Abstand führenden USA mit jährlichen Ausgaben von 547 Milliarden US$ folgen Großbritannien mit 59,7 Mrd. US$, China mit 58,3 Mrd. US$ und Frankreich mit 53,6 Mrd. US$. Sie gaben damit jeweils etwa ein Zehntel des US-Betrages für militärische Zwecke aus. Waffenexporte: 80% der globalen Waffenexporte fallen auf nur fünf Länder zurück, unter diesen fünf ?größten? Waffenexporteuren befinden sich neben Deutschland die USA, Russland, Frankreich und Großbritannien. Das Institut stellte beim internationalen Waffenhandel einen Anstieg um sieben Prozent für die Zeit von 2003 bis 2007 gegenüber der Zeit von 2002 bis 2006 fest. Deutschland ist mit einem Weltmarktanteil von zehn Prozent drittgrößter Rüstungsexporteur der Welt. 63% der Gewinne der 100 größten Rüstungsfirmen entfielen auf US-amerikanische und 29% auf westeuropäische Unternehmen. Die größten Gewinne erzielten die Hersteller von gepanzerten Fahrzeugen wegen des Irak-Krieges und die Anbieter von High-Tech-Elektronik sowie in Russland die Hersteller von Flugzeugen. Rüstungskontrolle und Atomwaffenarsenale: Die Notwendigkeit neuer Anstrengungen bei der Rüstungskontrolle ergibt sich für das Friedensinstitut auch aus den nach wie vor gigantischen Arsenalen an Atomwaffen. Acht Staaten verfügen hier über gefechtsbereite Sprengköpfe, während Vereinbarungen über Rüstungskontrolle oder Nicht-Weiterverbreitung ?entweder schwanken oder kaum Fortschritte machen?, heißt es im Jahrbuch. Es wird außerdem festgestellt, dass alle Unterzeichner des Atomwaffensperrvertrages mittlerweile neue Atomwaffen entwickeln würden oder angekündigt hätten, dies zu tun. Indien, Pakistan und Israel, die Nichtmitglieder sind, würden allesamt an neuen Trägersystemen arbeiten. Das Institut berichtet über ein Gesamtarsenal von gut 25.000 nuklearen Sprengköpfen, von denen mehr als 10.000 sofort auf Raketen oder Flugzeugen eingesetzt werden könnten. Davon entfielen im Januar 2008 insgesamt 5.189 auf Russland und 4.075 auf die USA. Kritisch kommentiert das Jahrbuch den Austritt Moskaus aus dem Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE). Hiervon gehe eine sehr große Gefahr aus, heißt es. Laut dem Direktor des Stockholmer Friedensinstituts, Bates Gill, gebe es dennoch einen zunehmenden Konsens, dass Abrüstungsschritte notwendig seien. Solche Maßnahmen lägen ebenso im Interesse von Regierungen wie der Weltöffentlichkeit. Besonders wichtig sei dabei eine weitere Abrüstung auf Seiten der beiden größten Atommächte USA und Russland. Ja zur Weltmacht EUropa: Bates Gill sieht in der Möglichkeit der ?Wiederbelebung der internationalen Rüstungskontrolle? eine Chance, der internationalen Aufrüstung entgegen zu wirken. Dafür gebe es in den kommenden zwei Jahren mit Blick auf mögliche neue politische Führungen in Ländern wie Russland, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Japan, und vor allem demnächst in den USA ?neue Chancen und Öffnungen?, falls die USA mitspielten. Wie das SIPRI zu dieser optimistischen Einschätzung kommt, wird jedoch nicht weiter begründet. Ausdrücklich wird auch der EU-Reformvertrag begrüßt, der ja immerhin die europäische Rüstungsagentur EDA auf eine rechtliche Grundlage stellt, die Mitgliedsstaaten zu Aufrüstung verpflichtet und einen EU-Militäretat (?Anschubfonds?) ermöglicht: ?Die EU nahm das Lissabon-Abkommen an, das weitgehend die wichtigsten Bestandteile des abgelehnten Verfassungsvertrages 2004 verfechtet, vor allem in Sachen der Außen- und Sicherheitspolitik... . Die EU kann sich jetzt ihr erhebliches Potential zunutze machen, indem sie die neuen Rechtsstrukturen in politisches Handeln umsetzt.? Lapidar wird mit einem Satz festgestellt: ?Die Herausforderungen der transatlantischen Partnerschaft sind zunehmend global.? Mit diesem Satz verortet sich das Stockholmer Institut nicht nur selbst innerhalb der transatlantischen Sicherheitspolitik, sondern es spricht sich auch für eine Art Weltinnenpolitik mit den USA und der EU im Zentrum aus. Entsprechend werden auch militärische Friedensmissionen in ?Scheiternden Staaten? (zu denen auch ISAF in Afghanistan gezählt wird) prinzipiell für notwendig erachtet und ein Ausbau der entsprechenden Strukturen gefordert. Mit einem Rüstungs-kritischen Ansatz ist das freilich schwer zu vereinbaren. Trends im aktuellen Konfliktgeschehen: Ekaterina Stepanova behauptet auf der Grundlage der UDCP-Datenbank (Uppsala Conflict Data Project), dass die Zahl der ?Major Conflicts? (Hauptkonflikte) im letzten Jahrzehnt zurückginge, was aber weitgehend der Definition diese ?Major Conflicts? geschuldet ist. Sie stellt demgegenüber aber einen deutlichen Trend zur Entstaatlichung und Internationalisierung von Konflikten sowie zu Stammesfehden und allgemeinen Gewaltsituationen, also hin zu so genannten ?Neuen Kriegen? fest, die nach den Definitionen des UDCP nicht als Kriege oder bewaffnete Konflikte gezählt werden. Diese drohten sich jedoch weiter auszudehnen, weshalb auch verstärkt Friedensmissionen nötig würden. Hauptproblem sei das Scheitern von Staaten, die Lösung bestehe entsprechend in State-Building. Dabei müsse man sich aber evtl. mit Akteuren einlassen, die eine andere Agenda verfolgen, als man selbst: ?...Staatliche Schwäche war einer der kritischen Faktoren, welcher die Zersplitterung und die wachsende Widerspenstigkeit der Waffengewalt im Jahr 2007 förderte. Um Gewalt in schwachen, konfliktgeschädigten Staaten zu verringern, sollten die Anstrengungen zur Unterstützung des Aufbaus staatlicher Strukturen, welche Funktionalität mit lokaler Rechtmäßigkeit verbinden, als vorrangige Aufgabe gesehen werden. Im Inland entstandene Bewegungen, welche beträchtliche Unterstützung in der Bevölkerung genießen und breite gesellschaftliche, politische und sicherheitsrelevante Programme verfolgen, sind am besten in der Lage, diese Verbindung zu erreichen - auch wenn ihre Ideologien und Programme sich deutlich von denen der führenden internationalen Akteure unterscheiden.? Im letzten Jahr blieb die Zahl der Kriege laut Definitionen und Daten des UDCP unverändert. Insgesamt gab es demnach vierzehn bewaffnete Konflikte. Auf den Philippinen und in Somalia seien zwei Konflikte hinzugekommen, während in Burundi und Uganda zwei bewaffnete Konflikte beendet werden konnten. Die größten bewaffneten Konflikte waren demnach in Afrika (Somalia), Amerika (Kolumbien, Peru, USA), Asien (Afghanistan, Indien, Myanmar, Philippinen, Sri Lanka), Europa (Tschetschenien) und im Mittleren Osten (Irak, Israel, Türkei). Friedensmissionen: 2007 waren 150.651 Soldaten und 18.816 ?zivile? Kräfte ? v.a. Polizisten ? aus 119 Staaten in ?Friedensmissionen? im Einsatz, mehr als je zuvor (41% davon in Afrika). 22 Missionen mit 90.305 Einsatzkräften werden von der UN geführt, drei mit 57.930 von der NATO (davon 41.741 in Afghanistan), 7.371 Kräfte sind in AU-?Friedenseinsätzen? und 5.900 in solchen der EU. In Europa waren 20, in Afrika 18, im Mittleren Osten und Asien jeweils 10 und in Amerika 3 Friedensmissionen tätig. Die Notwendigkeit von mehr und komplexeren Einsätzen wird ganz am Beginn des Textes festgestellt ? nicht hergeleitet, sondern festgestellt. Dafür müssten mehr und unterschiedliche Organisationen besser miteinander koordiniert werden. Darunter - theoretisch - auch die Regierungen, Führer und Bevölkerungen vor Ort - doch deren Einbeziehung kann, wird sogleich festgestellt, den Erfolg der Mission auch behindern. Die Bemühungen der UN, die Vorbereitungen für Einsätze zu verbessern, werden folgendermaßen zusammengefasst: ?Die Vereinten Nationen haben 2007 als Teil ihrer umfassenderen und längerfristigen Reformstrategie ´Friedenswahrung 2010´ die vollständige Umsetzung des IMPP (Integrated Missions Planning Process) angestrebt. Der IMPP zielt darauf ab, einen sequentiellen, kohärenten und einheitlichen Rahmen für die Zeit vor der eigentlichen Mission und die Übergangsplanung von UN-Operationen zu bieten.? Das Dilemma des SIPRI Die politische Bewertung des SIPRI-Jahresberichts überrascht vor dem Hintergrund immens wachsender Rüstungsausgaben und -exporte: ?In den nächsten ein bis zwei Jahren wird die Diskussion und Debatte über die Vorteile der Rüstungskontrolle und Abrüstung auf deutlich höherer Ebene stattfinden. ...Stimmen aus dem gesamten politischen Spektrum erkennen wieder den Wert der Rüstungskontrolle angesichts der drohenden Gefahren für die Menschheit. Obwohl sich die Vorwärtsbewegung enormen Hindernissen gegenüber sieht, wird sich in den kommenden Jahren ein neues Fenster der Möglichkeiten noch weiter öffnen, um konstruktive Fortschritte bei der Rüstungskontrolle und Abrüstung zu realisieren.? Wenn die erste Welt militärisch intervenieren soll, dann sind ihre Rüstungsausgaben (die schließlich 79% der weltweiten Rüstung ausmachen) auch schwer zu kritisieren. Dieses Dilemma für das SIPRI zeigt sich auch daran, dass das Institut auf die neueren Varianten des Rüstungsexportes durch die erste Welt in Form von Polizeiausbildungen und Sicherheitssektorreformen kaum eingeht, sie als State-Building allenfalls implizit begrüßt. Das SIPRI scheint diesem Dilemma entkommen zu wollen, indem es vor dem Hintergrund steigender Rüstungsausgaben über sich öffnende Möglichkeitsfenstern und einem sich herausbildenden Konsens über die Notwendigkeit von Rüstungskontrolle spekuliert. Thomas Mitsch From imi at imi-online.de Thu Sep 4 15:53:04 2008 From: imi at imi-online.de (Informationsstelle Militarisierung) Date: Thu, 04 Sep 2008 15:53:04 +0200 Subject: [IMI-List] [0293] Programm IMI-Kongress / EU-Mission in Georgien Message-ID: <48BFE840.8010108@imi-online.de> ---------------------------------------------------------- Online-Zeitschrift "IMI-List" Nummer 0293 .......... 12. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563 Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. Red.: IMI / Christoph Marischka / Jürgen Wagner Abo (kostenlos)........ IMI-List-subscribe at yahoogroups.com Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste.php3 ---------------------------------------------------------- Liebe Freundinnen und Freunde, in dieser IMI-List finden sich 1) die Einladung und das Programm zum diesjährigen IMI-Kongress mit dem Titel ?Kein Frieden mit der NATO? am 8. und 9.11.2008; 2) Einen IMI-Standpunkt zur anstehenden EU-Mission in Georgien. 1) IMI-Kongress 2008: ?Kein Frieden mit der NATO? Der diesjährige IMI-Kongress wird am 8. und 9. November 2008 in Tübingen stattfinden und sich anlässlich des 60jährigen Jubiläums der NATO und der aktuellen Eskalation im Kaukasus aus verschiedenen Perspektiven kritisch mit dem Militärbündnis auseinandersetzen. PROGRAMM: Samstag, 8. November 2008: 12:00h Kongresseröffnung 12:30h Die Waffe des Westens ? Strukturen und Strategien der NATO (Tobias Pflüger) 14:30h Aufstandsbekämpfung in Afghanistan: Prototyp einer neuen NATO-Strategie (Jürgen Wagner) 16:30h Die Kolonialpolitik der NATO auf dem Balkan (NN) 19:30h Kameraden im Kaukasus: NATO und EU im Schulterschluss für eine neue Weltordnung (Martin Hantke) Sonntag, 9. November 2008 09:15h Kanonenboote und Piraten: Die NATO als Seemacht (Claudia Haydt) 10:30h Schild und Schwert: Aggressive Atompolitik und Raketenabwehr der NATO (Arno Neuber) 12:00h Lokale Einrichtungen für globale Kriege: Kein Friede mit der NATO in Deutschland (Verschiedene) Wir freuen uns auf rege Teilnahme. Wie die vergangenen Jahre ist eine Anreise auch schon am Freitagabend möglich, an dem wir eine gesellige Auftaktveranstaltung planen. Die IMI wird sich auch bemühen, bei Bedarf Schlafplätze zu vermitteln. Nähere Informationen, Flugblätter und Plakate folgen in einem Monat sowie in der kommenden Ausgabe des AUSDRUCK. 2. IMI-Standpunkt zur geplanten ESVP-Mission in Georgien EU eskaliert den Konflikt mit Russland weiter Vorbereitungen für eine ESVP-Mission in Georgien IMI-Standpunkt 2008/052 http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1815 Tobias Pflüger, 3.9.2008 Die Einseitigkeit, mit der sich die Europäische Union im jüngsten Konflikt an der Seite Georgiens platziert, ist hochproblematisch. Allein Russland für die jetzige Situation verantwortlich zu machen, wie es gegenwärtig der Fall ist, bedeutet nichts anderes als einseitige Parteinahme im Georgienkrieg und das Einläuten eines neuen Kalten Krieges. Der jüngste Beschluss des Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees (PSK), eine Mission im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) nach Georgien zu entsenden, droht den Konflikt weiter zu eskalieren. Ganz offensichtlich sind beide Kriegsparteien Schuld an der Eskalation. Die begann mit dem Angriff Georgiens am 7./8. August auf Südossetien, insbesondere auf die Stadt Zchinvali - mit vielen Toten auch unter der Zivilbevölkerung -, der von Präsident Mikhail Saakashvili befohlen wurde. Damit begann eine verhängnisvolle Spirale der Eskalation. Klar zu verurteilen ist aber auch die Form der militärischen Reaktion Russlands, insbesondere auf die Stadt Gori - mit ebenfalls vielen Toten unter der Zivilbevölkerung. Die Angriffe auf die Zivilbevölkerung und der Einsatz von Streubomben durch beide Kriegsseiten sind völlig inakzeptabel. Das humanitäre Völkerrecht / Kriegsvölkerrecht wurde von beiden Kriegsseiten klar verletzt. Westliche Mitschuld Die nun erfolgte staatliche Anerkennung Süd-Ossetiens und Abchasiens durch Russland ist abzulehnen, sie folgt allerdings der falschen Logik der Anerkennung des Kosovo durch westliche Staaten, darunter auch einer ganzen Reihe von EU-Staaten (nicht aller!), wie Deutschland. Mit der völkerrechtswidrigen Anerkennung des Kosovo wurde eine Büchse der Pandora geöffnet, die nun ihre fatale Folgepolitik findet. Der Westen, die NATO und die EU, sind in die Eskalation des Konflikts und Krieges in Georgien stark involviert. Die USA haben georgische Truppen zum Kriegführen aus dem Irak nach Georgien gebracht. Eine ganze Reihe von NATO- und EU-Staaten haben Georgien mit modernen Waffen hochgerüstet. Es sind auch deutsche Waffen und Waffenträger bei der georgischen Kriegsseite aufgetaucht. Die Entsendung von NATO-Marinetruppen ins Schwarzmeer sieht sehr nach weiterer Eskalation aus. Auch muss benannt werden, dass dieser Konflikt sehr viel mit geopolitischen Interessen zu tun hat, wie z.B. geplanten Ölpipelines. Hardliner setzen sich durch ? geplante ESVP-Mission nach Georgien Die EU will den Konflikt auch missbrauchen, um eine weitere Militarisierung der Europäischen Union voranzutreiben, wie z.B. anhand jetzt laut gewordenen Forderungen nach einer Stärkung der ESVP deutlich wird. Eine Position der EU, "die härter ist als die der NATO", wie z.B. vom Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschuss des Europäischen Parlamentes, Jacek Saryusz-Wolski (EVP), gefordert, ist gefährlicher Unsinn. In der Plenardebatte des Europäischen Parlaments zu den Ergebnissen des Ratsgipfels am 1. September konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Hardliner in der EU, die einen noch konfrontativeren Umgang mit Russland wollten, ausgebremst worden seien und sich eine etwas gemäßigtere Haltung der EU zum Kaukasus durchgesetzt habe. Allerdings hat das Politische und Sicherheitspolitische Komitee, welches bei der EU die Vorentscheidungen im Militärbereich fällt, am 2. September sehr konkrete Vorbereitungen für eine ESVP-Mission in Georgien getroffen. Es gibt einen Beschluss des PSK (mit Finanzplan etc.), ein 10-köpfiges Vorausteam bereits am 15. September nach Georgien zu schicken, mit dem Ziel, eine spätere ESVP-Mission in Georgien vorzubereiten. In der am 2. September leider mit deutlicher Mehrheit angenommenen einseitigen Resolution des Europäischen Parlamentes zum Kaukasuskrieg wird ebenfalls eine ESVP-Mission gefordert, die, so der mehrheitlich angenommene Änderungsantrag der Konservativen Fraktion, nicht einmal mehr zwingend ein UN-Mandat bräuchte (es genüge auch ein Mandat der OSZE). Auch in der Resolution des Europäischen Parlamentes wird aufgrund des Kaukasuskrieges eine Forcierung der EU-Militärpolitik gefordert und auf den Lissabonner Vertrag verwiesen, der eine "Politik der Energieversorgungssicherheit" vorantreibe und eine (auch militärische) Solidaritätsklausel beinhalte. Diese Solidaritätsklausel im Lissabonner Vertrag ist ein gefährlicher Mechanismus, der sicher nicht zur Deeskalation des Kaukasuskonfliktes beigetragen hätte. Im schlimmsten Fall hätte er sogar zu einer militärischen Beteiligung der Europäischen Union geführt. Ähnlich verhält es sich mit der geplanten NATO-Mitgliedschaft Georgiens, diese Idee muss schlicht und einfach beerdigt werden. Die von den EU-Mitgliedstaaten geplante ESVP- Mission in Georgien muss gestoppt werden. Notwendig sind allein zivile OSZE - Beobachter. Frappierende Einseitigkeit In der verabschiedeten Resolution des Europäischen Parlamentes wird der eigentliche Angriff, der von Georgien ausging, nicht gerügt. Das Europäische Parlament hat diesen Beschluss gefasst, ohne die russische Seite auch nur ein einziges Mal anzuhören. Bislang wurde auf einem erschreckend einseitigen Sondertreffen des Auswärtigen Ausschusses lediglich die georgische Außenministerin Eka Tkeshelashvili angehört. Auch das ist ein deutliches Beispiel für die Einseitigkeit, mit der die Europäische Union in diesem Konflikt agiert und die sicher nicht geeignet ist, um zu einer dringend notwendigen Deeskalation beizutragen. From imi at imi-online.de Tue Sep 9 14:52:16 2008 From: imi at imi-online.de (Informationsstelle Militarisierung) Date: Tue, 09 Sep 2008 14:52:16 +0200 Subject: [IMI-List] [0294] Studie zu Georgien / China in Afrika / Standpunkt zu Afghanistan Message-ID: <48C67180.90608@imi-online.de> ---------------------------------------------------------- Online-Zeitschrift "IMI-List" Nummer 0294 .......... 12. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563 Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. Red.: IMI / Christoph Marischka / Jürgen Wagner Abo (kostenlos)........ IMI-List-subscribe at yahoogroups.com Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste.php3 ---------------------------------------------------------- Liebe Freundinnen und Freunde, in dieser IMI-List finden sich 1) der Hinweis auf eine neue Studie zum Krieg in Georgien; 2) der Hinweis auf eine Studie zur chinesischen Wirtschafts- und Sicherheitspolitik gegenüber Afrika; 3) ein IMI Standpunkt zum Afghanistankrieg und der deutschen Beteiligung daran anlässlich der Demonstrationen am 20 September. *1.) Neue IMI-Studie zum Konflikt in Georgien* IMI-Studie 2008/010 "Alles wieder offen": Georgienkrieg und imperiale Geopolitik http://imi-online.de/2008.php3?id=1819 http://www.imi-online.de/download/IMI-Studie2008-10.pdf 8.9.2008, Martin Hantke Mit dem Angriff georgischer Truppen im Südkaukasus auf die südossetische Hauptstadt sowie auf russische "peacekeeping"-Truppen haben die Konflikte in der Region eine grundlegend neue Qualität angenommen, sie sind der Beginn einer neuen Zeitrechnung. Ein Kalter Krieg zwischen Russland und dem Westen ist seit dem 8. August Wirklichkeit geworden. Die neue IMI-Studie "Georgienkrieg und imperiale Geopolitik" analysiert die machtpolitischen Interessen der jeweiligen Akteure, insbesondere auch Deutschlands und der Europäischen Union im Kontext dieses neuen Kalten Krieges. Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 2. Georgien: Geopolitisches Filetstück 3. Deutschland und die Europäische Union: (un)kontrollierte Eskalation 4. Deutsche und Europäische (Militär-)Hilfe für Georgien 5. US-Militärausbilder und Kriegsgerät 6. Westliches Plazet für den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg? 7. Der georgische Angriff und die russische Gegenoffensive 8. Kontroverser Waffenstillstand 9. Perspektive Kalter Krieg http://www.imi-online.de/download/IMI-Studie2008-10.pdf *2.) IMI-Studie zu China in Afrika* In Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung hat die Informationsstelle Militarisierung eine umfangreiche Studie zum wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Engagement Chinas in Afrika erstellt: IMI-Studie 2008/09 China in Afrika - oder: Zu einem anstehenden Paradigmenwechsel in der Frage der Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten http://www.imi-online.de/download/AS-China-Studie.pdf 2.9.2008, Andreas Seifert Die vorliegende Studie versucht dem Engagement Chinas in Afrika eine Gestalt zu verleihen und beschreibt Akteure und Methoden. Es wird deutlich werden, dass China keineswegs, wie landläufig unterstellt, einen "Plan" für Afrika hat, als vielmehr mit einer Reihe von quasi experimentellen Maßnahmen Erfahrungen sammelt, die Chinas Afrikapolitik immer wieder verändern werden. Es wird auch deutlich, dass die chinesischen Akteure immer tiefer auch in regionale Probleme hineingezogen wurden und werden, die eine "externe" Position immer weniger zulassen werden. Die Frage ist dabei: Weicht in diesem Prozess die strikte Position Chinas zur "Nichteinmischung" auf oder gelingt es China, das Grundprinzip zu retten? Der Text gliedert sind in fünf Abschnitte. Eingangs werden die Grundlagen der Außenpolitik der VR China und eine kurze Geschichte der Beziehungen zu Afrika beschrieben. Es folgt eine Analyse der Wirtschafts- und Entwicklungspolitik Chinas in Afrika, sowie ein Abschnitt zu den bisherigen Erfahrungen mit Militär und Waffenhandel auf dem Kontinent. Das Beispiel des Sudan wird dann herangezogen, um die Verschränkungen der Bereiche deutlich zu machen und das Feld abzustecken, in dem sich die chinesische Regierung bewegen kann. Der letzte Abschnitt besteht darin, die Frage von Nichteinmischung oder Intervention anhand der vorhergehenden Fragen aufzuarbeiten. * 3.) IMI-Standpunkt zum Krieg in Afghanistan* Anlässlich der Demonstrationen am 20. September in Berlin und Stuttgart gegen den Krieg in Afghanistan zeigt Christoph Marischka auf, dass die Bundeswehr stets in die Kriegsführung zur Durchsetzung einer neuen Staatlichkeit eingebunden war, wie und warum sie dabei in die Defensive geriet und weshalb der sofortige Abzug der Bundeswehr ein wichtiger Schritt des Übergangs zu ziviler Konfliktbearbeitung wäre. IMI-Standpunkt 2008/053 Der Krieg in Afghanistan ist verloren! Anatomie einer Eskalation http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1816 Christoph Marischka, 8.9.2008 Der Krieg in Afghanistan ist verloren! - Anatomie einer Eskalation Nur wenige Monate nachdem die Koalition der Willigen den Krieg gegen Afghanistan begonnen hatte galt das Taliban-Regime als besiegt. In der Hauptstadt Kabul, aus der wie aus den übrigen nördlichen Provinzen die Taliban tatsächlich vertrieben waren, wurde eine Regierung eingesetzt, die den Interventionstruppen freundlich gesinnt war. Doch deren Herrschaft reichte nicht weit über die Hauptstadt hinaus und verlor sich in den entfernteren Provinzen in die traditionellen Beziehungen der Regierungsmitglieder zu den lokalen Stammesfürsten, die ihren eigenen Interessen folgten, weshalb Karzai gelegentlich auch als Bürgermeister von Kabul bezeichnet wurde. Auch der Krieg war mitnichten vorbei: Im Süden und Osten bestanden noch bewaffnete Verbände der Taliban und insbesondere in den Siedlungsgebieten der Paschtunen erhoben sich zahlreiche lokale Führer gegen die neue Zentralmacht in Kabul und die hinter dieser stehenden internationalen Koalition. Conrad Schetter vom Zentrum für Entwicklungsforschung in Bonn beschrieb jüngst, wie die Eliten der einstmals autonomen Stammesgebiete durch die wiederholten Interventionen in Afghanistan geschwächt wurden und militante Geistliche von deren Autonomiestreben profitieren konnten. Aus einer "externen" Sonderrolle heraus konnten sie Allianzen zwischen den Stämmen schmieden und zunächst den gottlosen Kommunismus der Sowjetunion und später den Westen als einigendes Feindbild etablieren.[1] Es gab und gibt in diesen Regionen seit Beginn des Krieges gut organisierte Milizen mit sicheren Rückzugsgebieten. Folglich mussten die hier stationierten us-amerikanischen, niederländischen und später kanadischen Kräfte also von Anfang an eine ganz andere Strategie verfolgen, als die deutschen Soldaten im je nach Sichtweise "befreiten" oder auch "aufgegebenen" Norden: Sie mussten gut bewaffnete Milizen in ihre Rückzugsgebiete verfolgen, aggressiv Geländegewinne erzielen und feindlich dominierte Täler gegen regelmäßige Angriffe verteidigen.[2] Dabei kam es natürlich auch zu höheren Opfern in einer tendenziell eher feindlich gestimmten Bevölkerung und häufiger wurde Close Air Support, also Unterstützung durch Kampfflieger und Hubschrauber angefordert, als im deutschen Einsatzgebiet. Hier gestaltete sich die strategische Lage anders: Es gab kaum bewaffneten Verbände, gegen die die deutschen Soldaten hätten kämpfen müssen, militante Gegner der Intervention bewegten sich eher in die umkämpften Gebiete im Süden, in der Bevölkerung herrschte eher die Haltung vor, abzuwarten und zu sehen, was die neue Regierung bringt. Entsprechend bestand die Strategie der "Opposing Militant Forces" (OMF), die hier weniger Möglichkeiten hatten, nach Anschlägen in der Bevölkerung unterzutauchen, eher darin, in einzelnen Selbstmordkommandos oder mit Selbstmordanschlägen gegen die Interventionstruppen vorzugehen. Da die Besatzungstruppen im Norden sich näher an der Zivilbevölkerung aufhielten, wurden bei Anschlägen auf diese auch mehr ZivilistInnen getötet. Viele Selbstmordanschläge richteten sich gar nicht erst gegen die ausländischen Truppen, sondern abstrakter gegen deren Ziel, den Aufbau eines neuen Staatswesens, also gegen Polizeianwärter oder einfach auch gegen größere Menschenansammlungen, um ein Klima der Unsicherheit zu erzeugen. Es mag überraschen, aber diese Strategie ist aufgegangen. Mittlerweile sind auch die deutschen und französischen Soldaten in die Defensive geraten -- sowohl im militärischen Sinne als auch was die öffentliche Meinung angeht. Dieser Übergang war aber keineswegs so abrupt, wie es nun scheinen mag. Vom Aufstand zu Aufständen Bereits zu Beginn des Jahres 2007 hatte sich auch in den westlichen Medien der Begriff des Aufstands eingebürgert, um die Situation in Afghanistan zu beschreiben, der UN-Beauftragte des Landes sprach gar von einer "Widerstandsbewegung".[3] Ein halbes Jahr zuvor war das neue Field Manual 3/24 mit dem Titel "Aufstandsbekämpfung" erschienen und zur offiziellen US-Doktrin für den Irak geworden. Seine Kernpunkte, die Soldaten noch intensiver in den Wohnvierteln patrouillieren zu lassen und noch offensiver auch gegen die Zivilbevölkerung vorzugehen, wurden aber auch in Afghanistan umgesetzt und heizten die Situation weiter an. Im März 2007 hatte die Bundesregierung die Entsendung von bis zu 500 weiteren Bundeswehrsoldaten sowie sechs Aufklärungstornados beschlossen, deren Mandat nicht mehr auf den Norden begrenzt war, sondern ganz Afghanistan umfasste. Während der Bundestag hierüber noch debattierte, erschütterte eine Protestwelle Afghanistan, weil US-Streitkräfte nach einem Selbstmordattentat auf einer belebten Straße wahllos acht Zivilisten töteten und nur 24 Stunden später offenbar versehentlich ein Haus derselben Familie bombardierten, zu der auch die Opfer auf dem Highway gehörten.[4] Solche Ereignisse finden laufend statt und zunehmend sieht sich auch Präsident Karzai gezwungen, die Besatzungstruppen für die zivilen Opfer zu rügen, um nicht alle Glaubwürdigkeit bei der eigenen Bevölkerung zu verspielen. Die Reaktionen der internationalen Gemeinschaft bestehen dann zumeist in Leugnungen und anschließenden Drohungen gegenüber Karzai, die auch den aufgeklärteren Teilen der afghanischen Gesellschaft zeigen, von wem der Präsident der Zentralregierung abhängig ist. Bereits im Juni 2007 schrieb ein deutscher Militärberater aus Afghanistan an das Auswärtige Amt, er stelle "zunehmend fest, dass die militärische Lage unzulässig geschönt dargestellt wird. Auch deutsche Generale beschönigen oder verschweigen eigene Probleme. Die ständigen Forderungen nach Truppenverstärkung, die steigenden Kosten des militärischen Engagements, das Anwachsen eigener Verluste und die steigende Zahl ziviler Opfer verdeutlichen die Ungeeignetheit und Auswegslosigkeit der militärischen Gewalt als Lösung der inneren und äußeren Probleme Afghanistans. Es ist unerträglich, dass unsere Koalitionstruppen und ISAF inzwischen bewusst Teile der Zivilbevölkerung und damit erhoffte Keime einer Zivilgesellschaft bekämpfen. Die Paschtunen müssen dies als Terror empfinden! Westliche Jagdbomber und Kampfhubschrauber verbreiten Angst und Schrecken unter den Menschen in den Kampfgebieten. Aus den verschiedensten Motiven wenden sie sich den Aufständischen zu. Wir sind dabei, durch die unverhältnismäßige militärische Gewalt das Vertrauen der lebenden Generationen der Afghanen zu verlieren."[5] Im darauf folgenden Monat lieferte Lothar Rühl, ehemaliger Staatssekretär im Verteidigungsministerium und noch heute Vordenker der deutschen Außenpolitik, in der Zeitschrift "Strategie & Technik", ein Beispiel für die genannten geschönten Darstellungen -- nicht ohne die zunehmend defensive Lage der Bundeswehr anzudeuten: Er schrieb, dass "auch 2007 weiter höchst unsicher und fragwürdig [ist], ob diese ?selbst tragende Stabilität? [die Minister Jung als Voraussetzung für einen Abzug definiert hatte] in absehbarer Zeit zustande kommen kann." Die strategische Frage laute also: "Zwei Jahrzehnte Hindukusch?" Gleichzeitig müsse man "allerdings erkennen, dass längere Präsenz auch fremder Beschützer schließlich als fremde Besatzung wahrgenommen wird." Deshalb wiederum müssten die ISAF-Kräfte "das Einvernehmen mit den regionalen Machthabern, den Stammesfürsten und Clanchefs, von denen einige auch Drogenbarone und Clanchefs sind, suchen" und könnten "nicht auch noch einen Opiumkrieg in ihrer Umgebung führen oder darauf dringen, dass Frauen unverschleiert auf der Straße gehen oder Mädchen in die Dorfschule".[6] Ebenfalls im Juni 2007 veranstaltete die einflussreiche RAND Corporation gemeinsam mit dem Royal Danish Defence College eine Konferenz zur Lage in Afghanistan und zu den Zielen der westlichen Intervention. Auch hier wurde festgestellt, dass sich das öffentliche Ansehen der Besatzertruppen wie auch die allgemeine Sicherheitslage verschlechterte, dass die Zahl der Anschläge und Angriffe hingegen kontinuierlich steige und diese immer mehr Opfer auf beiden Seiten forderten. Nur 20% der Aufständischen gehörten ideologisch zu den Taliban, hieß es außerdem: "Die Taliban erfahren Unterstützung von Neulingen und Alliierten, die nicht ihre Ideologie teilen, sich aber aus anderen Gründen gegen Kabul, lokale Führern oder die internationalen Präsenz stellen und dies unter dem Banner der Taliban tun. Es gibt fluide Allianzen und Absprachen auf der lokalen Ebene, wenn auch mit wenig Kohärenz und Kohäsion."[7] Ein Jahr später, im August 2008, ist gar nicht mehr von "Aufstand", sondern von "Aufständen" die Rede. UN-Vertreter sprechen von "hunderten, wenn nicht tausenden von Gruppen in einem komplexen und sich ständig verschiebenden Geflecht von Interessensallianzen ... Manche dieser Gruppen bestehen gerade aus sechs Leuten und hassen die sechs Leute aus dem nächsten Dorf".[8] Im Krieg sind die Soldaten gleich Die jüngsten Ereignisse in der Umgebung von Kabul und dem deutschen Verantwortungsbereich, bei denen zehn französische Soldaten getötet, mehrere deutsche Soldaten verletzt wurden und der 28. deutsche Soldat in Afghanistan gefallen ist, zeigen die veränderte taktische Lage, mit der die deutschen und französischen Soldaten konfrontiert sind, seit sich die Aufstände in den letzten 18 Monaten auch auf den Norden ausgebreitet haben. Die entscheidende Entwicklung besteht darin, dass die Soldaten auch hier mittlerweile direkt angegriffen werden. Die Tatsache, dass die Angreifer ihre Attacken direkt gegen die ausländischen Soldaten richten und sich anschließend zurückziehen können, zeugt von ihrer Stärke und auch von einer tendenziell größeren Unterstützung durch Teile der Bevölkerung. Die tw. sehr ineffektiven Sprengfallen, die in den letzten Wochen unter Fahrzeugen der Bundeswehr explodierten, könnten hingegen darauf hinweisen, dass mittlerweile auch weniger "professionelle" Gruppen ohne Kontakte zu den Taliban versuchen, deren Mittel zu kopieren, um ihren eigenen kleinen Krieg gegen die Besatzung zu führen. Das Drama, bei dem deutsche Soldaten drei Menschen -- eine Frau und zwei Kinder -- töteten und weitere Kinder verletzten, indem sie höchstwahrscheinlich auf ein fliehendes Auto das Feuer mit Maschinengewehren eröffneten, ist vor diesem Hintergrund nachzuvollziehen: Die verschärfte Bedrohungslage, die größere Komplexität des Widerstandes und dessen wachsender Rückhalt in der Bevölkerung machen die Soldaten nervöser und zivile Opfer unvermeidlich. Es zeigt sich nun, dass es nicht an Unterschieden zwischen den us-amerikanischen und den vermeintlich besonneneren deutschen Einsatzkräften und Mandaten lag, dass die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung im Norden so viel geringer ausfiel als im Süden, sondern die jeweilige taktische Einsatzlage. Diese wird zukünftig auch unter den deutschen Soldaten und durch deren Schüsse immer häufiger Opfer verlangen. Dass sich Deutschland auf die Eskalation in seinem Einsatzbereich einließ, zeigt die Entsendung der Quick Reaction Force Ende Juni 2007. Auf die verschärfte Sicherheitslage wurde klassisch militärisch reagiert: Mit der Entsendung von mehr und robusteren Einheiten. Auch dies widerspricht der häufigen Darstellung deutscher Politiker, entgegen den USA setze man weniger auf eine militärische Eskalation, als auf Polizeiausbildung. Jetzt, wo die Bundesregierung mit der Eskalation auch in ihrem Verantwortungsbereich konfrontiert ist, lässt sie sich blind auf diese ein. Mit dem robusteren Vorgehen der deutschen Truppen nimmt auch deren Ansehen in der Bevölkerung weiter ab -- insbesondere durch die nun getöteten Zivilisten, auf die übrigens Soldaten das Feuer eröffnet haben, die im Rahmen der Polizeiausbildung im Einsatz waren. Warum die Strategie der Taliban aufging Dass es die Taliban geschafft haben, mit Anschlägen gegen die Zivilbevölkerung den Widerstand gegen die ausländischen Truppen auszuweiten und die Soldaten sowohl militärisch wie in der öffentlichen Meinung auch im Norden in die Defensive zu drängen, mag zunächst erstaunen. Diese Verwunderung liegt v.a. an zwei massiven Fehlwahrnehmungen, die insbesondere in Deutschland vorherrschen. Die erste besteht darin, dass der Einsatz deutscher Soldaten und der Aufbau eines neuen Staatswesens in Form einer Marionettenregierung und eilig aufgebauter Militär- und Polizeieinheiten vom Auftrag der US-geführten Truppen, der Terroristenbekämpfung und der Durchsetzung der Staatlichkeit - der Kriegführung - zu trennen wäre. Die Bundeswehr hat die ganze Zeit über einen wichtigen Beitrag zu diesem Krieg geleistet. Nicht nur, indem sie seit Mitte 2007 Aufklärungskapazitäten für Luftangriffe bereitstellt, sondern indem sie anfangs die Hauptstadt und die ganze Zeit über weniger umkämpfte Gebiete und wichtige Nachschubwege wie den Flughafen Termez in Usbekistan kontrollierte und für Unterstützungsleistungen im ganzen Land bereitstand. Über die Einsätze des Kommando Spezialkräfte und die Beteiligung der deutschen Marine bei der seeseitigen Sicherung am Horn von Afrika war Deutschland unmittelbar am us-amerikanischen "Krieg gegen den Terror" in Afghanistan beteiligt. Das wurde von den Gegnern der Intervention auch von Anfang an so wahrgenommen und natürlich betrachteten sie die deutschen Soldaten deshalb auch als Feinde. Angriffe auf sie sind Teil der Kriegsführung, wie ihre Arbeit am Aufbau eines Afghanischen Staates Teil der internationalen Kriegführung ist -- und wie Anschläge in Usbekistan, Pakistan, und auf die indische Botschaft es ebenfalls sind. Deshalb war es auch für die Bundeswehr nie möglich, einen humanitären Einsatz in Afghanistan durchzuführen. Die zweite Fehlwahrnehmung besteht darin, dass die Bundeswehr nur als Flankierung des zivilen Aufbaus entsandt worden und selbst überwiegend mit Hilfsprojekten beschäftigt gewesen sei. Doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache: 82,5 Mrd. US$ hat der gesamte ISAF-Einsatz die internationale Gemeinschaft alleine bis 2006 gekostet, von den seit 2001 zugesagten 25 Mrd. US$ für Hilfeleistungen für die Bevölkerung hat sie aber bis März 2008 nur 15 Mrd. US$ bereitgestellt -- das ist der Betrag, den der OEF-Einsatz alleine die USA jährlich kostet. Ähnlich stellt sich das Verhältnis in Deutschland dar, das 1.2 Mrd. US$ versprochen, bislang hiervon aber noch nicht einmal zwei Drittel ausgeschüttet hat.[9] Demgegenüber verursacht der ISAF-Einsatz allein in Deutschland jährlich Kosten in Höhe von fast 500 Mio. Euro (2005: 377,3 Mio.; 2006: 500,8 Mio.) - bereits ohne die mittlerweile beschlossenen Einsätze von Tornados und Quick Reaction Force. Die deutsche Beteiligung an der Operation Enduring Freedom kostet jährlich zusätzlich etwa 100 Mio. Euro und hat bis November 2007 insgesamt 842 Mio. Euro verschlungen. Laut Caritas International vergeben viele Länder ihre Gelder für zivile Projekte außerdem nur als "gebundene Hilfe", "bei der die Geldgeber ihre Unterstützung an vertraglich vereinbarte Bedingungen knüpfen, dass importierte Arbeitskräfte und Güter genutzt werden müssen -, zumeist des jeweiligen Geber-Landes".[10] Nach einer Schätzung von Oxfam International fließen so etwa 40% der Gelder zurück in die heimischen Betriebe bzw. an eine Elite der superreichen Ausländer aus den intervenierenden Staaten im Kriegsgebiet. 2007 gilt Afghanistan als eines der unterentwickeltsten Länder der Erde (174er Platz von insgesamt 178 Ländern laut UNDP HDI-Index von 2007), 68% der Bevölkerung haben demnach keinen ausreichenden Zugang zu sauberem Wasser,[11] 45% haben Probleme bei der täglichen Versorgung mit Nahrungsmitteln[12] und die Hälfte aller Kinder unter fünf Jahren leidet an Untergewicht. Anfang 2008 warnten zahlreiche Organisationen und die WHO vor einer Hungerkatastrophe in Afghanistan aufgrund der gestiegenen Nahrungsmittelpreise, die mittlerweile schon zu Demonstrationen und Streiks in afghanischen Städten führten. In einer Sonderausgabe des NATO-Brief zum Thema "Ernährung und Sicherheit" aus dem Frühjahr 2008 heißt es: "Das wichtigste Grundnahrungsmittel des Landes, Weizenmehl, ist innerhalb eines Jahres im Schnitt um fast 60 Prozent teurer geworden ... Infolge der höheren Lebensmittelpreise ist es für Millionen Afghanen äußerst problematisch, sich überhaupt zu ernähren. Die [daraus resultierenden] praktischen Sicherheitsfragen umfassen Demonstrationen ... sowie möglicherweise eine steigende Gefahr, dass junge Männer sich von regierungsfeindlichen Elementen rekrutieren lassen. Angriffe von kriminellen Gruppierungen und regierungsfeindlichen Elementen auf Lebensmittelhilfe-Konvois sind ein Problem in vielen Gegenden."[13] Das "Weiter so!" entlarvt die wahren Interessen Auf der bereits erwähnten Konferenz der RAND Corporation im Juni 2007 wurde der schnelle militärische Sieg 2001/2002 in Kabul u.a. darauf zurückgeführt, dass sich die Taliban aufgrund innerer Streitigkeiten und wachsendem Widerstand in der Bevölkerung sowie unter den Stammeseliten seinerzeit ohnehin in der Defensive befanden.[14] Heute können sie wieder Allianzen schmieden und ein ganzes Bündel an Aufständen anführen, was ihren ideologischen Einfluss auf die überwiegend gemäßigt muslimische Bevölkerung weiter erhöht. Deren wirtschaftliche Lage hat sich derweil mit der Intervention keineswegs verbessert und immer mehr Menschen lassen sich deshalb für den Widerstand gewinnen. Derart in die Defensive gedrängt, versuchen die westlichen Militärs bereits seit längerer Zeit klar zu stellen, dass es ihnen weder möglich ist noch sie es als ihren Auftrag sehen, etwa zur Verbesserung der Lage der Frauen beizutragen. Auch die Aussage, Deutschlands Sicherheit werde am Hindukusch verteidigt, hat sich mittlerweile als Lüge oder eklatante Fehleinschätzung erwiesen: Nach Auffassung aller Geheimdienstexperten erhöht die deutsche Beteiligung am Afghanistankrieg die Gefahr terroristischer Anschläge hierzulande. Jung begründete den Tod eines 29jährigen Soldaten am1.9.2008 jedoch immer noch mit den Worten: "Er kam ums Leben, weil er sich aktiv für eine bessere Zukunft in Afghanistan und damit auch für die Sicherheit in unserem Land eingesetzt hat". Politiker aus Regierung und Opposition forderten daraufhin eine Diskussion um den Zweck des Einsatzes. Wenn Soldaten sterben und verwundet werden und zu Dutzenden traumatisiert zurückkehren, dann müssen die Interessen hinter dem Einsatz klar benannt werden. Auch dies ist bereits Mitte 2007 geschehen, als Lothar Rühl mit dem Märchen brach, deutsche Soldaten wären für die Frauenrechte oder die Sicherheit in Deutschland in Afghanistan und feststellte: "Die inneren und die äußeren Bedingungen an den Grenzen des Landes [Afghanistan] sind in der Konstellation seit 2001 nicht günstiger geworden. Eine negative Entwicklung zeichnet sich seit etwa 2003 ab. Sie hat sich in jedem Jahr netto verstärkt." Er definierte daraufhin fünf "strategische Interessen", die Deutschlands Beteiligung am Krieg begründen sollten: 1. "Nach der Staatsraison der Bundesrepublik seit 1949 werden die nationalen Interessen euro-atlantisch definiert". Ein Bruch mit USA und NATO würde dieser Staatsraison widersprechen. Die Ausweitung des deutschen Engagements in Afghanistan "ist auch als eine politische Kompensation für die Nichtbeteiligung im Irak anzusehen". 2. Die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit deutscher Außenpolitik müsse sich in Afghanistan beweisen; 3. "[D]as deutsche außenpolitische Interesse an einer hervorgehobenen internationalen Rolle ... schließt militärisches Engagement ... ein". 4. Um reibungslosen Welthandel und Energieversogungssicherheit zu gewährleisten sind "maritime Kapazitäten und schnell bewegliche Flottenpräsenz im Mittelmeer, in der Arabischen See, im Persischen Golf und im Indischen Ozean [besonders wichtig]. Die EU-Staaten können diese nicht allein herstellen und dauernd einsatzbereit halten. Maritime Sicherheit setzt die Verbindung zu den USA und den US-Seestreitkräften in der NATO voraus. Die alliierten Seestreitkräfte der NATO sind im deutschen Interesse unersetzlich. Damit sind der Erfolg der NATO in Afghanistan und der Bestand der Allianz ein deutsches strategisches Interesse..." 5. Die Lage in Afghanistan hat sich seit Beginn des Einsatzes so weit verschlechtert, "dass die NATO nicht einfach einen Schlussstrich ziehen und das Feld räumen kann, ohne eine Katastrophe zu hinterlassen." Deshalb seien "mehr Bodentruppen für verstärkte Präsenz und vermehrten Einsatz" erforderlich.[15] Kurz gesagt: Die deutschen Soldaten sterben für das Bündnis mit den USA, für einen Fortbestand der NATO und für mehr politisches Gewicht Deutschlands auf der Weltbühne. Der Misserfolg der bisherigen militärischen Strategie soll durch noch mehr Soldaten wett gemacht werden. Der Irak ist immer der Irak der anderen Öffentlichkeit und Politik sträuben sich in Deutschland, diese Ziele des Afghanistankrieges und damit dessen Sinnlosigkeit anzuerkennen. Dies wäre auch tatsächlich schmerzhaft. Deshalb halten sie gerne an den Märchen fest, die Bundeswehr agiere als eine Art bewaffnetes THW und befände sich nicht inmitten eines längst verlorenen Krieges, der einzig deshalb weitergeführt wird, weil sich die NATO keine Niederlage eingestehen will. Mittlerweile ist die Sicherheitslage in Afghanistan dramatischer als im Irak und dort sterben sowohl mehr ausländische Soldaten als auch einheimische ZivilistInnen. Dennoch soll über das Mandat nicht diskutiert werden. Wer den deutschen Einsatz hinterfrage, spiele den Terroristen in die Hände, heißt es. Die einzige Lösung lautet: "Volle Kraft voraus", ein Rückzug steht nicht zur Debatte. In Deutschland erinnert die Situation hingegen an die Kritik an den USA auf dem Höhepunkt des Krieges im Irak. Damals erkannte die halbe Welt, dass der Krieg verloren ist und die Region nur destabilisiert hat und sie schaute kopfschüttelnd auf die USA, wo zwar ein wachsender Teil der Bevölkerung dies erkannt hat, die Regierung aber immer mehr Soldaten in die Schlacht schickte. Erstaunlicherweise sind es heute in der deutschen Debatte gerade auch Teile der Linken, die immer noch an ein besseres Mandat und die besseren deutschen Soldaten glauben und deshalb der Forderung nach einem sofortigen Abzug der Bundeswehr widersprechen. Das größere Vertrauen, das sie in die "eigene" Armee und Regierung gegenüber der us-amerikanischen setzen, ist befremdlich. Die Forderung, die sie damit implizit oder explizit an die Regierung stellen, besteht darin, weiter deutsche Soldaten per Befehl nach Afghanistan zu entsenden, wo sie sterben, verletzt oder traumatisiert werden können. Diese Forderung folgt implizit der Darstellung der Regierung, dass die Soldaten zum Schutz entsandt und die Aufstände niederzuschlagen wären. Sie überschätzt darüber hinaus, wie so oft, die deutsche Rolle. Denn ohne Deutschland wären nicht plötzlich alle ausländischen Soldaten aus Afghanistan verschwunden und das Land würde nicht in ein noch größeres Chaos versinken, als es das jetzt tut. Der deutsche Abzug könnte lediglich Anlass auch für andere Staaten sein, ihre Truppen abzuziehen. Dies würde auch von den verbleibenden einen defensiveren Ansatz verlangen und auf internationaler Ebene erzwingen, dass den zivilen Instrumenten mehr Aufmerksamkeit, Gewicht und das eingesparte Geld, das zuvor in Militäreinsätze floss, zukommt.[16] Und ein Abzug würde es der afghanischen Bevölkerung zugestehen, mit internationaler Hilfe und Schritt für Schritt die Taliban selbst zurückzudrängen -- anstatt die Bevölkerung in die Arme der Islamisten zu treiben. Anmerkungen [1] Conrad Schetter: Talibanistan - oder das Ende staatlicher Ordnung, in: Wissenschaft & Frieden 3/2008. [2] Vgl. jüngst die Reportage von Elizabeth Rubin: Üble Tage in Kunar, in: Lettre International 81. [3] "We now know that we are dealing with a real resistance movement" in: "Democracy Remains the Goal", Tom Koenigs im Interview mit dem Spiegel, 10.8.2006. [4] Beth Cole / Catherine Morris: The Situation in Afghanistan - A Re-evaluation Needed, US Institute for Peace Briefing April 2007 [5] Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 16/102 [6] Lothar Rühl: Nicht nur eine Definitionsfrage -- Deutsche Interessen in Afghanistan, in: Strategie & Technik, Juni 2007 [7] Samina Ahmed: Are We Learning? Military Engagement - The Taliban, Past and Present, in: Cheryl Benard u.a.: Afghanistan - State and Society, Great Power Politics, and the Way Ahead Findings from an International Conference, Copenhagen, Denmark, 2007 [8] Jason Burke: This enemy is media friendly and has a bewildering array of allies and rivals, in: The Guardian, 22.9.2008 [9] Matt Waldman: Falling Short - Aid Effectiveness in Afghanistan, ACBAR Advocacy Series, Oxfam 2008, http://www.oxfam.org/files/ACBAR_aid_effectiveness_paper_0803.pdf [10] Caritas International: Positionspapier zur Nothilfe in Afghanistan -- Caritas fordert Strategiewechsel für Afghanistan, http://www.caritas-international.de/hilfsprojekte/asien/afghanistan-aufbauhilfe_im_hazarajat/positionspapier_zur_nothilfe_in_afghanistan/49445.html [11] UNDP: Afghanistan human Development Report 2007 - Bridging Modernity and Tradition: Rule of Law and the Search for Justice [12] Caritas International, a.a.o. [13] Was bedeutet die Nahrungsmittelkrise in Afghanistan?, in: NATO-Brief "Ernährung und Sicherheit", NATO, 2008, http://www.nato.int/docu/review/2008/05/FS_AFGHANISTAN/DE/index.htm. [14] Samina Ahmed, a.a.o. [15] Lothar Rühl, a.a.o. [16] Afghanistan-Dossier des "Monitoring-Projekts Zivile Konfliktbearbeitung", im Erscheinen. -------------- nächster Teil -------------- Ein Dateianhang mit HTML-Daten wurde abgetrennt... URL: https://listi.jpberlin.de/pipermail/imi-list/attachments/20080909/0098e46e/attachment.htm From imi at imi-online.de Fri Sep 19 13:01:06 2008 From: imi at imi-online.de (Informationsstelle Militarisierung) Date: Fri, 19 Sep 2008 13:01:06 +0200 Subject: [IMI-List] [0295] Studie Afghanistan / Analyse EU-Mission in Georgien Message-ID: <48D38672.7020202@imi-online.de> ---------------------------------------------------------- Online-Zeitschrift "IMI-List" Nummer 0295 .......... 12. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563 Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. Red.: IMI / Christoph Marischka / Jürgen Wagner Abo (kostenlos)........ IMI-List-subscribe at yahoogroups.com Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste.php3 ---------------------------------------------------------- Liebe Freundinnen und Freunde, in dieser IMI-List finden sich 1) der Hinweis auf eine neue Studie zum Krieg in Afghanistan; 2) eine Analyse zur Entsendung einer EU-ESVP-Mission nach Georgien 1) Neue IMI-Studie zum Krieg in Afghanistan Am morgigen Samstag werden in Stuttgart und Berlin Großdemonstrationen gegen den NATO-Krieg in Afghanistan stattfinden. Viele Argumente gegen den Einsatz finden sich in der aktuellen Zeitung gegen den Krieg, in der auch zwei IMI-Beiträge veröffentlicht sind (bestellbar unter: Zeitung-gegen-den-Krieg at gmx.de). Hier nun die neueste IMI-Studie, die sich ausführlichen mit den verschiedensten Aspekten des Krieges in Afghanistan beschäftigt: IMI-Studie 2008/11 Lackmustest Afghanistan: Der Hindukusch als Experimentierfeld für Zivil-militärische Aufstandsbekämpfung und Neoliberalen Kolonialismus http://www.imi-online.de/download/IMI-Studie-2008-11.pdf 16.9.2008, Jürgen Wagner INHALTSVERZEICHNIS Einleitung: Lackmustest Afghanistan Teil 1: Vom Stabilitätsexport zur Aufstandsbekämpfung 1.1 Phasen der ISAF-Expansion 1.2 OEF und ISAF: Zwei Truppen, derselbe Krieg 1.3 Eskalation in Afghanistan 1.4 ISAF: Robuste Einsatzregeln zur Aufstandsbekämpfung Teil 2: Deutschland: Per Salamitaktik immer tiefer in den Krieg 2.1. Deutsche Kriegsinteressen 2.2 Die Bundeswehr im Süden Afghanistan 2.3 Schritte über den Rubikon 1: Tornado-Einsatz 2.4 Schritte über den Rubikon II: Die Quick Reaction Force 2.5 Schritte über den Rubikon III: Ausweitung des Afghanistan-Mandates Teil 3: Kolonialismus unter dem Deckmantel von Demokratieexport und Frauenrechten 3.1 Krieg für Frauenrechte? 3.2 Afghanistans Scheindemokratie 3.3 NATO-Kolonie Afghanistan Teil 4: Neoliberales Nationbuilding: Afghanistan als Selbstbedienungsladen 4.1 Umgestaltende Besatzungen 4.2 Die neoliberale Zurichtung Afghanistans 4.3 Die Afghanistan Gmbh Teil 5: Humanitäres Desaster und Guerillakrieg im Eigenbau 5.1 Humanitäre Katastrophe 5.2 Alles Taliban? Armut und Krieg als Triebfedern des Widerstands 5.3 Besatzung als Terrorbekämpfung: ein gefährlicher Irrweg Teil 6: Zivil-Militärische Aufstandsbekämpfung in Afghanistan 6.1 Von der Verteidigungs- zur Interventions- zur Besatzungsarmee 6.2 Effektiver Kolonialismus: Die CIMIC-Logik der NATO 6.3 Afghanistan: Entwicklungshilfe im Kampfanzug 6.4 Von Helfern zu Kollaborateuren zu Anschlagszielen 7. Deutschland und die NATO: Operationsschwerpunkt Zivil-militärische Aufstandsbekämpfung 7.1 Aufstandsbekämpfung als Dauerauftrag I: NATO 7.2 Aufstandsbekämpfung als Dauerauftrag II: Deutschland Fazit: Die NATO raus aus Afghanistan -- sofort! http://www.imi-online.de/download/IMI-Studie-2008-11.pdf 2) Analyse zur Entsendung einer EU-ESVP-Mission nach Georgien Am Montag hat die Europäische Union beschlossen, eine Beobachtermission nach Georgien zu entsenden. Wir haben deshalb die aktuelle IMI-Studie zum Georgienkrieg aktualisiert (http://imi-online.de/2008.php3?id=1819) und beleuchten in folgender Analyse kritisch die Hintergründe der jetzt beschlossenen EU-Mission: IMI-Analyse 2008/029 Die ESVP-Mission in Georgien "Vom Wasserträger zum Führungsspieler" oder der Krieg in Georgien als Geburtsstunde des neuen Imperiums EU? http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1824 http://www.imi-online.de/download/IMI-Analyse29-2008.pdf 19.9.2008, Tobias Pflüger Am 15. September beschlossen die Außenminister der Europäischen Union (EU) während ihres Gipfeltreffens in Brüssel, spätestens bis zum 1. Oktober 2008 eine EU-Beobachter-Mission im Rahmen der so genannten Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) nach Georgien zu entsenden. Diese EU-Beobachter-Mission soll u.a. das Waffenstillstandsabkommen im Krieg zwischen Georgien und Russland überwachen, das auf EU-Vermittlung zustande kam. Diese Entscheidung ist aus mehreren Gründen sehr problematisch: 1. Die Mission soll die Einhaltung eines Abkommens überwachen, von dem es nach Angaben des französischen Außenministers Bernard Kouchner verschiedene Fassungen gibt, somit gibt es bei der Auslegung des Waffenstillstandsabkommens erhebliche Meinungsunterschiede zwischen der russischen Regierung und der EU, vertreten durch die französischen EU-Ratspräsidentschaft. 2. Die Europäische Union ist in diesem Konflikt nicht neutral, mehr und mehr ergreift sie einseitig zugunsten Georgiens Partei und betreibt damit de facto auch eine dezidiert anti-russische Politik. Da die zu entsendenden Beobachter unter ausschließlicher Hoheit der Europäischen Union agieren sollen, ist auch von ihnen kein unparteiisches Verhalten zu erwarten. 3. Die EU will über ihre Präsenz vor Ort ihren Einfluss in der energiereichen kaspischen Region ausdehnen und so eine Führungsrolle im dortigen Machtpoker übernehmen, weitere Konflikte mit Russland sind somit vorprogrammiert. Die Mission steht damit symbolhaft für den machtpolitischen Expansionsdrang der Europäischen Union, den Beobachter nicht von ungefähr als Anzeichen für die Herausbildung eines Europäischen Imperiums bewerten. Notwendig wäre stattdessen eine wirklich neutrale Beobachtermission, die von beiden Kriegsseiten akzeptiert ist und die somit nur im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), versehen mit einem Mandat der Vereinten Nationen (UN) möglich ist. Sie sollte sich aus Beobachtern zusammensetzen, deren Staaten keine eigenen strategischen und machtpolitischen Interessen in der Region haben oder mit dieser Beobachtermission verbinden. Alle diese Kriterien treffen auf die geplante EU-Mission nicht zu, sie ist somit abzulehnen. EU-Mission: "EUMM Georgia" Schon seit Längerem bereitete man sich in Brüssel darauf vor, eine Beobachtermission zur Überwachung des Waffenstillstandsabkommens zwischen Russland und Georgien (6-Punkte-Plan) zu entsenden. Auf der Ratssitzung am 15. September einigten sich die EU-Außenminister nun darauf, dass der European Union Monitoring Mission (EUMM) genannte ESVP-Einsatz spätestens am 1. Oktober beginnen soll. Die EUMM soll zunächst 12 Monate dauern und insgesamt 232 EU-Beamte (v.a. Polizisten) umfassen. Hinzu kommen noch 30 lokale Mitarbeiter. Den Löwenanteil davon entsenden Frankreich (60 bis 76), Deutschland (40: davon 20 Polizisten und über das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF) in Berlin rekrutierte Personen), Italien (40), Polen (30), Schweden (27) und Großbritannien (27). Kostenpunkt des Einsatzes: 31 Mio. Euro aus Töpfen der EU (hinzu kommen noch einzelstaatliche Ausgaben für Gehälter, etc.). Das Hauptquartier des Einsatzes soll in Tiflis errichtet werden, wobei auch die Rede davon ist, dass Regionalbüros in Gori, Zugdidi, Poti eingerichtet werden sollen. Wichtig ist, dass der Einsatz, den der deutsche Hansjörg Haber leiten wird, von der Europäischen Union in Eigenregie durchgeführt wird: "Die EUMM wird nicht unter der Aufsicht der Vereinten Nationen (UN) oder der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) durchgeführt werden. Stattdessen wird sie eine eigenständige Mission, die von der EU im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) geführt wird." (Euractiv, 16.09.08) Umstrittenes Mandat Das EUMM-Mandat umfasst vor allem drei Aufgabenbereiche. Die Mission soll zur Stabilisierung, Normalisierung und Vertrauensbildung im Georgien-Konflikt und in der gesamten Region beitragen (darüber hinaus soll sie beratend für die weitere EU-Politik in der Region tätig werden). Ein wichtiger Streitpunkt liegt in den Passagen zur Stabilisierung der Situation. Dem Mandat zufolge soll die EUMM "die Lage bezüglich des Stabilisierungsprozesses überwachen, analysieren und über sie auf Grundlage der vollen Einhaltung des 6-Punkte-Plans, einschließlich des Truppenrückzugs, berichten..." Über die genaue Interpretation des Abkommens bestehen aber - milde formuliert - erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Dies hängt ganz wesentlich mit einer "Panne" der französischen Krisendiplomatie zusammen, denn es gibt zwei völlig unterschiedliche Fassungen des 6-Punkte-Plans: "Der französische EU-Vorsitz musste eine Übersetzungspanne bei dem Waffenstillstands-Abkommen für den Kaukasus einräumen In der russischen Übersetzung lautet der Text in einem zentralen Punkt anders als im französischen Original. Nach Darstellung von Außenminister Kouchner ist im Original des Friedensabkommens von der Sicherheit 'in' den abtrünnigen georgischen Provinzen Südossetien und Abchasien die Rede. In der russischen Übersetzung geht es dagegen um die Sicherheit 'für' die Regionen. Die Formulierung ist entscheidend, da Russland daraus das Recht auf Pufferzonen auf georgischem Territorium vor den jeweiligen Provinzen ableitet." (NZZ, 08.09.2008) Zwar haben sich Russland und die Europäische Union am 8. September tatsächlich darauf geeinigt, dass Moskau seine Truppen spätestens 10 Tage nach Entsendung der EU-Mission aus Georgien zurückzieht, wohin und in welcher Form, bleibt allerdings umstritten. Überprüfen kann man jedoch die jeweiligen Standpunkte nicht, denn was im 6-Punkte-Plan genau festgelegt ist, darüber kann lediglich spekuliert werden: "Der Originaltext des Abkommens ist öffentlich nicht zugänglich, er liegt nicht einmal in den Außenministerien anderer EU-Staaten vor." (FAZ, 21.08.2008) Sowohl der Hohe Beauftragte der EU für Außen- und Militärpolitik Javier Solana als auch der Europaminister der französischen Ratspräsidentschaft Jean-Pierre Jouyet verweigerten beide auf Nachfragen im Auswärtigen Ausschuss nach dem Wortlaut des Originaltextes des Abkommens genauere Angaben. Die russische Regierung scheint augenblicklich zwar nicht darauf zu drängen, ihre Soldaten in einer Pufferzone um Abchasien und Südossetien stationiert zu lassen, sie pocht aber darauf, in beiden abtrünnigen Provinzen, deren staatliche Unabhängigkeit sie inzwischen anerkannt hat, künftig mit je etwa 3800 Soldaten präsent zu bleiben, doppelt so viele wir vor Ausbruch der Feindseligkeiten. Während Russland diesen Schritt vom 6-Punkte-Plan gedeckt sieht, erachtet die Europäische Union dies als eine Verletzung des Abkommens. Ganz deutlich bezieht die NATO in dieser Frage Position: "Nato-Generalsekretärs Jaap de Hoop Scheffer sagte, damit sei der EU-Friedensplan nicht eingehalten. Russland werde damit erlaubt, seine militärische Präsenz in den beiden abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien zu verstärken." (Reuters, 15.09.2008) Ein wichtiger Streitpunkt war auch, in welchem Bereich die EU-Beobachter agieren sollen, nämlich ob die EU-Beobachter ausschließlich im Kernland Georgiens oder auch in Abchasien und Südossetien tätig werden sollten. Im Ratsentwurf für das EUMM-Mandat, der bislang einzigen vorliegenden Arbeitsgrundlage, werden in Artikel 2 nicht weniger als drei Formulierungen zum Stationierungsgebiet gewählt, die jede für sich alles und nichts bedeuten können ("on a country-wide base", "in Georgia", "throughout Georgia"). Aus diesem Grund fragte ich Javier Solana am 10. September im Auswärtigen Ausschuss des Europäischen Parlamentes nach dem konkreten Aktionsradius der EU-Beobachter, woraufhin ich folgende Antwort erhielt: "Der Einsatz der EU-Beobachter in Südossetien und Abchasien sei mit Russland nicht abgesprochen, räumte Solana in Brüssel vor dem Auswärtigen Ausschuss des Europaparlaments ein. Die Beobachter sollten aber 'in dem Geist entsandt werden, überall stationiert zu werden.'" (AFP, 10.09.2008). Zwar wurde noch keine endgültige Entscheidung getroffen, ob auf einer Stationierung in den abtrünnigen Provinzen letztlich auch bestanden werden wird, in jedem Fall widerspricht aber auch hier die Brüsseler Interpretation der Vereinbarungen diametral derjenigen Moskaus: "Russlands Regierungschef Wladimir Putin sagte der Pariser Zeitung Le Figaro, dass die Abchasen und Südossetien einer Entsendung von EU-Beobachtern zustimmen müssten. 'Südossetien und Abchasien sind jetzt souveräne Staaten', erklärte Putin. Südossetien hatte den Einsatz bereits abgelehnt." (Die Zeit 15.9.08) Angesichts dieser haarsträubenden "Pannen", die der französischen Krisendiplomatie in der letzten Zeit unterlaufen sind, fällt es einem schwer, dabei an Zufall zu glauben. In jedem strittigen Punkt versucht die Europäische Union, beiderseitige Vereinbarungen mit der Folge einseitig umzuinterpretieren, dass Russland als böser Bube dasteht. EU mischt mit im kaspischen Energie- und Machtpoker Beim Ratstreffen am 15. September wurde nicht nur die ESVP-Mission beschlossen, sondern mit dem französischen Diplomaten Pierre Morel auch ein EU-Sonderbeauftragter für Georgien ernannt. Diese Entscheidung spiegelt das wachsende Interesse Brüssels wieder, seinen Einfluss in der Region auszudehnen. Denn Morel war zuvor EU-Botschafter in Zentralasien und damit maßgeblich mitverantwortlich dafür, dass die Region aufgrund ihres Energiereichtums ins geopolitische Fadenkreuz der EU gerückt wurde. Hierzu schrieb der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier Anfang des Jahres: "Es geht um eine Region mit gewaltigen Energieressourcen. [...] Ich meine den Schwarzmeerraum und Zentralasien: beides Regionen mit einem enormem Potential für die Zusammenarbeit; beides Regionen, die wir deshalb während unserer Präsidentschaft in den Fokus europäischer Außenpolitik gerückt haben. [...] Das macht uns zu einem Spieler in einer Region, die nicht nur als Energie- und Transportkorridor heftig umworben wird, sondern die auch eine wichtige Brückenfunktion hat: in den Nahen und Mittleren Osten oder hin zum Kaspischen Meer." (Rede von Frank-Walter Steinmeier, 04.03.2008, URL: http://tinyurl.com/4kvsom) Parallel zur Ernennung des EU-Sonderbeauftragten für Georgien verabschiedete die Europäische Union ein Hilfspaket für das Land in Höhe von 500 Mio. Euro, was allerdings keineswegs eine rein karikative Maßnahme darstellt. Vielmehr soll mit einem Teil der Gelder ein zentrales, gegen Russland gerichtetes Pipelineprojekt vorangetrieben werden. Dabei handelt es sich um die Nabucco-Pipeline, mit der zentralasiatisches Gas unter Umgehung Russlands nach Europa gebracht und damit Moskaus bisheriges Transportmonopol gebrochen werden soll. Da die Pipeline auch über georgisches Territorium verlaufen soll, vergrößerte der Georgien-Krieg ohnehin vorhandene Zweifel an der Realisierbarkeit des Projektes. Die EU beabsichtigt deshalb, "dem schwer angeschlagenen Nabucco Pipeline Projekt einen Schub zu verschaffen." (Europolitics, 16.09.08) Darin besteht explizit eine der Hauptaufgaben des angekündigten Hilfspaketes: "Teile dieser finanziellen Hilfe würden den Bereichen Energie und Infrastruktur in Georgien zugute kommen, erklärte die Kommissarin, da man befürchte, dass sich das Pipeline-Vorzeigeprojekt der EU, Nabucco, das Gas aus anderen Ländern als Russland nach Europa liefern soll, nach dem russischen Einmarsch in Georgien in der Schwebe befinden könnte." (Euractiv, 16.09.2008) Ein wichtiges Detail in diesem Zusammenhang enthüllt das Nachrichtenmagazin Europolitics (16.09.2008): "Die russische Invasion Georgiens hat ernsthafte Zweifel an der Durchführbarkeit von Nabucco verursacht, nicht zuletzt da sie droht, astronomische Versicherungskosten zu verursachen, um die Risiken eines bewaffneten Konflikts abzudecken." Pikant ist deshalb in diesem Kontext folgender Satz des EUMM-Mandats, der nur so zu verstehen ist, dass die ESVP-Mission gewissermaßen als Rückversicherung in Georgien stationiert werden soll, um die Realisierbarkeit der Nabucco-Pipeline zu garantieren: "Die Mission wird außerdem die Sicherheit von Transportverbindungen, Energieinfrastruktur und Einrichtungen überwachen..." Die EUMM ist damit integraler Bestandteil der EU-Geopolitik, mit einer neutralen Beobachtermission hat sie nichts zu tun. Sie ist aus diesem Grund abzulehnen. Die Stunde der Euro-Chauvinisten Die Europäische Union hat den Krieg in Georgien erfolgreich dazu genutzt, ihren machtpolitischen Aufstieg weiter voranzutreiben - es schlug die Stunde der Euro-Chauvinisten. So kommentierte Jochen Bittner, Europa- und Nato-Korrespondent der ZEIT in Brüssel, die Ereignisse in einem Artikel mit dem bezeichnenden Titel "Imperium Europa: Die neue Nato heißt EU. Welches Bündnis sorgt eigentlich noch für mehr Sicherheit in Europa? Die Nato oder die EU?" mit folgenden Worten: "Das Resümee der Georgien-Krise lautet deshalb: Das Solidaritäts- und Sicherheitsversprechen des Westens hat sich nach Osten verschoben. Weg von der Nato, hin zur EU. Der Westen ist nicht mehr Washington-zentrisch, er ist Brüssel-zentrisch." (Die Zeit, 18.09.2008) Ganz ähnlich äußert sich der CSU-Europaabgeordneten Ingo Friedrich mit Blick auf die jüngste EU-Mission: "Wir haben es durch Lernbereitschaft und Disziplin auf der diplomatischen Weltbühne vom Wasserträger zum Führungsspieler geschafft." (http://www.cducsu.eu/content/view/5213/4/) Wenn die Europäische Union nicht endlich ihre immer dezidiert anti-russisch agierende Politik verändert - die Ersetzung der EUMM durch eine wirklich neutrale OSZE-Beobachtermission wäre hier ein sinnvoller erster Schritt -, dann drohen schwere Auseinandersetzungen mit Russland. Da man hierzu aber nicht bereit ist, prognostiziert die FAZ (15.9.08) nüchtern: "Eine sichere Lehre aus der kaukasischen Krise gibt es jedoch: Der Westen sollte sich darauf vorbereiten, dass im Verhältnis zu Moskau noch ganz andere Unwetter aufziehen können." From imi at imi-online.de Thu Oct 9 18:12:41 2008 From: imi at imi-online.de (Informationsstelle Militarisierung) Date: Thu, 09 Oct 2008 18:12:41 +0200 Subject: [IMI-List] [0296] Afghanistan-Abstimmung / Neuer AUSDRUCK / IMI-Kongress / Analyse zu Irak Message-ID: <48EE2D79.30606@imi-online.de> ---------------------------------------------------------- Online-Zeitschrift "IMI-List" Nummer 0296 .......... 12. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563 Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. Red.: IMI / Christoph Marischka / Jürgen Wagner Abo (kostenlos)........ IMI-List-subscribe at yahoogroups.com Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste.php3 ---------------------------------------------------------- Liebe Freundinnen und Freunde, in dieser IMI-List finden sich 1) der Hinweis auf eine Email-Aktion zur Bundestagsabstimmung über den Afghanistan-Einsatz; 2) Links auf alle Texte des neuen AUSRUCK (Oktober 2008); 3) Materialien und Programm zum IMI-Kongress am 9./10.11.2008; 4) eine Analyse zur gegenwärtigen Situation im Irak. 1) E-Mail Aktion an die Bundestagsabgeordneten Die DFG/VK Baden-Württemberg hat mit anderen Friedensgruppen eine Email-Aktion vorbereitet, durch welche die Abgeordneten aufgefordert werden, gegen das erweiterte Mandat zu stimmen. Wir dokumentieren die Presseerklärung zu dieser Aktion gemeinsam mit dem Verweis auf unsere neuesten Texte zum Krieg in Afghanistan. http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1830 2) Neuer AUSDRUCK (Oktober 2008) erschienen Die Oktober-Ausgabe des AUSDRUCK befasst sich intensiv mit dem Krieg in Georgien und der dort geplanten EU-Mission. Besonders empfehlen möchten wir auch die Analyse von Jonna Schürkes zur US-Militärpolitik gegenüber Lateinamerika. Wie immer erhalten unsere Mitglieder den AUSDRUCK per Post, alle Artikel werden aber auch im Internet zur Verfügung gestellt. Es folgt das Inhaltsverzeichnis mit den Links zu den einzelnen Texten. Die gesamte Ausgabe des Magazins kann hier herunter geladen werden: http://www.imi-online.de/download/AUSDRUCK-Okt-2008.pdf INHALTSVERZEICHNIS Georgienkrieg -- Martin Hantke Georgienkrieg und imperiale Geopolitik http://www.imi-online.de/download/MH-Okt08-Georgien.pdf -- Tobias Pflüger Die ESVP-Mission in Georgien http://www.imi-online.de/download/TP-Okt08-Georgien.pdf Afghanistan und Irak -- Claudia Haydt Afghanistan: Chronik einer angekündigten Niederlage http://www.imi-online.de/download/CH-Okt08-Afghanistan.pdf -- Joachim Guilliard Kein Weg vorwärts - Irak nach dem Surge http://www.imi-online.de/download/JG-Okt08-Irak.pdf Lateinamerika -- Jonna Schürkes "Homeland Security" an der "Südflanke" http://www.imi-online.de/download/JS-Okt08-Lateinamerika.pdf EU-Militarisierung -- Tobias Pflüger Militärische Meeresabenteuer der EU und Deutschlands http://www.imi-online.de/download/TP-Okt08-NAVCO.pdf -- Jürgen Wagner Lissabon-Vertrag hin oder her http://www.imi-online.de/download/JW-Okt08-Lissabon.pdf 3) Programm und Materialien zum IMI-Kongress Das endgültige Programm des diesjährigen IMI-Kongresses mit dem Titel "Kein Frieden mit der NATO" ist fertig. Auf unserer Sonderseite können auch Plakate und Flugblätter herunter geladen werden: http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1821 4) Analyse zur gegenwärtigen Situation im Irak IMI-Analyse 2008/032 - in: AUSDRUCK (Oktober 2008) Irak - kein Weg vorwärts http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1829 8.10.2008, Joachim Guilliard Kein Weg vorwärts Der Irak nach dem surge Nicht nur die US-Regierung, sondern auch die Mainstream-Medien zeichnen seit einiger Zeit wieder ein positives Bild von der Entwicklung im Irak. Die neue Strategie "Ein neuer Weg vorwärts" hätte Früchte getragen, die als "Surge" (dt.: Woge, Flut, Zunahme ?) bezeichnete zeitweilige Erhöhung der Truppenstärke und die Ausweitung der Militäroperationen, so der Tenor, habe gewirkt. Die Lage sei nun unter Kontrolle und die Gewalt zurückgegangen. Erfreulicherweise ging die Gewalt in der Tat spürbar zurück, allerdings nur verglichen mit dem extrem hohen Niveau zuvor. Verantwortlich für diesen Rückgang war auch weniger die neue US-Strategie, sondern innerirakische Faktoren. In den von ihr betroffenen Gebieten führte sie sogar zu einer Eskalation der Kampfhandlungen. Darüber hinaus sind, wie auch das General Accounting Office (GAO), der oberste Rechnungshof der USA, feststellte, keine grundlegenden Verbesserungen der allgemeinen Bedingungen zu erkennen, die Lage ist für den größten Teil der irakischen Bevölkerung so miserabel wie eh und je (siehe Kasten - nur in der PDF-Version).[1] Die Surge hat vielmehr, so z.B. General William Odom, zu einer weiteren Fragmentierung der politischen Verhältnisse geführt, die den Irak - durchaus absehbar - weiter destabilisiert.[2] Die Bush-Administration traut dem Erfolg offenbar selbst nicht - nur ein Teil der zusätzlichen Truppen wurde wieder abgezogen und auch nach Ende der zweiten Amtszeit von George W. Bush werden weit mehr Truppen im Irak stehen, als zu Beginn. Die "Surge" - eine Eskalation des Krieges Wirklich belegbar bei den Erfolgsmeldungen aus Washington ist nur der Rückgang US-amerikanischer Verluste. Im Juli 2008 lag die Zahl getöteter US-Soldaten auf dem niedrigsten Stand seit Beginn des Krieges. Doch lässt sich daraus auch auf verbesserte Sicherheitsbedingungen für die irakische Bevölkerung schließen? Azzaman, eine der renommiertesten irakischen Zeitungen, verneint die Frage und verweist nicht zuletzt auf die zahlreichen Militäroperationen US-amerikanischer und irakischer Truppen, die nach wie vor in verschiedenen Provinzen "eine Spur der Zerstörung und zahlreiche Opfer zurücklassen" würden. "Der drastische Fall der US-Verluste geht einher mit einem drastischen Anstieg von irakischen Toten und Verletzten", so das Blatt. Doch "die USA führen keine Liste der Iraker, die sie töten, ebenso wenig die irakische Regierung."[3] In der Tat liegen über die aktuelle Zahl irakischer Opfer keine verlässlichen Angaben vor. Gemäß Statistiken, die auf Basis von westlichen Medienberichten zusammengestellt wurden, ging die monatliche Zahl getöteter Iraker, nach Rekordhöhen in der Hochphase der "Surge", wieder auf das Niveau von 2005 zurück, d.h. auf den Stand, bevor die Gewalt nach dem Anschlag auf die Goldene Moschee in Samara explodierte.[4] Doch auch damals schon wurden gemäß der Lancet-Studie von 2006 fast 4.000 IrakerInnen pro Woche getötet. Mit der Truppenerhöhung hat dieser Rückgang der Gewalt allerdings wenig zu tun, dort wo er am deutlichsten ist, in der sunnitischen Widerstandshochburg Anbar und in Basra, waren sogar Truppen abgezogen worden. Entscheidend waren vielmehr andere Faktoren, vor allem das Bündnis mit sunnitischen Stammesmilizen und die einseitige Waffenruhe, die der prominente Kleriker Muqtada al Sadr seiner Miliz, der Mehdi-Armee, verordnete. Auch das Ende der Angriffe und des Terrors durch schiitische Milizen und sunnitische Extremisten nach der erfolgreichen Vertreibung der bekämpften Minderheiten trug erheblich zum Rückgang innerirakischer Gewalt bei.[5] Eskalation aus der Luft Der Rückgang der US-Verluste ist vor allem auf die drastische Reduzierung des Einsatzes von Boden-Truppen zurückzuführen. Die US-Streitkräfte setzen stattdessen zunehmend auf die Luftwaffe und überlassen die Kämpfe am Boden den irakischen Hilfstruppen. Waren bereits 2006 insgesamt 10.500 Mal Kampflugzeuge und Hubschrauber zur "Luftunterstützung" angefordert worden, fast 30 Einsätze pro Tag, so hat die US Air Force nach eigenen Angaben die Zahl der Luftwaffeneinsätze 2007 vervierfacht und die Zahl der Bombenabwürfe verzehnfacht.[6] Bei allen größeren Militäroperationen dieses Jahres, ob in Mosul, Baquba, Basra oder Bagdad, setzten die Besatzungstruppen überwiegend auf Luftangriffe und die Feuerkraft ihrer Panzer und überließen die Straßenkämpfe den irakischen Fußtruppen. Während sie auf diese Weise im Frühjahr während der fast sechswöchigen Offensive gegen Sadr City kaum Tote zu beklagen hatten, ging die Zahl der getöteten und schwer verwundeten Anwohner in die Tausende. Verstärkt kommen dabei auch ferngesteuerte Fluggeräte, wie die Kampfdrohnen Predator and Reaper, zum Einsatz. Ein Reporter der New York Times, der kürzlich die Leitzentrale dieser Drohnen besichtigen durfte, musste sich verpflichten, deren Standort geheim zu halten - aus Rücksicht auf das Gastland, in dem sie sich befindet. Ein Ort, der dafür sehr gut in Frage käme, wäre das Warfighting Headquarters der US-Luftwaffe im pfälzischen Ramstein.[7] Schließlich geben die USA auch mehr Geld als je zuvor für private Söldner aus.[8] Die Zahl der sogenannten "Private Contractor", die für das US-Militär im Irak arbeiten, hat sich seit September letzten Jahres um 12.000 auf 149.00 erhöht. Das entspricht fast der Zahl, um die die Stärke der regulären US-Truppen wieder reduziert wurde.[9] Krieg und Repression am Boden Zunächst bedeutete die Truppenerhöhung um 38.000 auf insgesamt 165.000 Soldaten für weite Teile der Bevölkerung in Bagdad und Umgebung allerdings eine massive Eskalation des Krieges und der Repression am Boden. Kritische Bilder und Berichte davon, wie wir sie z.B. beim Einrücken russischer Truppen in Grosny sahen, blieben jedoch aus. In den Medien erschienen die US-Truppen vielmehr als Retter, die antraten, der "mörderischen Gewalt" Einhalt zu gebieten - ihr Morden gilt hier offenbar nicht als Gewalt. Der renommierte US-Journalist Nir Rosen jedoch, der im Dezember in Bagdad war, konnte mit eigenen Augen sehen, wie der Erfolg der Besatzer in den betroffenen, einst so geschäftigen Vierteln Bagdads aussieht. Er fand nur noch halbverlassene Geisterstädte vor, zerstört durch über fünf Jahre Krieg. Ein Haus neben dem anderen ist verwüstet, die sandfarbenen Mauern durch Kugellöcher zernarbt. Viele Türen stehen offen, die Wohnungen sind unbewacht und oft weitgehend leer geräumt.[10] Auch für den irakischen Fotojournalisten Ghaith Abdul-Ahad, der für den Guardian in einer gefährlichen Tour durch Bagdad die Behauptungen des US-Militärs überprüfte, die "Surge" hätte der Stadt Stabilität gebracht und das Leben verbessert, stand das, was er vorfand und in einer eindrucksvollen Filmserie festhielt "in völligem Widerspruch zu allen offiziellen Berichten." Die Menschen in Bagdad "sind hoffnungsloser als ich sie je zuvor sah."[11] Über 40.000 US-amerikanische Kampftruppen und mehrere Divisionen der irakischen Armee waren in und um Bagdad zusammengezogen worden, die sukzessive und unter heftigen Kämpfen in überwiegend sunnitische Stadtteile eindrangen. Systematisch wurde Straßenzug um Straßenzug abgeriegelt und die Häuser gestürmt. Alle männlichen Bewohner zwischen fünfzehn und sechzig Jahren wurden erkennungsdienstlich erfasst, inklusive Fingerabdrücken und Iris-Scan, Tausende von Anwohnern, die als Oppositionelle bekannt waren oder der Zusammenarbeit mit dem Widerstand verdächtig schienen, wurden festgenommen. Die Zahl der politischen Gefangenen hat sich in der Folge fast verdoppelt. Die US-Truppen allein hielten Ende 2007 nach eigenen Angaben 25.000 Iraker gefangen, die irakischen Sicherheitskräfte weitere 50.000-75.000.[12] In einige der nun schutzlosen Viertel drangen schiitische, meist den Regierungsparteien nahe stehende Milizen ein und begannen auch hier mit nächtlichem Terror Sunniten und sonstige Gegner zu vertreiben. Hunderttausende wurden so im Lauf der "Surge" aus der Hauptstadt gejagt oder flohen vor den Angriffen der Besatzer. Der Anteil der nicht-schiitischen Bevölkerung Bagdads sank Statistiken der US-Armee zufolge seit April 2006 von 35 auf 25 Prozent.[13] Die Internationale Organisation für Migration der UNO, IOM, schätzt, dass sich die Zahl der Flüchtlinge aus Bagdad im Zuge der "Surge" verzwanzigfachte. Die Gesamtzahl der Binnenflüchtlinge hat sich zwischen Februar und August 2007 von 0,5 auf 1,1 Millionen verdoppelt. [14] Gated Communities Trotz massiver Proteste der Anwohner wurden die meisten der "befriedeten" Stadtteile durch fast vier Meter hohe, stacheldrahtbewehrte Betonmauern hermetisch eingeschlossen, alle nur durch einige wenige, enge und stark bewachte Check-Points durchbrochen. Nur Bewohner mit neuer ID-Karte können sie - nach Überprüfung ihrer biometrischen Merkmale - ohne weiteres passieren. Mauern in einer Gesamtlänge von über 30km zerteilen nun Bagdad, endlose Schlangen vor den Durchlässen sind die Folge. Handel und Wirtschaft kamen dadurch nahezu zum Erliegen. Offiziell als Schutz der Bevölkerung vor Übergriffen durch sektiererische Milizen gedacht, dienen sie vor allem dazu, die Bewegungsfreiheit des Widerstands einzuschränken und die Bewohner der Viertel einer lückenlosen Kontrolle unterwerfen zu können. Diese sind nun mehr denn je der Willkür der Besatzer und der irakischer Sicherheitskräfte ausgeliefert. Die Errichtung dieser so genannten "Gated Communities" (eigentlich die Bezeichnung für bewachte Wohnanlagen der Reichen) erinnert an ähnliche Maßnahmen der französischen Besatzungstruppen in Algerien und an die "strategischen Dörfer" der USA im Vietnamkrieg. Mehr noch orientieren sich die US-Truppen jedoch an israelische Erfahrungen, wie durch Ausnutzung modernster Technik und durch Teilung der besetzten Gebiete in Enklaven, Widerstand in einem städtischen Umfeld eingedämmt werden kann. Iraker vergleichen ihre ummauerten Stadtteile daher oft auch mit dem Gazastreifen in Palästina. Professor Steve Niva, Nahostexperte an der Universität von Olympia, fasste das Ergebnis der Surge treffend zusammen: "Während das allgemeine Ausmaß an Gewalt zweifellos vorübergehend sank, wurde der Irak faktisch in einen Panzer aus Betonmauern und Stacheldraht eingesperrt, verstärkt durch eine Besatzung aus der Luft."[15] Teile und Herrsche - der Biddle-Plan Eine zentrale Komponente in der US-Strategie zur Unterwerfung des Iraks ist die Spaltung der irakischen Gesellschaft nach ethnisch-konfessionellen Kriterien. Auch die Grenzen der eingezäunten Enklaven in Bagdad wurden nach diesen Kriterien gezogen. Die vom Oberkommandieren General David Petraeus ausgearbeitete neue Strategie setzte dadurch den von Beginn der Besatzung an eingeschlagenen Weg fort, der von Bernard Lewis, einem der führenden Neokonservativen, bereits in den frühen 1990er Jahren skizziert worden war: Der starke arabische Nationalismus in Ländern wie Irak könne, so Lewis, nur dann neutralisiert werden, wenn die Zentralgewalt ausreichend geschwächt würde. Dann "gibt es keine wirkliche Zivilgesellschaft mehr ... der Staat löst sich - wie im Libanon - in ein Chaos sich zankender und bekämpfender Sekten, Stämme, Religionen und Parteien auf."[16] Die konkrete, aktuelle Umsetzung dieser Politik formulierte Stephen Biddle, Berater von General Petraeus in Bagdad in einem Beitrag für Foreign Affairs wie folgt: Durch ein Programm zur Bewaffnung ihrer sunnitischen Gegner soll die schiitisch-kurdische Maliki-Regierung unter Druck gesetzt werden, die Vorgaben aus Washington williger, rascher und vollständiger umzusetzen. Militante sunnitische und säkulare Nationalisten hingegen sollen durch die Drohung, den Regierungsparteien durch Aufrüstung der Armee mit Panzern und leichter Luftwaffe zu mehr militärischer Macht zu verhelfen, zum Einlenken gezwungen werden. Da dies die Fähigkeit der Regierungstruppen "Massengewalt gegen Sunniten zu verüben, dramatisch erhöhen" würde, wäre dies ein "mächtiger Anreiz", ihre Forderung nach einem raschen Abzug der Besatzungstruppen "zu relativieren".[17] Tatsächlich gelang es den USA, Bündnisse mit sunnitischen Kräften unter Ausnutzung ihrer Sorge vor der Dominanz der pro-iranischen schiitischen Parteien zu schließen und Stammesmilizen aufzustellen, die ein Gegengewicht zu den von den schiitischen Parteien kontrollierten Sicherheitskräften darstellen. Die Erweckung der Stämme Diese Bündnisse bedeuteten eine radikale Abkehr der bisherigen Politik der US-Truppen gegenüber der sunnitischen Bevölkerung, gegen die sie - im Bemühen, Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen - im Verein mit ihren kurdischen und schiitischen Verbündeten von Beginn der Besatzung an mit besonderer Härte vorgegangen waren. Diese Brutalität wiederum befeuerte einen rasant wachsenden militärischen Widerstand, den sie nicht mehr in den Griff bekamen. Die Besatzer hatten schließlich, wie durchgesickerten Geheimdokumenten der US-Armee zu entnehmen ist, 2006 eingesehen, dass sie militärisch nicht gewinnen können. [18] Sie begannen ihre Offensive in den Städten einzuschränken und nahmen Verhandlungen mit lokalen und regionalen Stammesbündnissen über die Aufstellung von Milizen für Sicherungsaufgaben und ein gemeinsames Vorgehen gegen Al-Qaeda auf. Stammesangehörige, die sich bereit erklärten, gegen al-Qaeda und sonstige Störenfriede zu kämpfen, erhielten Ausrüstung und einen monatlichen Sold. In der Folge entstand ein Vielzahl sogenannter "Awakening"-(Erweckungs)-Räte, irakisch "al Sahwa" oder "Sahwat", von den Besatzern gerne als "Söhne Iraks" bezeichnet. Über die zahlenmäßige Stärke dieser Milizen gibt es keine verlässlichen Angaben. Die US-Armee spricht von 80.000-100.000 Milizionären, die für 300 US-Dollar monatlich Polizei- und Wachaufgaben übernehmen und an ihrer Seite gegen Al-Qaeda vorgehen würden. Die Summen, die nach denselben Quellen für ihren Unterhalt aufgewandt wurden, deuten aber auf eine wesentlich geringere Zahl bezahlter Kämpfer hin.[19] So widersprüchlich wie die Berichte über sie sind, so widersprüchlich ist die Awakening-Bewegung selbst. Sie reicht von echten Kollaborateuren und Warlords, die für gutes Geld zu allem bereit sind, bis hin zu strammen Nationalisten, die sich nur soweit mit den Besatzern einlassen, wie nötig, um vor Ort die Kontrolle übernehmen zu können. Traditionelle Stammeskultur und -rivalitäten sorgen für zusätzliche Dynamik. US-Regierung und Armeeführung feiern die Stammesmilizen als großen Erfolg der "Surge" und stellen dabei - gemäß ihrer gängigen Propaganda - den gemeinsamen Kampf gegen Al-Qaeda in den Vordergrund. Doch die al Sahwa waren lange vor der "Surge" entstanden und bereits im Sommer 2005 hatten viele Stämme im Verein mit Widerstandsgruppen begonnen, aktiv gegen die sunnitischen Extremisten vorzugehen. Sie mussten zu diesem Zeitpunkt zwei Kämpfe führen, so ein Sprecher der dem Widerstand nahe stehenden Vereinigung der islamischen Religionsgelehrten (AMS): einen "gegen die Besatzer und den von ihnen eingesetzten Regierungsapparat" und den anderen "gegen die terroristischen Banden."[20] Doch nicht nur Al-Qaeda wurde von der Bevölkerung in den sunnitischen Gebieten als Bedrohung angesehen, sondern auch die Milizen der Regierungsparteien und die von ihnen dominierten Sicherheitskräfte. Für die meisten Sunniten, die sich der Awakening-Bewegung anschlossen, lag hier das wichtigste Motiv: Indem sie bewaffnete Kräfte gegen Al-Qaeda und zur Aufrechterhaltung der Ordnung stellen, verringerte sich auch die Präsenz der Regierungstruppen und konnte ein von den Besatzern tolerierter Schutz gegen schiitische Todesschwadrone und sonstige ortsfremde Kämpfer aufgestellt werden. Ein hochrangiger Scheich, dessen Stamm einer solchen Allianz beitrat, erklärte einem Reporter des Guardian, dass dies für ihn eine simple Gleichung war. "Es ist einfach ein Weg, Waffen zu bekommen und eine legalisierte Sicherheitskraft zu werden, die fähig ist, den schiitischen Milizen Stand zu halten und zu verhindern, dass die irakische Armee und Polizei in ihr Gebiet eindringt." [21] Den temporären Bündnissen mit den Besatzern war ein Paradigmenwechsel eines großen Teils sunnitischer und säkularer Nationalisten vorausgegangen. Stand zunächst das Ziel im Vordergrund, so schnell wie möglich die Invasoren aus dem Land zu jagen, so überwog bei vielen nun die Sorge, dass die kurdischen und schiitischen Parteien, die die Regierung stellen, sich im Bündnis mit den USA bereits so starke Machtpositionen sichern konnten, dass sie nach einem Abzug der Besatzer nur noch schwer verdrängt werden können. Der Einfluss des Irans über die schiitischen Regierungsparteien und ihre Milizen ist zudem in ihren Augen so groß, dass sie mittlerweile von einer doppelten Besatzung sprechen. Die "Gefahr der iranischen Besatzung war größer, als die Gefahr der amerikanischen, da letztere temporär ist, aber die iranische Besatzung würde permanent sein", so z.B. Abu Azzam Al-Tamimi, einer der führenden Politiker der Awakening-Bewegung.[22] Die Mehrheit der Bewegung ist stramm nationalistisch und strebt die Wiederherstellung eines einheitlichen, starken und zentralisierten Staates an. Die sunnitischen Milizen könnten allerdings bei sich zuspitzenden Konflikten mit den Parteien an der Regierung zum Kern einer sunnitischen Armee werden. Zudem sind viele Führer von Awakening-Milzen dabei, sich als mächtige Warlords zu etablieren. Auch den USA ging es bei der Aufrüstung der Awakening-Kräfte nicht nur um Al-Qaeda. Es bot zudem auch einen Weg, sich weit gehend aus der Provinz zurückziehen zu können, ohne das Feld dem organisierten Widerstand zu überlassen. Vor allem aber ist es ihnen damit gelungen, ein Gegengewicht zu den pro-iranischen Regierungsparteien aufzubauen und so - neben dem von Biddle formulierten Kalkül - den Handlungsspielraum der USA gegenüber dem Iran zu verbessern. An sich richteten sich die al Sahwa nicht gegen den bewaffneten Widerstand. Indem sie jedoch alle bewaffneten Aktionen in den unter ihrer Kontrolle stehenden Gebieten zu unterbinden suchten, schränkten sie auch dessen Aktionsradius stark ein. Da es den Regierungsparteien bisher jedoch gelang, die politische Beteiligung der al Sahwa zu blockieren und die Aufnahme der sunnitischen Milizionäre in die regulären Sicherheitskräfte auf einige wenige Tausend zu beschränken, wächst die Unzufriedenheit in ihren Reihen massiv. Die Bewegung Al Sadrs Starken Anteil am Rückgang der Gewalt hatte auch der einseitige Waffenstillstand, den der populäre schiitische Geistliche Muktada al Sadr im Sommer letzten Jahres ausgerufen hatte. Dieser sollte helfen, die Kontrolle über seine Bewegung und ihre Miliz, die Mehdi-Armee, zurück zu gewinnen, um den kriminellen Elementen, die unter ihrem Cover Angriffe auf Sunniten durchführten oder im Stil von Straßengangs die örtliche Bevölkerung terrorisierten, Schutzgelder erpressten etc., die Deckung zu nehmen. Mit Hilfe loyaler Einheiten konnten die Gewalttätigkeiten tatsächlich eingedämmt und die angeschlagene Reputation al Sadrs entscheidend verbessert werden. Die Sadr-Bewegung ist die mit Abstand stärkste oppositionelle Kraft unter den Schiiten. Die Zahl der Anhänger, vor allem in den ärmeren Schichten, geht in die Millionen. Die islamisch-konservative Bewegung kontrolliert weite Teile Bagdads und anderer Städte und war eine der maßgeblichen Widerstandskräfte, die die Briten aus den südlichen Provinzen getrieben hatte. Daher, und aufgrund seiner starken Anhängerschaft, war al Sadr zu einem der Hauptfeinde der Besatzer geworden. Auch gegen ihn hatte sich die "Surge", unter dem Stichwort "Kampf gegen das Miliz-Unwesen", von Anfang an gerichtet. Die Offensiven im Frühjahr dieses Jahr endeten jedoch mit Waffenstillstandsabkommen, in denen die Sadr-Bewegung zwar die Hoheit über einige ihrer Hochburgen an die Regierungstruppen abtreten musste - entscheidend geschwächt wurde sie dadurch jedoch nicht. Al Sadr verstand es darüber hinaus, sich während der Angriffe der irakischen Öffentlichkeit als nationaler Führer zu präsentieren, der bereit ist, für die Einheit des Landes und zur Beendigung innerirakischer Kämpfe weit reichende Kompromisse einzugehen.[23] Er steht nun mit an der Spitze einer recht wirksamen, breiten politischen Opposition gegen die Besatzung. Drohende Eskalation Angesichts der Beruhigung der Lage scheinen die Besatzer militärisch nun die Oberhand zu haben, viele in Washington sehen die USA bereits auf der Siegesstraße. Der bewaffnete Widerstand wurde aber keinesfalls besiegt, sondern musste nur in einigen Gebieten zurückweichen bzw. seine Aktivitäten einschränken. Trotz ihrer intensivierten Politik des Teile und Herrsche verlieren die Besatzer im Irak politisch immer mehr an Boden. Alle ihre Vorhaben, vom Öl-Gesetz, das ausländischen Konzernen die Förderung von Öl gestatten würde, bis zu einem Truppenstationierungsabkommen, das die Besatzungsherrschaft per Vertrag verewigen würde, werden von einer immer breiter werdenden, nationalen Opposition blockiert. Angesichts der Erfolge dieser "nationalistischen Surge", wie Patrick Cockburn es nannte[24], hoffen viele Iraker die Besatzung mit politischen Mitteln beenden zu können. Doch unabhängig davon, wer künftig Präsident sein wird, werden die US-Eliten ihre Ziele einer dauerhaften militärischen Präsenz im Land und einer direkten Kontrolle des irakischen Öls kaum freiwillig aufgeben. Die Auseinandersetzungen dürften sich daher bald wieder verschärfen. Gleichzeitig droht durch diese Politik - bei Fortsetzung der Besatzung - der zunehmende Zerfall des Landes in die Machtbereiche einzelner Warlords und Parteien. Die fragile und gewaltgeladene Situation droht insbesondere in der von den Kurdenparteien beanspruchten, ölreichen Provinz um Kirkuk jeden Augenblick aufs Neue zu eskalieren, die Surge hat hieran nichts ändern können - im Gegenteil. Dies sollte auch all denen zu denken geben, die die US-Strategie im Irak als Vorbild für eine Eskalation der Kampfhandlungen in Afghanistan heranziehen wollen. Anmerkungen [1] ?Securing, Stabilizing, and Rebuilding Iraq: Progress Report: Some Gains Made, Updated Strategy Needed? GAO, 23.6.2008 [2] William E. Odom, Testimony before the Senate Foreign Relations Committee on Iraq, 2.4.2008 [3] ?Lowest U.S. casualties not indication of better security conditions in Iraq?, Azzaman, 5.8.2008 [4] Siehe Iraq Coalition Casualty Count, http://icasualties.org /> [5] Vgl. Steven Simon, ?The Price of the Surge?, Foreign Affairs, May/June 2008 [6] At Odds With Air Force, Army Adds Its Own Aviation Unit, NYT, 22.6.2008, s.a. Tom Engelhardt, ?U.S. Continues to Brutalize Iraqis in the Cause of the 'Surge'?, Tomdispatch.com, 30.6.2008, [7] Air Force Plans Altered Role in Iraq, New York Times, July 29, 2008 [8] ?U.S. increases spending on contractors in Iraq?, USA TODAY, 27.8.2007 [9] Siehe "Contractors? Support of U.S. Operations in Iraq", Congressional Budget Office, August 2008 und ?In Iraq, private contractors outnumber U.S. troops?, AP, 20.9.2007 [10] Nir Rosen, The Myth of the Surge, Rolling Stone, 6.3.2008 [11] Ghaith Abdul-Ahad, ?Baghdad: City of Walls?, 18.3.2008 [12] Nir Rosen, a.a.O. ?The business end?, Financial Times, 27.6.2008, ?U.S. military says it keeps 21,000 detainees in Iraq?, Xinhua 2.8.2008 [13] Juan Cole, ?A Social History of the Surge?, Informed Comments, 24.7.2008, ?Changing Baghdad -- Ethnic violence has changed the city?, Washington Post, 15.12.2007 und ?Balkanized Homecoming?, Washington Post, 16.12.2007 [14] ?More Iraqis Said to Flee Since Troop Increase?, New York Times, 24.8.2007 [15] Steve Niva, ?The New Walls of Baghdad -- How the U.S. is Reproducing Israel's Flawed Occupation Strategies in Iraq?, Foreign Policy In Focus, 21.4.2008 [16] Zitiert nach Tom Hayden, ?The New Counterinsurgency?, The Nation, 6.9.2007 [17] ?What to Do in Iraq: A Roundtable? By Larry Diamond, James Dobbins, Chaim Kaufmann, Leslie H. Gelb, and Stephen Biddle, Foreign Affairs , Juli/August 2006 [18] ?Anbar Picture Grows Clearer, and Bleaker, Washington Post, 28.11.2006 [19] Steven Simon a.a.O. s. a. ?'Awakening' Forces Arouse New Conflicts?, IPS, 26.12.2007 und ?US buying loyalty of 'concerned' Iraqis?, AFP, 17.10.2007 [20] siehe J. Guilliard ?Strukturen der irakischen Befreiungsbewegung? in junge Welt 22./24.9.2007 sowie Michael Eisenstadt, ?Tribal Engagement Lessons Learned? Military Review, Sept.-Okt. 2007 [21] ?Meet Abu Abed: the US's new ally against al-Qaida?, Guardian, 10.11.2007 [22] "?Honor Front? for Sunni collaborators?, Missing Links, 14.4.2008 [23] ?Moqtada: Open war against the ocupation ?and no other??, Missing Links, 25.4.2008 [24] Patrick Cockburn, ?Iraq's Nationalist Surge?, ZNet, 9.8.2008. Siehe auch Robert Dreyfuss, ?Nationalists Stirring in Iraq?, The Nation, 16.1.2008 From imi at imi-online.de Thu Oct 23 14:46:05 2008 From: imi at imi-online.de (Informationsstelle Militarisierung) Date: Thu, 23 Oct 2008 14:46:05 +0200 Subject: [IMI-List] =?windows-1252?q?=5B0297=5D_EU-Milit=E4reinsatz_vor_de?= =?windows-1252?q?r_K=FCste_Somalias_/_IMI-Kongress_/_Neue_Texte?= Message-ID: <4900720D.1050507@imi-online.de> ---------------------------------------------------------- Online-Zeitschrift "IMI-List" Nummer 0297 .......... 12. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563 Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. Red.: IMI / Christoph Marischka / Jürgen Wagner Abo (kostenlos)........ IMI-List-subscribe at yahoogroups.com Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste.php3 ---------------------------------------------------------- Liebe Freundinnen und Freunde, in dieser IMI-List finden sich 1) die Einladung zum diesjährigen IMI-Kongress; 2) Links auf neue Texte auf der IMI-Homepage; 3) eine Analyse zu dem EU-Militäreinsatz vor der Küste Somalias. 1) Einladung zum IMI-Kongress "Kein Frieden mit der NATO" Wir möchten nochmals alle zu unserem IMI-Kongress vom 7. bis zum 9. November 2008 nach Tübingen einladen. Wer Übernachtungsmöglichkeiten sucht, kann sich gerne im Büro der Informationsstelle Militarisierung melden. Neben Flugblättern und Plakaten haben wir nun auch eine Pressemitteilung zum Kongress auf unserer Homepage veröffentlicht: http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1821 2) Neue Texte auf der IMI-Homepage In den vergangenen Tagen sind IMI-Analysen und -Standpunkte zur EU-Beteiligung an der EULEX-Mission im Kosovo, dem Verhältnis von Burschenschaften zur Bundeswehr, der Einbindung ziviler Hilfsorganisationen in den Sanitätsdienst der Truppe und die Werbung für den Soldatenberuf in Jugendmedien erschienen. IMI-Standpunkt 2008/056 Hand in Hand beim Völkerrechtsbruch: EU und USA mit EULEX im Kosovo 22.10.2008, Tobias Pflüger http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1835 IMI-Analyse 2008/035 Stahlhelm und Schmisse - Über das Verhältnis Korporierter zu Armee und Krieg http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1834 21.10.2008, Lucius Teidelbaum IMI-Standpunkt 2008/055 - in: Telepolis (18.10.2008) Ab jetzt werden Gefangene gemacht - Neues Gesetz regelt die Beteiligung von DRK, Johannitern und Maltesern im Sanitätsdienst der Bundeswehr http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1833 21.10.2008, Christoph Marischka IMI-Analyse 2008/034 Skrupellos: Bundeswehr-Marketing in Jugendmedien http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1832 17.10.2008, Michael Schulze von Glaßer 3) Analyse zu dem EU-Militäreinsatz vor der Küste Somalias IMI-Analyse 2008/036 - in: Junge Welt, 23.10.08 Gefährliche Gewässer - Einsatz von Kriegsschiffen gegen Piraten vor Somalias Küste http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1836 23.10.2008, Tobias Pflüger Gefährliche Gewässer Das Europäische Parlament legitimiert heute den Einsatz von Kriegsschiffen gegen Piraten vor Somalias Küste. Selbstverständlich werden humanitäre Gründe für den militärischen Schutz wichtiger Handelswege vorgeschoben Agenturmeldung vom 21. Oktober 2008: »Das Hörstück ?Die abenteuerliche Welt der Piraten? erhält in diesem Jahr den mit 5000 Euro dotierten Deutschen Kinderhörspielpreis. Bearbeiter und Regisseur Volker Präkelt male mit seinem Stück ?ein buntes Bild der abenteuerlichen Piratenzeit? und nehme seine Hörer mit auf eine spannende Verfolgungsjagd über die sieben Weltmeere.« Dies ist die Verklärung der historischen Piraterie. Doch die Realität der Piraterie war damals und ist heute viel brutaler, brutaler heute vor allem von seiten des Westens. Allmählich wird es eng vor der Küste Somalias. Dort tummeln sich mittlerweile Kriegsschiffe zahlreicher Einzelstaaten. Vor Ort ist z.B. neuerdings die NATO, schon länger vor Ort ist die »Task Force 150«, ein multinationaler Militäreinsatz unter wechselnder Führung verschiedener Staaten, darunter Deutschland und Pakistan, im Rahmen des US-geführten »Krieges gegen den Terror« (Operation Enduring Freedom, OEF). Nun hat die Europäische Union am 19. September die sogenannte NAVCO-Mission im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) beschlossen. Damit sollen die bereits vor Ort befindlichen unterschiedlichen Einsatzverbände aus EU-Staaten militärisch koordiniert werden. Das Ganze stützt sich auf die Resolution 1816 des UN-Sicherheitsrates. Diese Resolution vom 2. Juni 2008 stellt, so der Völkerrechtler Norman ­Paech, ein absolutes Novum dar, denn sie »autorisiert erstmals (?) alle willigen Staaten auch innerhalb der somalischen Hoheitsgewässer (also innerhalb der Zwölf-Meilen-Zone) (?) aktiv Jagd auf Piraten zu machen«. Der NAVCO-Einsatz ist vor allem deshalb brisant, weil er die Vorstufe für den ersten maritimen EU-Militäreinsatz überhaupt darstellt, der Ende des Jahres vor der Küste Somalias (und womöglich auch Kenias) beginnen soll. Am heutigen Donnerstag will das Europäische Parlament einen Resolutionsentwurf verabschieden, mit dem der Einsatz politisch unterstützt werden soll. Staatliche Souveränität ausgehebelt Nachdem die Union Islamischer Gerichte (UIC) die Kontrolle in Somalia übernommen hatte und in dem Land in der Folge erstmals seit langem so etwas wie Stabilität herrschte, ging die Zahl der Piratenüberfälle substantiell zurück. Der jetzige Anstieg hatte sich erst eingestellt, nachdem die UIC Ende Dezember 2006 nach einer von den USA tatkräftig unterstützen Invasion Äthiopiens, an der mindestens 15000 Soldaten beteiligt waren, durch eine im kenianischen Exil aus dem Angebot somalischer Warlords zusammengeklaubte Übergangsregierung (TFG) ersetzt wurde. Genau diese Übergangsregierung ist jedoch nicht in der Lage, dem Problem Piraterie in den eigenen Hoheitsgewässern Herr zu werden, so entsandten mittlerweile zahlreiche Staaten Militärschiffe zum Schutz ihrer wirtschaftlich-politischen Interessen in die Region. Während das geltende Seerechtsabkommen (Artikel 105) jedoch jederzeit die Bekämpfung von Piraten auf hoher See gestattet, gilt dies nicht für die Zwölf-Meilen-Zone in Küstennähe, wo diese Aufgabe zum Souveränitätsbereich des jeweiligen Landes gehört. Da die ins Visier geratenen Piraten aber vorwiegend im somalischen Hoheitsgewässer agieren (bzw. sich dorthin zurückziehen), benötigten die interessierten Staaten eine Rechtsgrundlage, um aktiv gegen sie vorgehen zu dürfen. Hierfür verabschiedete der UN-Sicherheitsrat auf Initiative der Vereinigten Staaten und Frankreichs am 2. Juni 2008 die Resolution 1816, auf die sich auch die EU-NAVCO-Mission beruft. Bei der Piratenjagd muß die somalische Regierung zwar dem zuvor zustimmen, da sie sich aber ohne westliche Unterstützung kaum an der Macht halten könnte, stellt sie kein Hindernis dar. Im Wortlaut wurde in Artikel 7 beschlossen, »daß die Staaten (?) a) in die Hoheitsgewässer Somalias einlaufen dürfen, um seeräuberische Handlungen und bewaffnete Raubüberfälle auf See in einer Weise zu bekämpfen, die den nach dem einschlägigen Völkerrecht auf Hoher See zulässigen Maßnahmen gegen Seeräuberei entspricht; b) innerhalb der Hoheitsgewässer Somalias alle notwendigen Maßnahmen zur Bekämpfung seeräuberischer Handlungen und bewaffneter Raubüberfälle in einer Weise anwenden dürfen, die den nach dem einschlägigen Völkerrecht auf Hoher See zulässigen Maßnahmen gegen Seeräuberei entspricht«. Damit rief der UN-Sicherheitsrat nicht nur erstmals unter Kapitel VII zur gewaltsamen Bekämpfung der Piraterie auf, sondern er beendete faktisch Somalias Souveränität über seine Zwölf-Meilen-Zone. Auf Grundlage dieser Resolution können fremde Staaten innerhalb des somalischen Hoheitsgewässers nahezu schalten und walten wie sie wollen: »Also: Boote und Schiffe sowie deren Besatzung können nach frischer Tat, aber auch bei Verdacht, daß es sich um Piraten handelt, bis an den Strand und in die Häfen Somalias verfolgt, bekämpft und aufgebracht werden, egal, wo sie zuerst angetroffen worden sind.«[1] Interessanterweise bezieht sich die Resolution 1816 nicht nur auf die Küstengewässer, sondern auch auf den »Luftraum vor der Küste Somalias« und hebelt damit die Souveränität des Landes auch in diesem Bereich aus. Die ursprünglichen Planungen gingen sogar noch viel weiter, wie eine Meldung der BBC vom 2.Juni 2008 offenbart: »Unser Korrespondent in Frankreich gibt an, daß Frankreich ursprünglich den Antrag zur Berechtigung einer Bekämpfung der Piraterie auf andere Gebiete wie Westafrika, ausdehnen wollte.« Auch im Unterausschuß »Sicherheit und Verteidigung« (SEDE) des Europäischen Parlaments wurde diesbezüglich Klartext geredet. So betonte der konservative griechische Abgeordnete Giorgos Dimitrakopoulos (EPP-ED) bei der Sitzung am 15. Oktober, der nun beschlossene Einsatz vor Somalia sei für die EU lediglich der Ausgangspunkt für einen weiter gefaßten Plan zum Schutz (bzw. der Kontrolle) anderer wichtiger Schiffahrtsregionen. Dies scheiterte jedoch am Widerstand Chinas, Vietnams und Libyens, die einen solchen Blankoscheck für die ganze Welt, »über die sieben Weltmeere«, nicht unterzeichnen wollten. Deshalb wird in der UN-Resolution 1816 explizit bekräftigt, hierdurch würde kein neues Völkergewohnheitsrecht geschaffen. Am 9. Oktober verabschiedete der Sicherheitsrat eine weitere Resolution (1838) zum Thema, in der dieser Aspekt nochmals unmißverständlich unterstrichen wurde. Dort wird »bekräftigt, daß diese Resolution ausschließlich auf die Situation in Somalia Anwendung findet und die Rechte, Pflichten oder Verantwortlichkeiten der Mitgliedstaaten nach dem Völkerrecht, einschließlich der Rechte oder Pflichten nach dem Seerechtsübereinkommen, in bezug auf jedwede Situation unberührt läßt, und unterstreicht insbesondere, daß diese Resolution nicht so anzusehen ist, als werde dadurch Völkergewohnheitsrecht geschaffen.« Dennoch steht zu befürchten, daß die UN-Resolution 1816 künftig als Präzedenzfall herangezogen wird, wie die der Bundesregierung zuarbeitende »Stiftung Wissenschaft und Politik« erläutert: »Zwar wird in der UN-Resolution explizit erklärt, daß damit kein neues völkerrechtliches Gewohnheitsrecht geschaffen wird und die Souveränität, territoriale Integrität sowie politische Unabhängigkeit und Einheit Somalias nicht ausgehöhlt werden sollen. Aber für die internationale Debatte über Sicherheit auf See wird damit ein völlig neues Instrument geschaffen. Es könnte sich in Zukunft erweisen, daß sich dieses Instrument auch in anderen Gefahrenlagen anwenden läßt« (SWP-Aktuell 56/Juni 2008, S. 3). NAVCO I und NAVCO II Am 19. September verabschiedete die Europäische Union die »Gemeinsamen Aktion/Joint Action 2008/749«. Sie ist eine »militärische Koordinierungsmaßnahme zur Unterstützung der Resolu­tion 1816 (2008) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. (?) Durch die Einrichtung einer Koordinierungszelle in Brüssel (sollen) die Tätigkeiten der Mitgliedstaaten unterstützt werden, die militärische Mittel im Einsatzgebiet einsetzen, damit diese leichter verfügbar und operativ einsetzbar sind.« Konkret heißt das, daß alle Kriegsschiffe der verschiedenen EU-Mitgliedstaaten, die vor Ort sind, damit koordiniert werden sollen. Damit sind sowohl die Kriegsschiffe gemeint, die EU-Staaten zur Piratenbekämpfung vor Ort geschickt haben, als auch jene, die schon länger im Rahmen der OEF-Mission »Task Force 150« vor Ort operieren. Hinzu kommt noch die Koordinierung mit den Schiffen des »Ständigen Maritimen Einsatzsverbandes 2« der NATO, von dem Teile seit kurzem ebenfalls in die Region beordert wurden. Die Leitung des NAVCO-Einsatzes übernimmt der Spanier Andrès Beijo Claúr, die Kosten in Höhe von zunächst 60000 Euro werden vollständig über den »Athena-Mechanismus« bezahlt. Das Koordinationszentrum soll dabei laut der »Gemeinsamen Aktion« nicht nur als »Ansprechpartner insbesondere für die Reederverbände« fungieren, sondern auch für »die im Rahmen der Operation ?Dauerhafte Freiheit? agierende Seestreitkraft ?Combined Task Force 150?«. Eine enge Abstimmung mit dem US-geführten »Krieg gegen den Terror« ist demzufolge also gegeben, obwohl der heute zur Abstimmung stehende Resolutionsentwurf des Europäischen Parlaments »den Rat auffordert, klar zwischen dem künftigen ESVP-Mandat und den Anti-Piraterie-Maßnahmen einzelner EU-Mitglieder im Rahmen der ?Operation Dauerhafte Freiheit? zu unterscheiden«.[2] Sogar eine Zusammenarbeit mit der »Operation Iraqi Freedom« (OIF), also mit dem völkerrechtswidrigen Irak-Krieg, ist möglich. Die Europäische Union läßt keine Zweifel daran aufkommen, daß die militärische Koordinierung im Rahmen von NAVCO nur einen Anfang darstellen soll: »Parallel dazu wird der Rat weiter daran arbeiten, eine maritime EU-Militäroperation zu starten.«[3] Geplant ist mit einem neu zu beschließenden Mandat die Entsendung von fünf bis sechs Schiffen nebst Hubschraubern, das Hauptquartier soll in Northwood (Großbritannien) liegen, das Kommando wird der britische Vizeadmiral Philip Jones übernehmen. Bis zu neun Länder wollen sich an dem Einsatz beteiligen, u. a. auch Deutschland, das bereits mindestens eine Fregatte zugesagt hat. Ein Erkundungsteam ist Presseberichten zufolge schon vor Ort, auch verbal stimmt man sich bereits auf den Einsatz ein: »Wir wollen Ende dieses Jahres oder Anfang 2009 beginnen, nachhaltig dieser Piraterie den Garaus zu machen«, wird ein hoher EU-Beamter von der Nachrichtenagentur ddp am 21.September zitiert. Brisant ist dabei, daß »Verteidigungs«minister Franz Josef Jung (CDU) von einem »europäischen Einsatz vor der Küste Somalias und Kenias« spricht. Von Kenia ist aber in der UN-Resolution überhaupt nicht die Rede. Höchstwahrscheinlich beabsichtigen BRD und EU aber dennoch, auch innerhalb der Zwölf-Meilen-Hoheitszone Kenias auf Piratenjagd zu gehen, so auch interne Planungen in Brüssel. In diesem Zusammenhang stellt sich darüber hinaus die Frage, weshalb die Europäische Union krampfhaft einen eigenen Einsatzverband vor die somalische Küste beordern will, wo doch dort ohnehin mit der Task Force 150 und den NATO-Schiffen Hochbetrieb herrscht. Bei der SEDE-Sitzung am 15. Oktober nannte dies der britische konservative EU-Abgeordnete Geoffrey van Orden (EPP-ED) »militärischen Unfug« und einen »verzweifelten Versuch« der französischen Ratspräsidentschaft, »während ihrer Amtszeit die EU-Flagge über einer weiteren Militärmission hissen zu können«. Betrachtet man sich die Lage jedoch genauer, so wird durchaus deutlich, weshalb sich die Europäische Union zu diesem Schritt entschieden hat. Öl und freier Welthandel Zwar wird der NAVCO-Einsatz gerne mit der Notwendigkeit zum Schutz von Nahrungsmittellieferungen begründet, allerdings geht es viel mehr um deutlich handfestere Interessen. Nachdem sich Überfälle von Piraten vor der Küste Somalias seit 2007 häufen, sind es nicht zuletzt die deutschen Reeder, die auf ein bewaffnetes Eingreifen drängen, schließlich ist Deutschland nicht nur Exportnation Nummer eins, sondern auch der Staat mit der größten Container- und der drittgrößten Handelsflotte der Welt. So ruft Hans-Heinrich Nöll, Hauptgeschäftsführer des Verbands Deutscher Reeder, nach militärischem Begleitschutz: »Wir erwarten von der Politik, daß sie der Marine ein klares Mandat gibt. Es ist eine Frage hier unserer deutschen Zuständigkeiten, ob wir die Marine ermächtigen, auch dabei einzugreifen ? was andere längst dürfen.« Damit spielt Nöll auf die Tatsache an, daß das Militär in Deutschland für einen derartigen Einsatz überhaupt nicht zuständig ist, denn die Verbrechensbekämpfung fällt ? eigentlich ? in den Zuständigkeitsbereich der Bundespolizei. Ganz offen wird die Interessenskonstellation von Militärs beschrieben. In einem Artikel zum NAVCO-Einsatz, der im MarineForum erschien, heißt es: »Auch die Europäische Kommission und das EU-Parlament haben mittlerweile entdeckt, daß Piraterie die für Europa so lebenswichtigen Warenströme bedroht ? durch erhöhte Sicherheitsausgaben der Reedereien und steigende Versicherungsprämien steigen letztlich die Frachtraten und damit auch die Verbraucherpreise für importierte Güter sowie die Verkaufspreise für europäische Exportgüter in den Empfängerstaaten. Deutschland hat ein vitales Interesse an der Sicherheit der global bedeutsamen Seestraßen ? vom Import und Export hängen Wohlergehen der Bürger und innere Stabilität des Landes ab. Schon deshalb ? und erst recht, weil wir Bestandteil der Staatengemeinschaft sind ? steht die Bundesrepublik in der Pflicht, auch gegen Piraten so vorzugehen, wie es ihnen gebührt. Sie sind Verbrecher und müssen bestraft und im wahrsten Sinne des Wortes aus dem (See-)Verkehr gezogen werden.«[4] Selbst im offiziellen NAVCO-Mandat des EU-Rates wird festgehalten, man müsse gegen die Piraten vorgehen, da diese eine Gefährdung für »die Sicherheit der der gewerblichen Seeschiffahrt dienenden Schiffahrtswege und die internationale Schiffahrt darstellen«. Auch die Fischereiverbände machen Druck auf ein militärisches Eingreifen. So berichtet das MarineForum, die französischen und spanischen Schiffe seien nicht zuletzt zum Schutz ihrer Fangflotten vor die somalische Küste beordert worden. Um was es aber bei dem NAVCO-Einsatz wirklich geht, wird auch deutlich gesagt: die Kontrolle der Energieversorgung (»Energiesicherheit«), insbesondere des wichtigen Nadelöhrs am Golf von Aden, an dem Somalia liegt und den elf Prozent der per Schiff verbrachten weltweiten Öllieferungen passieren. Ganz offen sprach der CDU-Europaparlamentarier Karl von Wogau während der Sitzung des Unterausschusses »Sicherheit und Verteidigung« davon, bei NAVCO gehe es um den »Schutz der Handelswege« und der Kommandeur des Einsatzes, Andrès Beijo Claúr, unterstrich wie selbstverständlich die »Interessen der EU am Golf von Aden«. Der EU-Ratsbeschluß zu NAVCO wurde im übrigen im Transport- und Tourismusausschuß (TRAN) diskutiert ohne Einbeziehung des für militärische Fragen zuständigen Unterausschusses »Sicherheit und Verteidigung« (SEDE). Im heute zur Abstimmung stehenden Resolutionsentwurf wird deshalb gefordert, künftig besser unterrichtet zu werden. Viel interessanter ist jedoch, daß dort im gleichen Atemzug der geostrategische Kontext des Einsatzes offen angesprochen wird. Der Entwurf »fordert die EU-Kommission dazu auf, das Europäischen Parlament über jede Entscheidung zur Finanzierung von Projekten zu informieren, die im Zusammenhang mit kritischen Seewegen am Horn von Afrika, der Straße von Bab Al-Mandab, und dem Golf von Aden stehen.«[5] Fischer wurden Piraten Zu einem nicht geringen Teil ist das Piraterieproblem vor der somalischen Küste hausgemacht und zwar nicht nur, weil die USA maßgeblich beteiligt waren, die einzige stabile somalische Regierung seit vielen Jahren zu beseitigen. Denn die Frage der Piraterie ist ganz generell nicht von der sozialen Situation in Somalia und dem Agieren westlicher Akteure zu trennen. Dabei ist es geradezu zynisch, daß sich die Fischfangflotten lange Jahre ausgerechnet genau die Schwäche des somalischen Staates zunutze machten, die sie nun beklagen. »Seit dem Sturz der Regierung 1991 wurden die Hoheitsgewässer Somalias kaum mehr überwacht. Seither betreiben ausländische Schiffe in größerem Umfang illegalen Fischfang vor Somalia und überfischten die Gewässer. Die Piraten sind zum Teil frühere Fischer, die ihr Tun damit rechtfertigen, daß die ausländischen Schiffe durch den Fischfang in den Hoheitsgewässern Somalias ihren Lebensunterhalt gefährden. Diese Piraten wollten also zunächst die Fanggründe vor Eindringlingen schützen, manche gingen allerdings dazu über, auch Frachtschiffe oder Passagierschiffe zu überfallen.«[6] Greenpeace beschrieb das Problem in ihrem Magazin bereits lange vor den jetzigen Überlegungen zu einem bewaffneten Eingreifen. Sie zitierten dort unter anderem stellvertretend für die Sichtweise vieler somalischer »Piraten« einen 33jährigen Familienvater: »?Wir haben es satt, daß uns alle Welt als Piraten beschimpft?, ärgert sich der Vater von vier Kindern: ?Was sollen wir denn tun, wenn man uns alles nimmt, was wir zum Leben brauchen??« (greenpeace magazin 1/2007). Nun mag man es vielleicht nicht begrüßen, wenn Menschen mit einer solchen Argumentation zu den Waffen greifen, um aber zu wirklichen Lösungen zu gelangen, muß man die Konfliktursachen zumindest kennen. Maßnahmen, die die strukturellen Ursachen der Piraterie angingen, wären sicher wesentlich erfolgversprechender, als der Versuch, das Problem militärisch zu bekämpfen. Meine entsprechenden heutigen Anträge für die Linksfraktion GUE/NGL dürften aber abgelehnt werden. Das hieße nämlich auch, daß zuallererst die Fischereifangflotten zurückbeordert werden müßten und ein vernünftiges Reintegrationsprogramm für die verarmten Fischer gestartet werden müßte. Dies kommt aber leider aufgrund der ökonomischen Interessen für die EU-Staaten nicht in Frage. Vor allem dient die Pirateriebekämpfung der EU als willkommener Anlaß, sich als maritimer Global Player zu etablieren und ihre militärische Präsenz in einer strategisch und ökonomisch wichtigen Weltregion deutlich auszubauen. Anmerkungen [1] Michael Stehr: VNSR-Resolution 1816 zur Bekämpfung von Piraterie und die deutsche Rechtslage, MarineForum, Stand: 21. September 2008 [2] Paolo Costa: Motion for a Resolution, B6-0000/2008 [3] European Union military coordination of action against piracy in Somalia (EU NAVCO), Fact Sheet, 19.9.2008 [4] Michael Stehr: Le Ponant ? Folgen und Folgerungen, in: MarineForum 6/2008 [5] Paolo Costa: Motion for a Resolution 2008, a. a. O. [6] de.wikipedia.org/wiki/Piraterie_in_Somalia Tobias Pflüger From imi at imi-online.de Thu Nov 6 08:07:15 2008 From: imi at imi-online.de (Informationsstelle Militarisierung) Date: Thu, 06 Nov 2008 08:07:15 +0100 Subject: [IMI-List] [0298] Wochenende: IMI-Kongress zur NATO / Analyse BarackObama Message-ID: <491297A3.9070208@imi-online.de> ---------------------------------------------------------- Online-Zeitschrift "IMI-List" Nummer 0298 .......... 12. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563 Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. Red.: IMI / Christoph Marischka / Jürgen Wagner Abo (kostenlos)........ IMI-List-subscribe at yahoogroups.com Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste.php3 ---------------------------------------------------------- Liebe Freundinnen und Freunde, in dieser IMI-List finden sich eine erste Analyse zur bevorstehenden Außenpolitik des frisch gewählten US-Präsidenten Barack Obama. Zuvor jedoch ein letztes Mal die herzliche Einladung zum IMI-Kongress "Kein Frieden mit der NATO" am kommenden Wochenende. Alle wichtigen Infos, Anfahrt, Übernachtungsmöglichkeiten und nicht zuletzt natürlich das Programm finden sich unter http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1821 IMI-Analyse 2008/037 Barack Obama: Vorsicht vor allzu großen Hoffnungen! http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1840 5.11.2008, Jürgen Wagner Unbestreitbar haben die letzten acht Jahre unter der Präsidentschaft George W. Bushs den USA aber auch dem Rest der Welt schweren Schaden zugefügt. Vor allem der "Krieg gegen den Terror" mit den beiden desaströsen Kriegen gegen den Irak und Afghanistan haben das Ansehen der Vereinigten Staaten in der Welt auf einen historischen Tiefpunkt sinken lassen. Darüber hinaus ist es begrüßenswert, dass mit Obama erstmals ein Afro-Amerikaner zum US-Präsidenten gewählt wurde. Auch setzt sich sein innenpolitisches Programm deutlich von dem seines unterlegenen Herausforderers John McCain ab. Angesichts des offensichtlich kritischen Gesundheitszustandes McCains war allein schon die Aussicht, dass im Falle seines Todes Sarah Palin als dessen Nachfolgerin ins Präsidentenamt aufsteigen würde, schlichtweg gruselig. Trotz alledem sollte man jedoch nicht die Augen davor verschließen, dass vieles darauf hindeutet, dass bzgl. der an Obama gerichteten friedenspolitischen Erwartungen der große Katzenjammer droht. So deutet einiges darauf hin, dass er -- nicht zuletzt aufgrund der großen wirtschaftlichen Probleme der USA -- versuchen wird, die EU-Staaten künftig deutlich stärker militärisch in die Pflicht zu nehmen, auch sie soll einen angemessenen Beitrag zur Aufrechterhaltung der westlich dominierten kapitalistischen Ordnung leisten. Auch die Auswahl seines Beraterteams, Obamas eigene Äußerungen und Veröffentlichungen aus dem demokratischen Umfeld, geben keinen Anlass zu allzu großem Optimismus. Vom Irak über die grundsätzliche Haltung gegenüber Militäreinsätzen bis hin zum Verhältnis mit Russland deutet leider wenig darauf hin, dass mit einer grundsätzlichen Wende zu rechnen ist. (Kleine) Hoffnungsschimmer Betrachtet man eine der wichtigsten Blaupausen zur Außen- und Sicherheitspolitik unter der Präsidentschaft Obamas, so dürfte am ehesten im Bereich der Nuklearpolitik mit einer Verbesserung zu rechnen sein. So setzt sich das Papier "Strategic Leadership: A Framework for a 21st Century National Security Strategy" für eine schnellstmögliche Reduzierung des amerikanischen und russischen Atomwaffenarsenals ein. Offen wird leider die Frage gelassen, ob die abgerüsteten Atomwaffen endgültig zerstört oder lediglich eingelagert ("hedge") werden sollen. Dies war bereits unter Bush der größte Streitpunkt mit Russland, das auf eine endgültige Zerstörung drängte, da ansonsten eine neuerliche Aufrüstung nahezu problemlos jederzeit wieder möglich wäre. Darüber hinaus ist Obamas Vizepräsident Joseph Biden seit vielen Jahren ein Gegner der kostspieligen und hochgradig destabilisierenden Pläne zum Aufbau einer US-Raketenabwehr.[1] Inwieweit sich dies auch auf den Beschluss auswirken wird, Teile des US-Raketenabwehrsystems in Polen und der Tschechischen Republik aufzubauen, bleibt jedoch abzuwarten. Auch die Haltung des neuen Präsidenten zu den Plänen innerhalb der NATO, einen eigenen flächendeckenden Abwehrschild errichten zu wollen, ist gegenwärtig noch unklar.[2] Irak: Teilung und Teilabzug Im Gegensatz zu seiner Position hinsichtlich der US-Raketenabwehr spielt Joseph Biden mit seinen Vorschlägen zur "Lösung" des Desasters, das der Angriffskrieg gegen den Irak angerichtet hat, eine gefährliche Rolle. In einem mit Leslie Gelb verfassten Grundsatzartikel schlug Biden nicht weniger als eine Atomisierung des Irak vor: "Amerika muss sich von der falschen Wahl zwischen 'den Kurs halten' und 'die Truppen sofort Heim bringen' verabschieden und einen dritten Weg wählen. Einen, der es uns erlaubt, unsere Truppenpräsenz verantwortlich zu reduzieren und dabei gleichzeitig Chaos zu verhindern und unsere Sicherheitsinteressen zu wahren." Anschließend schlagen die beiden de facto die Aufspaltung des Irak in drei Teile vor, einen sunnitischen, einen schiitischen und einen kurdischen. Da die "Dinge ohnehin in Richtung einer Teilung laufen", solle Washington diesen Prozess so weit als möglich forcieren.[3] Nicht nur Hardliner begrüßen diesen Vorschlag. Auf seiner eigenen Website listet der Vizepräsident in einem Beitrag mit dem Titel "Biden-Gelb-Plan wird zur wichtigsten Option für den Irak" zahlreiche prominente Demokraten als Unterstützer seines Vorhabens auf.[4] Darüber hinaus wird gerne übersehen, dass Obama selbst mitnichten einen vollständigen Abzug aus dem Irak anvisiert, auch wenn dies überall suggeriert wurde. Vielmehr spricht sich Obama zwar für eine deutliche Reduzierung der Präsenz aus, dennoch will er auch künftig US-Truppen im Land stationiert lassen: "Dies [die Reduzierung] würde im Sommer 2010 abgeschlossen sein. [...] Nach dieser Restrukturierung würden wir eine Kerntruppe (residual force) für bestimmte Aufgaben im Irak belassen: für das Vorgehen gegen die Reste von Al-Kaida; den Schutz unserer Dienstleister und Diplomaten; und die Ausbildung und die Unterstützung der irakischen Sicherheitskräfte, so lange bis die Iraker Fortschritte machen."[5] Über die genaue Größe dieser "Kerntruppe", die man auch als "Restbesatzung" bezeichnen könnte, schweigt sich Obama zwar aus, aus Andeutungen während einer Senatsanhörung geht aber hervor, dass er dabei etwa 30.000 Soldaten im Auge hat.[6] Eine zeitliche Befristung für die fortgesetzte Besatzung ist nirgendwo zu finden, das hat mit dem vollmundig versprochenen Abzug nichts zu tun. Ganz grundsätzlich betonte Obama immer wieder, seine ablehnende Haltung bzgl. des Irak-Krieges sei nicht zu verwechseln mit einer pazifistischen Position und der grundsätzlichen Ablehnung des Einsatzes von Gewalt als legitimem Mittel der Politik. Betrachtet man seinen Beraterstab, so mag man ihm das gerne glauben. Beraterstab: Falkenkarussell Die Auswahl von Obamas Beraterteam ist ein Sammelsurium, in dem sich einerseits einige "realistische" Machtpolitiker wie Wesley Clark finden, der als NATO-Oberbefehlshaber den Angriffskrieg gegen Jugoslawien maßgeblich mit zu verantworten hat. Andererseits hat er aber auch zahlreiche "linksliberale" Bellizisten um sich geschart, die sich für humanitäre Interventionen zum Schutz der Menschenrechte und für die gewaltsame Verbreitung von Demokratie, Menschenrechten und -- nicht zu vergessen -- freien Märkten einsetzen. So bat Obama bspws. Samantha Power als seine Beraterin zu fungieren, nachdem er ihr Buch (A Problem from Hell: America and the Age of Genocide) gelesen hatte, ein flammendes Plädoyer für "humanitäre" Interventionen.[7] Ihre Positionen finden sich in Aussagen Obamas wie folgender wieder: "Werden wir den Worten 'nie wieder' in Darfur Bedeutung verleihen?"[8] Wie einige seiner Vertrauten ticken zeigt ein Beitrag von Michael McFaul, ebenfalls Mitglied in Obamas engerem Beraterstab. In einem Artikel mit dem Titel "Die Freiheitsdoktrin" plädierte dieser für folgendes außenpolitisches Leitbild: "Eine neue große Vision für die Anwendung amerikanischer Macht ist nötig. [...] Die Verfolgung der Freiheitsdoktrin als eine Anleitung der amerikanischen Außenpolitik bedeutet, die Förderung individueller Freiheit im Ausland an die Spitze der Agenda zu setzten. Eine Förderung der Freiheit erfordert zunächst die Eindämmung und danach die Eliminierung der gegen die Freiheit gerichteten Kräfte, seien es Individuen, Bewegungen oder Regime. Danach kommt die Konstruktion pro-freiheitlicher Kräfte. [...] Schließlich kommt die Etablierung von Regierungen, die die Freiheit ihrer eigenen Bevölkerung ebenso schätzen und schützten, wie dies die Vereinigten Staaten tun."[9] Selbst der berüchtigten Bush-Doktrin wird nicht grundsätzlich eine Absage erteilt. Ihr Kernelement, der völkerrechtswidrige Präventivkrieg, findet sich verklausuliert auch in Reden Obamas: "Wir müssen in Betracht ziehen, unsere Militärkräfte in Situationen außerhalb der Selbstverteidigung einzusetzen, um die gemeinsame Sicherheit zu gewährleisten, die globale Stabilität ermöglicht -- um unsere Freunde zu unterstützen, an Stabilisierungs- und Wiederaufbaueinsätzen teilzunehmen oder gegen Massentötungen vorzugehen."[10] Als wäre dieses Interventionsbündel nicht schon breit genug geschnürt, fügt der neue US-Präsident mit Blick auf die -- tatsächlichen oder vermeintlichen -- Nuklearambitionen des Irans und Nordkoreas hinzu: "Um mit diesen Bedrohungen umzugehen, werde ich die militärische Option nicht vom Tisch nehmen."[11] Noch deutlicher wird das bereits oben erwähnte Grundlagendokument zur künftigen demokratischen Außenpolitik. Es betont zwar die "Bedeutung, dass die Umstände, unter denen Gewalt defensiv oder präventiv angewendet werden könnte, sorgfältig analysiert werden müssen."[12] Eine Absage wird dem Konzept aber nicht erteilt. Kein amerikanisch-russischer Honeymoon Dringend erforderlich wäre ein Wandel in den amerikanisch-russischen Beziehungen, damit die sich verschärfenden Konflikte nicht in einen Neuen Kalten Krieg abgleiten. Doch auch hier stimmt die Auswahl von Obamas Beratern alles andere als zuversichtlich. Am meisten Beachtung wurde der Ernennung Zbigniew Brzezinskis als Berater geschenkt, ein Altmeister US-amerikanischer Geopolitik. Er lobt sich bis heute, mit der Aufrüstung der Mudschaheddin (und auch Bin Ladens) Ende der 1970er die Sowjetunion "in die afghanische Falle" gelockt zu haben. Über diesen Menschen sagte der russische Außenminister Sergej Lawrow einmal: "Ich bin froh, dass er ein ehemaliger Nationaler Sicherheitsberater ist. Hass sollte nicht die Außenpolitik bestimmen."[13] Vor allem im jüngsten Krieg zwischen Georgien und Russland meldete sich Brzezinski lautstark zu Wort. Er verglich Putins Vorgehen mit dem Hitlers und forderte, dass dies nur zu "Ausgrenzung und wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen führen kann. Wenn Russland diesen Kurs weiterfährt, muss es letztendlich innerhalb der Staatengemeinschaft isoliert werden."[14] Ingesamt gelangt auch das "Center for Defense Information" zu dem Ergebnis, dass den amerikanisch-russischen Beziehungen nicht gerade rosige Zeiten bevorstehen: "Die Auswahl von Obamas Beratern ist beunruhigend. Er wird von Zbigniew Brzezinski beraten, ein Mann, der für keinerlei freundschaftliche Gefühle gegenüber Russland bekannt ist. Sein wichtigster Russland-Mann ist Michael McFaul, einer der lautstärksten Kritiker Putins in Washington. Und er erhält Lehrstunden in Demokratieförderung von George Soros. Nichts davon ist ein gutes Zeichen für die Fähigkeit Obamas, die Beziehungen zwischen Russland und den USA zu verbessern."[15] Eskalation in Afghanistan Am deutlichsten sind Obamas Aussagen bezüglich des Kriegs in Afghanistan. Auf der einen Seite will er den Krieg auf pakistanisches Gebiet ausdehnen, um dort Rückzugsgebiete des Widerstandes zu bekämpfen, was automatisch zu einer weiteren Eskalation führen würde. Andererseits beabsichtigt er insgesamt deutlich mehr Truppen an den Hindukusch zu senden. Mindestens zwei zusätzliche Brigaden (10.000 Soldaten) sollen es sein, gleichzeitig will er aber "diese Verpflichtung dazu nutzen, um von den NATO-Verbündeten größere Beiträge -- mit weniger Einschränkungen -- einzufordern."[16] Mit diesen "Einschränkungen" meint Obama die so genannten "caveats", Sonderregeln, die den Truppen einzelner NATO-Länder detailliert vorgeben, unter welchen Umständen und wo sie in Afghanistan Gewalt anwenden dürfen. Sie verbieten es etwa der Bundeswehr, sich im umkämpften Süden und Osten zu betätigen. Somit ist Obamas Aussage nicht zuletzt an die Adresse der Bundesregierung gerichtet. Sie soll nicht nur mehr Truppen entsenden, sondern diese auch ohne Einschränkung und mit allen Mitteln im gesamten Kampfgebiet einsetzen. Nicht nur in dieser Frage dürfte Obama Druck auf die Verbündeten ausüben, die Vereinigten Staaten stärker als bisher zu entlasten. Neue Transatlantische Partnerschaft: Re-Vitalisierung der NATO Nicht erst seit der jüngsten Finanzkrise hat sich die Lage für die USA auch wirtschaftlich deutlich zugespitzt. So belief sich das US-Handelsbilanzdefizit 2007 auf gigantische $700 Mrd. und die Staatsverschuldung stieg in diesem Jahr erstmals auf über $10 Billionen (rechnet man die Deckungslücke der sozialen Sicherungssysteme hinzu, so steigt diese Zahl nach Angaben des US-Finanzministeriums auf über $50 Billionen).[17] Kurz: Die einzige Weltmacht pfeift -- ökonomisch wie militärisch - auf dem letzten Loch und es ist auch den US-Eliten klar, dass ein Strategiewechsel dringend erforderlich ist. Es steht deshalb zu erwarten, dass Obama von den EU-Ländern einen deutlich größeren militärischen Beitrag zur Aufrechterhaltung der Weltordnung einfordern wird. Denn aufgrund der oben beschriebenen schweren wirtschaftlichen Probleme sind die Vereinigten Staaten dringend darauf angewiesen, die Lasten für die Aufrechterhaltung der westlich dominierten Weltordnung auf mehr Schultern zu verteilen. Die Europäische Union, die ebenso von diesem System profitiert wie die Vereinigten Staaten, ist hierfür der natürliche Adressat.[18] Ein solches "Burden Sharing" dürfte jedoch nur gelingen, wenn dem -- auch militärisch zunehmend untermauerten - Streben der Europäischen Union entsprochen wird, nicht mehr länger auf die Rolle als "Subunternehmer Amerikas" (Ernst-Otto Czempiel) reduziert zu werden. Nur über eine Aufwertung als gleichberechtigte Macht, dürften die EU-Staaten zu mehr Engagement zu bewegen sein. Um diese "Neue Transatlantische Partnerschaft" auf den Weg zu bringen, ist Barack Obama geradezu ideal geeignet. Er ist frei von dem Makel der acht dunklen Jahre unter George W. Bush, unter dem die transatlantischen Beziehungen extrem gelitten haben und er erfreut sich einer Beliebtheit, die es den EU-Staaten einfacher machen könnte, gegenüber ihrer jeweiligen Bevölkerung höhere militärischen Beiträge zu rechtfertigen. Der Umgang mit dem "Chaos in der Welt", den Folgeerscheinungen der kapitalistischen Globalisierung sowie das Bestreben, die aufkommenden Mächte Russland und China auf die Plätze zu verweisen, könnte dabei der Kitt für die Neue Transatlantische Partnerschaft sein -- ihren institutionellen Niederschlag würde sie in einer vitalisierten NATO finden. Vorschläge aus Obamas Beraterstab, die NATO zu einer wirklich "globalen Allianz der Demokratien" (selbstredend unter amerikanisch-europäischer Führung) zu machen[19], deuten ebenso in diese Richtung wie Signale von der anderen Seite des Atlantiks. So kommentierte der CSU-Ehrenvorsitzende Edmund Stoiber Obamas Rede im Juli 2008 in Berlin mit folgenden Worten: "Die deutsche Politik wird sich aber auch mit seiner Forderung auseinandersetzen müssen, mehr gemeinsame Verantwortung für globale Probleme in der Welt zu übernehmen. Amerika setzt auf Deutschland und Europa. Die transatlantische Brücke wird stärker."[20] Die Forderung Obamas nach einer größeren Truppenbeteiligung in Afghanistan könnte so im schlimmsten Fall nur der Prolog für eine deutlich stärkere militärische Involvierung Deutschlands und der Europäischen Union bei der Administration der Weltordnung sein. Wohin die Reise gehen könnte, zeigt ein Vorschlag aus den Reihen des wichtigsten demokratischen Think Tanks, der "Brookings Institution", der für den Aufbau einer stehenden amerikanisch-europäischen "Stabilisierungstruppe" im Umfang von 600.000 Soldaten plädierte. Da die gegenwärtige Ordnung an allen Ecken und Enden brüchig wird, bestünde die Notwendigkeit und das gemeinsame Interesse, deren Konflikte militärisch zu "stabilisieren". Die Begründung: "In einer Welt, die im Wesentlichen von den Industriedemokratien am Laufen gehalten und dominiert wird, wird ein anhaltendes Versagen, solchen Konflikten zu begegnen, nicht nur ihre moralische Integrität schwächen, sondern ihre internationale Legitimität als globale Führer untergraben."[21] Anmerkungen: [1] Vgl. Joseph Bidens Vorwort in Young, Stephen W.: Pushing the Limits, Coalition to Reduce Nuclear Danger, Washington D.C. 2000. [2] Vgl. Strategic Leadership: A Framework for a 21st Century National Security Strategy, Center for a New American Century, July 2008, S. 5. [3] Biden, Joseph/Geld, Leslie: Unity Through Autonomy in Iraq. New York Times, 01.05.2006. [4] Biden-Gelp Plan Emerges as Leading Option for Moving Forward in Iraq, URL: http://biden.senate.gov/press/press_kit/downloads/BIDEN-GELB%20EMERGES%20_9-20-07.pdf [5] Obama's Remarks on Iraq and Afghanistan, New York Times, 15.07.2008. [6] Escobar, Pepe: Obama's brave (new?) world, Asia Times Online, 17.06.2008. [7] Baehr, Richard/Lasky, Ed:: Samantha Power and Obama's Foreign Policy Team, American Thinker, 19.02.2008, URL: http://www.americanthinker.com/2008/02/samantha_power_and_obamas_fore_1.html [8] "Dies ist der Moment". Obamas Rede im Wortlaut, süddeutsche.de, 24.07.2008. [9] McFaul, Michael, The Liberty Doctrine, in: Policy Review, April-May 2002. [10] Bandow, Doug: Presidential Hawks, Left and Right, antiwar.com, 29.06.2008. [11] Ebd. [12] Strategic Leadership 2008, S. 16. [13] Griffin, Webster: Obama - The Postmodern Coup: Making of a Manchurian Candidate by Webster Griffin, URL: http://tinyurl.com/5r4rgk [14] "Russlands Vorgehen ähnelt dem von Hitler", Die Welt, 11.08.2008. Ebenfalls in sein Team geholt hat Obama Brzezinskis Sohn Mark, der seinem Vater hinsichtlich dessen Russophobie in nichts nachsteht. [15] Should Moscow Root for Obama?, CDI Russia List, 21.03.2008. [16] Obama's Remarks on Iraq and Afghanistan, New York Times, 15.07.2008. [17] Während sich dieses Handelsbilanzdefizit 1992 noch auf vergleichsweise harmlose $39 Mrd. belief, stieg es schon während der Amtszeit Bill Clintons bedrohlich auf $379,835 Mrd. im Jahr 2000. Unter George W. Bush setzte man schließlich jährlich zu neuen "Höhenflügen" an. Da diese Lücke zwischen Importen und Exporten primär in Form von Schuldscheinen (Staatsanleihen) gedeckt wird, ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich der US-Schuldenberg analog zum Handelsbilanzdefizit entwickelte. Washingtons Verbindlichkeiten haben sich seit 1992 (ca $4 Billionen) ebenfalls mehr als verdoppelt. [18] Im Dokument Strategic Leadership 2008 wird eindeutig der Zusammenhang zwischen dem nicht länger aufrecht zu erhaltenden Defizit und der Notwendigkeit zur Lastenverteilung hergestellt. [19] Daalder, Ivo/Goldgeier, James: Global NATO, Foreign Affairs, September/October 2006. [20] "Starke und mutige Botschaft", Spiegel Online, 24.07.2008. [21] O'Hanlon, Michael/Singer, Peter: The Humanitarian Transformation, in: Survival, Vol. 46, Issue 1, (Spring 2004), S. 77f. From imi at imi-online.de Wed Nov 12 13:46:06 2008 From: imi at imi-online.de (Informationsstelle Militarisierung) Date: Wed, 12 Nov 2008 13:46:06 +0100 Subject: [IMI-List] =?windows-1252?q?=5B0299=5D_Humanit=E4re_Interventione?= =?windows-1252?q?n_/_IMI-Kongress?= Message-ID: <491AD00E.30807@imi-online.de> ---------------------------------------------------------- Online-Zeitschrift "IMI-List" Nummer 0299 .......... 12. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563 Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. Red.: IMI / Christoph Marischka / Jürgen Wagner Abo (kostenlos)........ IMI-List-subscribe at yahoogroups.com Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste.php3 ---------------------------------------------------------- Liebe Freundinnen und Freunde, in dieser IMI-List finden sich: 1. ein Text, der die Möglichkeiten "humanitärer Interventionen" z.B. in der DR Kongo kritisch anhand vergangener Missionen evaluiert; 2. ein Bericht vom IMI-Kongress am vergangenen Wochenende. Zuvor noch die herzliche Einadung zum 25jährigen Jubiläum der Zeitschrift "Wissenschaft und Frieden", bei der die IMI sowohl im Vorstand als auch in der Redaktion mitarbeitet. Beim Festsymposium am Freitag den 14.11. ab 14h im Marburger Rathaus (Am Markt 1) werden unter anderem Burkhard Hirsch und Willy Wimmer zum Thema "Die Bundeswehr im Inneren und Äußeren" sprechen. 1. Illusionen der Allmacht - Praktische Anmerkungen zur "Verantwortung zum Schutz" Anlässlich der aktuellen Diskussion um einen erneuten EU-Einsatz in der Demokratischen Republik Kongo hat Christoph Marischka seinen Beitrag auf dem "Langen Tag des Antimilitarismus" zur "Verantwortung zum Schutz" und dem Verhältnis von Menschenrechten und Militär als IMI-Analyse ausformuliert. Er zeigt darin insbesondere die praktischen Probleme auf, die bei Einsätzen entstehen, hinter denen keine starken nationalen Interessen stehen. Aber auch einige grundsätzliche Widersprüche einer militärischen Verantwortung zum Schutz der Menschenrechte werden angesprochen. IMI-Analyse 2008/038 Illusionen der Allmacht - Praktische Anmerkungen zur "Verantwortung zum Schutz" http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1841 10.11.2008, Christoph Marischka 2. Bericht vom Kongress der Informationsstelle Militarisierung Zum mittlerweile elften Mal fand am 8./9. November in Tübingen der alljährliche Kongress der Informationsstelle Militarisierung (IMI) statt. Insgesamt über 150 Menschen beschäftigten sich dort mit dem Thema "Kein Frieden mit der NATO!" Die Zeitung junge welt hat hierzu einen Artikel veröffentlicht: http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1843 Unsere Pressemitteilung mit einer Einschätzung des Kongresses findet sich hier: http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1842 Es folgt ein ausführlicher Eigenbericht: IMI-Mitteilung Bericht des IMI-Kongresses 2008: Kein Frieden mit der NATO! http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1844 11.11.2008, Informationsstelle Militarisierung Bericht des IMI-Kongresses 2008: Kein Frieden mit der NATO! Zum mittlerweile elften Mal fand am 8./9. November in Tübingen der alljährliche Kongress der Informationsstelle Militarisierung (IMI) statt. Insgesamt über 150 Menschen beschäftigten sich dort mit dem Thema "Kein Frieden mit der NATO!" Das Thema wurde vor allem mit Blick auf den im April 2009 anstehenden NATO-Gipfel in Straßburg und Baden-Baden gewählt, bei dem das Bündnis sein 60jähriges Bestehen zelebrieren will. Ziel des Kongresses war es, zur Mobilisierung für die Gegenproteste beizutragen: Einmal, indem mit einer detaillierten Auseinandersetzung die Kritik an der NATO inhaltlich unterfüttert werden sollte. Anderseits, indem Ideen und Ansätze für die Mobilisierung präsentieren wurden. Der vorliegende Bericht soll einen kurzen Überblick über die Hauptthemen des Kongresses bieten. Für ausführlichere Informationen und als Material für die Mobilisierung wird eine erweiterte Dokumentation des Kongresses bis Januar 2009 erstellt (Vorbestellungen: imi at imi-online.de). Die Waffe des Westens ? Strukturen und Strategien der NATO Tobias Pflüger, Vorstand der IMI, gab zu Begin des Kongresses einen Überblick über die Geschichte und die Struktur der NATO. "Die NATO ist ein Bündnis, das ein zentrales Ziel verfolgt: Krieg zu führen." Seit Ende des Kalten Krieges habe sich die NATO auf allen Ebenen, sowohl was ihre Strategie, Struktur als auch Einsatzpraxis anbelangt, von einem ? wenigstens formal ? auf Landesverteidigung ausgerichteten Bündnis in eine immer aggressiver auftretende, global agierende Militärallianz verwandelt, so Pflüger. Obwohl die NATO im Austausch für den Beitritt des wiedervereinigten Deutschland seinerzeit versprochen habe, sich nicht in Richtung Russland auszudehnen, fanden bislang zwei Erweiterungsrunden um zusammen 10 Staaten statt. Die dritte Erweiterungsrunde um Kroatien und Albanien werde noch im Jahr 2009 stattfinden und selbst der Ukraine und Georgien sei auf dem Gipfeltreffen im April 2008 eine Beitrittsperspektive eröffnet worden. Darüber hinaus sei mit der Ausrichtung auf Auslandsinterventionen bereits in den 90er Jahren begonnen worden. Im Jahr 2002 sei darüber hinaus die Aufstellung einer NATO-eigenen Schnellen Eingreiftruppe (NATO Response Force) beschlossen worden. Mit ihrem Strategischen Konzept von 1999 und dem nahezu zeitgleich erfolgten Angriffskrieg gegen Jugoslawien habe die Allianz endgültig den Rubikon überschritten, indem sie untermauerte, weltweite Militärinterventionen auch ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrates durchführen zu wollen. Der nächste Dammbruch stehe jedoch kurz bevor. Noch 2009 solle ein neues Strategisches Konzept verabschiedet werden. Der derzeit wichtigste Vorschlagskatalog, den u.a. der ehemalige Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Klaus Naumann, ausgearbeitet hatte sei ein wahrer "Horrorkatalog", so Pflüger: "Von der Forderung nach atomaren Präventivschlägen über Drohungen gegen Russland und die OPEC-Staaten bis hin zu zahlreichen anderen Vorschlägen zur Verschärfung des NATO-Kriegskurses findet sich dort alles was das Militaristenherz begehrt." Zivil-militärische Aufstandsbekämpfung in Afghanistan: Prototyp einer neuen NATO-Strategie Jürgen Wagner, Vorstand der IMI, widmete sich dem NATO-Engagement in Afghanistan. Bei dem von der NATO geführten ISAF-Einsatz handele es sich um einen für das Bündnis essentiellen Einsatz, da Erfolg oder Misserfolg des Einsatzes über die Zukunft der NATO entscheiden würden. Die Eskalation des Konfliktes, die nicht vorhandenen Fortschritte in Bereichen der Armutsbekämpfung, Bildung etc. und die damit zusammenhängende zunehmende Ablehnung der Präsenz der NATO-Truppen innerhalb der afghanischen Bevölkerung würden jedoch zeigen, dass der Einsatz de facto längst gescheitert sei. "Die westlichen Truppen sind Teil des Problems, nicht der Lösung. Anstatt aber den sofortigen Abzug einzuleiten, eskaliert die NATO und Deutschland den Krieg an allen Fronten." Nicht zuletzt die hohe Zahl an Zivilopfern trage dabei zum Erstarken des Widerstands bei, weshalb die Aufstandsbekämpfung immer stärker zum Operationsschwerpunkt des NATO-Einsatzes werde. Hierfür werde auf eine völlig neue Form der Kriegführung zurückgegriffen, die künftig in allen ähnlich gelagerten Einsätzen praktiziert werden solle und in Afghanistan prototypisch erprobt werde. Durch die Integration ziviler Akteure sei es das Ziel, eine Effektivierung der Besatzung zu erreichen, indem deren Kapazitäten u.a. auch zur Unterstützung der Aufstandsbekämpfung nutzbar gemacht würden. "Diese Zivil-militärische Zusammenarbeit hat fatale Folgen: Humanitäre Helfer verlieren ihre politische Neutralität und werden dadurch in den Augen der afghanischen Bevölkerung zu Kollaborateuren der Besatzungstruppen. Anschläge auf zivile Akteure häufen sich derart, dass sich viele Hilfsorganisationen bereits aus dem Land zurückziehen mussten. Deshalb ist es wirklich Besorgnis erregend, dass die zivil-militärische Aufstandsbekämpfung gegenwärtig auf NATO-Ebene als zentrale Einsatzpraxis institutionell verankert wird", so Wagners Fazit. Die Kolonialpolitik der NATO auf dem Balkan Christoph Marischka, Vorstand der IMI, beschrieb das andauernde Engagement der NATO auf dem Balkan. Hier betonte er besonders die Rolle der NATO-Ausbildungseinrichtungen und des Programms Partnership for Peace. Für Bosnien, den Kosovo und Mazedonien beschrieb er die von der NATO durchgeführten Sicherheitssektorreformen, die die jeweiligen Staaten langfristig an die NATO binden und den Einfluss der NATO, bzw. ihrer Mitglieder auf die Ausgestaltung der Verwaltungen und Sicherheitsinstitutionen der Staaten. Durch eine "imperiale Militärbürokratie" einerseits und handfeste Angriffskriege andererseits habe die NATO den Balkan vereinnahmt, mit eigenen Stützpunkten überzogen und die Armeen der neuen Staaten für zukünftige Interventionen zugerichtet. So hätten sich fast alle Staaten, die in den letzten Jahren der NATO beigetreten sind, an den Kriegen in Afghanistan und Irak beteiligen müssen, die South Eastern Europe Brigade, bestehend aus Einheiten aus Albanien, Bulgarien, Griechenland, Italien, Mazedonien, Rumänien und der Türkei übernahm 2006 die Multinationale Brigade der ISAF in Kabul. Jährlich müssen die Beitrittskandidaten Berichte vorlegen, in denen Budget, Struktur und Anschaffungen ihrer Armeen dargelegt und von der NATO beurteilt werden. Darüber hinaus bemüht sich die NATO auch in zivile Bereiche hinein Einfluss zu nehmen. In Bereichen des Katastrophenschutzes über die Kriminalitätsbekämpfung bis hin zur Banken- und Sozialpolitik organisiert sie den Austausch von regionalen, westeuropäischen und us-amerikanischen Politikern und Militärs. Kameraden im Kaukasus: NATO und EU im Schulterschluss für eine neue Weltordnung Martin Hantke, Beirat der Informationsstelle, ging zunächst darauf ein, warum Georgien aus der Sicht des Westens ein "geopolitisches Filetstück" darstelle. Über Georgien sei es möglich den eurasischen Handel mit Waren und vor allem Energielieferungen unter Umgehung Russlands und des Iran abzuwickeln. Vor allem aufgrund der wachsenden Abhängigkeit von russischen Gastransporten wolle die Europäische Union unter allen Umständen eine Pipeline (Nabucco) verlegen, die das bisherige russische Monopol über die westeuropäische Gasversorgung brechen und die u.a. über Georgien verlaufen soll. Aus diesem Grund seien sowohl NATO als auch die EU an einer Einbindung Georgiens interessiert und hätten deshalb auch einseitig Stellung gegen Russland bezogen. Den Krieg habe eindeutig Georgien angefangen, wie auch der OSZE-Bericht über den Ausbruch der Kampfhandlungen belege. Umso frappierender sei die Einseitigkeit, mit der anschließend in den USA und Washington nahezu ausschließlich Russland für seine militärische Reaktion kritisiert worden sei, ohne dass die dem vorangegangene georgische Aggression überhaupt groß erwähnt worden sei. Dabei seien die NATO-Staaten durch die Aufrüstung Georgiens mitverantwortlich für den Ausbruch des Krieges. Zudem habe sich die NATO durch die Entsendung von Schiffen ins Schwarze Meer mittlerweile auch noch ihre Präsenz in der Region ausgebaut. Die in der EU-Bürokratie und den westlichen Medien vorherrschenden anti-russischen Darstellungen seien geeignet, die notwendigen Feindbilder für einen "Neuen Kalten Krieg" aufzubauen. Dieser habe mit der strategischen Einkreisung Russlands, u.a. im Zuge der NATO-Osterweiterung und des Krieges in Afghanistan, längst begonnen. Die Ankündigungen, am NATO-Beitritt Georgiens festhalten zu wollen, gieße weiteres Öl ins Feuer, weshalb mit zunehmenden Konflikten in unmittelbarer Nähe Russlands zu rechnen sei. "Der Verlauf des Kriegs im Kaukasus und die anschließenden Reaktionen der USA und der EU sind äußerst Besorgnis erregend. Ich bewerte das wirklich als den endgültigen Startschuss für einen Neuen Kalten Krieg.", so Hantkes Fazit. Kanonenboote und Piraten: Die NATO als Seemacht Den zweiten Tag des Kongresses eröffnete Claudia Haydt, Vorstand der IMI, mit einem Vortrag über die Bedeutung der NATO als Seemacht. Die Präsenz von Marine ? nicht nur der NATO, sondern auch der EU-Staaten und der USA ? in den Weltmeeren werde zunehmend mit der Bekämpfung von Piraten gerechtfertigt. Sie stellte jedoch heraus, dass die Marine wenig geeignet sei, dieses Problem zu lösen und dass die Interessenslage eine ganz andere sei. Es gehe vor allem um die militärische Absicherung von so genannten Nadelöhren, die für die Versorgung der westlichen Welt von strategischer Bedeutung sei. Dies zeigte Haydt am Beispiel Somalias, das an einem wichtigen Tankernadelöhr, dem Golf von Aden, liegt. Nachdem es dort vermehrt zu Piratenüberfällen kam, hätten sowohl die NATO (Standing Maritime Group-2) als auch die Europäische Union (mit der Mission Atalanta) beschlossen, Kriegsschiffe in die Region vorgeblich zur Pirateriebekämpfung zu entsenden. Haydt warnte aber davor, dieses Argument unkritisch zu übernehmen: "Das Piraterieproblem ist zu einem großen Teil hausgemacht. Als der somalische Staat - nicht zuletzt wegen der Strukturanpassungsprogramme des IWF ? vollkommen zusammenbrach, entließ er seine komplette Küstenwache. Dies hatte zur Folge, dass europäische Fangflotten die komplette Region leerräumten und so den örtlichen Fischern ihre Lebensgrundlage raubten. Aus diesen zwei Gruppen setzen sich die Piraten größtenteils zusammen. Wer also effektiv etwas zur Pirateriebekämpfung tun will, könnte an diesen sozialen Ursachen des Problems ansetzen. Stattdessen wird, wie so häufig, auf die militärische Karte gesetzt." Haydt machte in ihrem Beitrag noch auf einen weiteren Aspekt aufmerksam. In naher Zukunft würden im Rahmen des neuen Seerechtsabkommens große Teile der Weltmeere und die dort vermuteten Rohstoffe verschiedenen Staaten zugesprochen. Dabei gebe es teils konkurrierende Gebietsansprüche was zur Folge habe, dass Länder im Vorgriff auf zu erwartende Auseinandersetzungen Militärschiffe entsenden und damit Claims abstecken würden. "Militärische Präsenz schafft Fakten", kommentierte Haydt diese Entwicklung. Schild und Schwert: Aggressive Atompolitik und Raketenabwehr der NATO IMI-Beirat Arno Neuber verwies zunächst darauf, dass die Nuklearpolitik der NATO schon immer offensiv ausgerichtet gewesen sei und das Bündnis während des Kalten Krieges stets mit etwas zeitlicher Verzögerung die Doktrin der Vereinigten Staaten übernommen habe. Dies sei insofern besonders bedenklich, dass Washington mit der im Jahr 2002 veröffentlichten Nuclear Posture Review eine aggressive Neuausrichtung ihrer Atomdoktrin vorgenommen hätten: vorgesehen seien dort Atomschläge gegen "Schurkenstaaten" aber auch Russland und China werden als potenzielle Gegner benannt. Das Ziel sei die Eskalationsdominanz, man wolle potenziell gegenüber diesen beiden Großmächten erstschlagfähig sein. Aus diesem Grund habe man auch den ABM-Vertrag gekündigt, der Raketenabwehrschilde verbietet. Das Restrisiko, dass nach einem Erstschlag einige russische Waffen übrig bleiben könnten, will man mit der Raketenabwehr weiter minimieren. "Dadurch wären Moskau und China atomar unterfütterten Erpressungsversuchen Washingtons nahezu hilflos ausgesetzt, weshalb sie derzeit beide versuchen, ihr Arsenal massiv aufzurüsten, um auch weiter über ein Abschreckungspotenzial zu verfügen. Diese Rüstungsspirale geht auf das Konto der USA", so Neuber. Auch die NATO werde in ihrer Atompolitik immer aggressiver. Das bereits im ersten Vortrag von Tobias Pflüger angesprochene Grundsatzpapier von General Naumann plädiere für eine atomare NATO-Erstschlagsdoktrin. Darüber hinaus plane auch die NATO den Aufbau einer umfassenden Raketenabwehr, zusätzlich zu den ohnehin schon anvisierten US-Installationen in Osteuropa. Die NATO habe hierfür bereits eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben, die im Jahr 2006 veröffentlicht wurde und eine Raketenabwehr für machbar halte. Auf dieser Grundlage sei auf dem NATO-Gipfel in Bukarest im April 2008 beschlossen worden, die Pläne für den Aufbau eines NATO-Schildes voranzutreiben. "Es ist vollkommen absurd, dass diese Machbarkeitsstudie ausgerechnet von einem Konsortium aus Rüstungskonzernen erstellt wurde, die naturgemäß ein großes Interesse an der Realisierung eines solchen Projektes haben. Dass deren Ergebnisse darüber hinaus auch noch geheim gehalten und damit nicht überprüft werden können, riecht danach, dass hier einmal mehr den Rüstungskonzernen gigantische Summen in die Taschen gespült werden sollen ? die Rede ist von Kosten in Höhe von bis zu 40 Mrd. Euro", so Neuber. Lokale Einrichtungen für globale Kriege: Kein Friede mit der NATO in Deutschland Das abschleißende Plenum mit einem Vertreter des ?Regionalen Aktionsbündnisses gegen den NATO-Gipfel?, Jens Rüggeberg vom Friedensplenum Tübingen, Tobias Pflüger und Franz Iberl vom Münchener Friedensbündnis war zweiteilig. Im ersten Teil sollte gezeigt werden, dass es in vielen Städten NATO-Einrichtungen gibt, die sich hervorragend zur Mobilisierung eignen. Als Beispiele benannte Tobias Pflüger folgende Einrichtungen: das US-EUCOM in Stuttgart-Vaihingen, das auch innerhalb der NATO eine wesentliche Rolle spielt, die NATO-AWACS-Militärbasis in Geilenkirchen, der von der EU, der NATO und den USA für ihre Militäreinsätze umfangreich genutzte "zivile" Flughafen Halle/Leipzig und das im südbadischen Müllheim beheimatete Eurokorps, das insbesondere von der NATO als NATO Response Force genutzt wird. Franz Iberl ging auf die NATO-Schule Oberammergau und das George-Marshall-Center in Garmisch, die als Schulungs- und Denkzentren wichtige Bedeutung für die NATO-Politik haben. "Brutstätten für autistische Parallelwelten" nannte Iberl diese Einrichtungen, die ein weltweites Netzwerk von NATO-Angehörigen und politischen Entscheidungsträgern bilden. Jens Rüggeberg beschrieb die neu ausgebaute NATO-Pipeline, die bundesweit durch viele Landkreise verläuft, symbolträchtig auch von Tübingen nach Kehl. "Kein Krieg ohne Sprit, kein Frieden ohne Unterbrechung der Spritzufuhr", so Rüggebergs Aussage verbunden mit dem Vorschlag, Friedensgruppen entlang der Pipelinestrecke sollten sich miteinander vernetzen. Nachdem mit dem ersten Teil Anregungen für kleinere Protestaktionen bei den jeweiligen NATO-Einrichtungen gegeben wurden, widmete sich der zweite Teil des Plenums den Vorbereitungen für den Protest zum NATO-Gipfel in Straßburg und Baden-Baden. Ein Vertreter des ?Regionalen Aktionsbündnisses gegen den NATO-Gipfel? berichtete über den Stand der Vorbreitungen in Kehl, das zwar nicht mehr als Veranstaltungsort des NATO-Gipfel, aber aufgrund der Nähe zu Straßburg Ort für das Camp der Gipfel-Gegner sein wird. Tobias Pflüger berichtete über den Stand der deutschlandweiten und internationalen Vorbereitungen des Protests. In der anschließenden Diskussion wurde deutlich, wie wichtig es ist, dass die unterschiedlichen Spektren in der Friedens- und Antimilitaristischen Bewegung und darüber hinaus gemeinsame Aktionen zustande bringen. Es wurde angeregt, Gewerkschaften und die Kirchen in die Vorbereitung einzubeziehen. Auch wurde die Notwendigkeit unterstrichen, anderen linken Gruppen, die sich nicht hauptsächlich mit Themen wie Krieg, Frieden und Militär beschäftigen, die Bedeutung der NATO auch für Themen wie Umweltschutz, Welthandel, Repression und den Schutz von Menschenrechten zu vermitteln. Als wichtige Etappen bei der Vorbereitung auf die Proteste gegen den NATO-Gipfel im März 2009 wurden die internationale Aktionskonferenz am 14. und 15. Februar in Strassburg sowie die Aktivitäten im Rahmen der NATO Sicherheitskonferenz am Wochenende davor unterstrichen. From imi at imi-online.de Tue Dec 9 16:47:50 2008 From: imi at imi-online.de (Informationsstelle Militarisierung) Date: Tue, 09 Dec 2008 16:47:50 +0100 Subject: [IMI-List] [0300] Neuer AUSDRUCK / IMI-Praktikum / Abkommen zwischen UN und NATO Message-ID: <493E9326.1010601@imi-online.de> ---------------------------------------------------------- Online-Zeitschrift "IMI-List" Nummer 0300 .......... 12. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563 Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. Red.: IMI / Christoph Marischka / Jürgen Wagner Abo (kostenlos)........ IMI-List-subscribe at yahoogroups.com Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste.php3 ---------------------------------------------------------- Liebe Freundinnen und Freunde, in dieser IMI-List finden sich: 1. Links auf alle Texte des neuen AUSDRUCK (Dezember 2008); 2. die Ausschreibung eines Praktikums "Kritische Sicherheitspolitikanalyse" bei der IMI 3. einen Standpunkt zum Abkommen, das die Generalsekretäre von UN und NATO kürzlich unterzeichnet haben. 1. Neuer AUSDRUCK (Dezember 2008) erschienen INHALTSVERZEICHNIS -- Jürgen Wagner Change We Can´t: Barack Obama, der Siegeszug der "War-Democrats" und die Re-Vitalisierung der NATO http://www.imi-online.de/download/JW-Dez08-Obama.pdf -- Joachim Guilliard Irak - Besatzungsende nicht in Sicht http://www.imi-online.de/download/JG-Dez08-SOFAIrak.pdf Deutschland und die Bundeswehr -- Arno Neuber Rüstungshaushalt 2009 http://www.imi-online.de/download/AN-Dez08-Ruestung.pdf -- Lucius Teidelbaum Stahlhelm und Schmisse: Über das Verhältnis Korporierter zu Armee und Krieg http://www.imi-online.de/download/LT-Dez08-Stahlhelm.pdf -- Michael Schulze von Glaßer Bundeswehr-Marketing in Jugendmedien http://www.imi-online.de/download/MSG-Dez08-Marketing.pdf Kongo -- Christoph Marischka Illusionen der Allmacht: Praktische Anmerkungen zur "Verantwortung zum Schutz" http://www.imi-online.de/download/CM-Dez08-R2P.pdf -- Christoph Marischka Kongo: Wie EUropäische Träume platzen http://www.imi-online.de/download/CM-Dez08-KongoBuch.pdf Sonstiges -- Andreas Seifert China in Afrika: positive Effekte? http://www.imi-online.de/download/AS-Dez08-ChinaAfrika.pdf -- IMI Bericht IMI-Kongress http://www.imi-online.de/download/IMI-Dez08-Kongressbericht.pdf -- Tobias Kaphegyi Versammlungsgesetz: Der Staat geht in die Offensive http://www.imi-online.de/download/TK-Dez08-Versammlungsgesetz.pdf 2. Praktika bei der IMI Das gesamte Jahr 2009 über kann die Informationsstelle Militarisierung Praktika betreuen. Neben einigen begrenzten organisatorischen Tätigkeiten steht bei Praktika bei der IMI die Erstellung einer eigenen Studie oder Analyse im Vordergrund. Bei der Recherche hierzu und auch bei der abschließenden Formulierung ist das Büroteam jederzeit behilflich. Zudem bietet ein Praktikum bei der IMI die Möglichkeit, die Arbeit unseres kleinen Vereines und die Strukturen der Friedensbewegung und der antimilitaristischen Bewegung kennen zu lernen. Insbesondere politikwissenschaftliche Institute erkennen die IMI als Stelle eines Pflichtpraktikums überwiegend an. Die Möglichkeit eines Praktikums ist aber freilich nicht auf Studierende beschränkt. Wer Interesse an einem Praktikum bei der Informationsstelle Militarisierung im Jahr 2009 hat, kann sich jederzeit telefonisch (07071-49154) oder per Mail (imi at imi-online.de) bei uns melden. 3. Klammheimlich geschlossenes Abkommen zwischen UN und NATO Weitgehend unbemerkt und an den Strukturen der Vereinten Nationen vorbei hat deren Generalsekretär, Ban Ki-moon, bereits am 23. September 2008 ein Abkommen mit der NATO unterzeichnet. Die UN allerdings scheinen nicht besonders stolz auf das einseitige Dokument zu sein und hielten dessen Inhalt bislang geheim. Mittlerweile ist es an die Öffentlichkeit gedrungen und hat heftige Kritik insbesondere am UN-Generalsekretär ausgelöst. IMI-Standpunkt 2008/061 Wird die NATO zum militärischen Flügel der UN? UN-Generalsekretär würdigt NATO - heimlich und im Alleingang http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1854 4.12.2008, Christoph Marischka Der Generalsekretär der Vereinten Nationen und der Generalsekretär der Nato begrüssen die bereits über ein Jahrzehnt andauernde Zusammenarbeit zwischen den Vereinten Nationen und der Nato zur Unterstützung der Arbeit der Vereinten Nationen an der Aufrechterhaltung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit..." Mit diesen Worten beginnt die gemeinsame Erklärung. Die USA, Frankreich und Großbritannien, alles ständigen Mitglieder im UN-Sicherheitsrat, hätten Druck auf Ban Ki-moon ausgeübt, zu unterzeichnen. Russland, ebenfalls ständiges Mitglied im Sicherheitsrat und eigentlich der einzige Rest Feind, den die NATO noch hat, bekam im Vorfeld der Unterzeichnung Wind von dem Abkommen und stellte Ban Ki-moon zur Rede, erhielt aber nur ausweichende Antworten.[1] "Es liegt auf der Hand, dass dies ein Affront gegen China und Russland ist sowie auch gegen die «blockfreien» Staaten darstellt" urteilte deshalb Alfred de Zayas, ehemaliger Sekretär des UN-Menschenrechtsausschusses.[2] Der Generalsekretär habe hiermit seine Kompetenzen überschritten und die UN endgültig parteilich werden lassen. Eben diese Parteilichkeit macht er für den Tod zahlreicher UN-Mitarbeiter im Irak verantwortlich, da sie dazu führte, "dass die Iraker die Uno als einen imperialistischen Arm der Nato verstanden haben beziehungsweise wahrscheinlich noch so verstehen".[3] Ein atomwaffengestütztes Militärbündnis als Friedensbringer Eine ähnliche Kritik formulierte der Vorstand der Transnational Foundation for Peace and Future Research: Ein solches Abkommen erschwere es noch mehr, zwischen NATO- und UN-Einsätzen zu unterscheiden. Nachdem die UN die NATO auf diese Weise mit einem "besonderen Status" ausgezeichnet hat, dürfte es künftig nahezu unmöglich werden, dem Bündnis, das bereits drei von fünf Vetomächten im Sicherheitsrat stellt, Brüche des Völkerrechts vorzuwerfen. Außerdem stellt das Friedensinstitut in Frage, wie die UN nach diesem engen Abkommen noch ihre Ziele der weltweiten Abrüstung und Abschaffung von Atomwaffen verfolgen kann, wo doch die NATO-Staaten für 70% der globalen Rüstungsausgaben verantwortlich sind und es sich das Bündnis vorbehält, auch auf konventionelle Angriffe mit Atomschlägen zu reagieren. Das Abkommen zwischen UN und NATO sei "auf gleicher Augenhöhe" geschlossen worden. Bei der NATO handle es sich aber um ein von Atomwaffen gestütztes Militärbündnis, die UN hingegen verfolge nach Artikel 1 ihrer Charta das Ziel, "den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen." Irritiert zeigt sich die Transnational Foundation außerdem über den Zeitpunkt des Abkommens, schließlich seien die NATO-Staaten gegenwärtig in "mehrere sehr heikle Konflikte - heikel auch unter Mitgliedern des Sicherheitsrates - verwickelt", darunter die Georgien-Krise und die sich zuspitzende Lage in Afghanistan.[4] UN als neues Vehikel der USA Andere, wie Karl Müller in den Zeit-Fragen, finden den Zeitpunkt hingegen "bezeichnend" und sehen eine Verbindung zu den Wahlen in den USA. Auch Obama wolle die weltweite Vormachtstellung der USA aufrechterhalten, anders aber als sein Vorgänger Bush eher durch eine Instrumentalisierung der UN anstatt an den Vereinten Nationen vorbei. So finden sich im außenpolitischen Beraterstab Obamas zahlreiche "Ideologen der humanitären Intervention".[5] Eine wichtige Weichenstellung für solch eine Instrumentalisierung wurde mit der "Verantwortung zum Schutz" (Responsibility to Protect) auf dem Reformgipfel zum 60jährigen Bestehen der UN vorgenommen, auf den sich das UN-NATO-Abkommen explizit bezieht. Mit der Feststellung dieser "Verantwortung" - die irgendetwas zwischen Definition und völkerrechtlicher Norm darstellt - versuchten einige Staaten das Souveränitätsprinzip und damit das Interventionsverbot auszuhebeln und somit eine völkerrechtliche Legitimation für Staaten und Militärbündnisse zu schaffen, um unter humanitären Vorwänden Angriffskriege zu führen. Ebenso begründete die NATO ihr völkerrechtswidriges Bombardement Rest-Jugoslawiens 1999. Vorbild EU Betrachtet man ein sehr ähnliches Abkommen, das fast auf den Tag genau fünf Jahre früher, nämlich am 24. September 2003, zwischen der EU und der UN geschlossen wurde, so steht durchaus zu befürchten, dass NATO-Interventionen unter eigener Führung aber mit UN-Mandat zukünftig zunehmen werden. Das damalige Abkommen begann fast wortgleich folgendermaßen: "Der Generalsekretär der Vereinten Nationen und die Ratspräsidentschaft der EU begrüssen die andauernde Zusammenarbeit zwischen den Vereinten Nationen und der EU im Bereich des zivilen und militärischen Krisenmanagements, vor allem auf dem Balkan und in Afrika."[6] Im Abkommen mit der NATO wird angekündigt, dass ein "Rahmen für erweiterte Beratung und Zusammenarbeit zwischen ihren jeweiligen Sekretariaten zu schaffen" sei, um die Kooperation "zwischen unseren Organisationen im Hinblick auf Fragen von gemeinsamem Interesse weiterzuentwickeln, einschliesslich, aber nicht beschränkt auf Kommunikation, Teilen von Informationen, einschliesslich Fragen des Schutzes der Zivilbevölkerung, des Aufbaus von Kapazitäten, von Training und Übungen, Auswertung von Lernergebnissen, Planung und Unterstützung für Eventualitäten und operationale Koordination und Unterstützung." Auch hierzu finden sich nahezu identische Formulierungen im fünf Jahre älteren EU-Dokument. Wichtig - und im Hinblick auf die NATO besorgniserregend - ist die Tatsache, dass es dabei keineswegs nur bei leeren Versprechen blieb. Im Anschluss an das Abkommen wurde ein EU-UN Lenkungsausschuss eingerichtet, der an der Vorarbeit eines "Implementierungsprogramms" beteiligt war, in dem die EU ihre Fähigkeiten zur Konfliktbefriedung anpries und konkrete Vorschläge machte, wie sie im Rahmen von UN-Einsätzen oder diese ergänzend und ersetzend intervenieren könnte. Gleichzeitig machte die EU in diesem Prozess aber auch klar, dass sie zukünftig keine Soldaten mehr dem UN-Kommando unterstellen will sondern allenfalls - wenn es ihren Interessen entspricht - selbst interveniert.[7] Die so entstandene enge Abstimmung zwischen EU und UN kam bereits nach gut zwei Jahren das erste Mal zum Tragen, als die EU parallel zur UN-Mission Monuc einen eigenen Einsatz in der Demokratischen Republik Kongo zur Absicherung der Wahlen beschloss. Auch der UN-mandatierte Einsatz in Tschad und der Zentralafrikanischen Republik wurde eher unbürokratisch zwischen beiden Organisationen abgestimmt. Seit dem heißt es zumindest in Bezug auf Afrika in Brüssel, man könne sich jeglichen Einsatz schnell von der UN mandatieren lassen, wenn man dies nur wolle. UN-Deckmäntelchen und Ban Ki-moon Marionette Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen beiden Erklärungen liegt in ihrer Kontrafaktizität bzw. ihrer beschönigenden Darstellung der bisherigen Kooperationen. Das Abkommen mit der EU lobte deren Engagement auf dem Balkan und am Kongo, dasjenige mit der NATO deren Missionen in Bosnien und Afghanistan. In all diesen Fällen hat sich die UN mit der Delegation an EU und NATO bzw. mit der nachträglichen Legitimation von Angriffskriegen nicht eben mit Ruhm bekleckert, während sich sowohl die EU in Afrika und auf dem Balkan als auch die NATO auf dem Balken und in Afghanistan erfolgreich zu militärischen Interventionsbündnissen weiterentwickeln konnten. Zumindest in Bosnien, aber auch in Afrika insgesamt, kann man hingegen sagen, dass die EU und NATO-Staaten die UN geschwächt haben, indem sie deren eigenständigen Missionen kaum unterstützt haben und nur darauf warteten, als Feuerwehr gerufen zu werden. Das neue Abkommen mit der NATO droht eine eingespielte Zusammenarbeit zwischen NATO, EU und UN weiter zu verfestigen: Während die UN selbst langfristige Einsätze in geopolitisch uninteressanten Regionen unter eigenem Kommando ausführt, greift die NATO - mit oder ohne UN-Mandat - dort ein, wo sie eigene Interessen verfolgt. Die EU übernimmt danach UN-mandatiert die Stabilisierung und führt gelegentlich maneuverartige Missionen in Afrika durch, um ihre Kapazitäten hierfür auszubauen. Deshalb fordern nun viele Mitarbeiter und Unterstützer der UN eine intensive und ergebnisoffene Debatte um das bislang geheim gehaltene Dokument. Sie greifen Ban Ki-moon scharf an. Ganz zurecht: Er gefährdet mit diesem Abkommen die Neutralität und damit auch die Legitimität der UN und wird selbst zunehmend als Marionette der USA wahrgenommen. ?Die einzigartige Bedeutung der Vereinten Nationen" scheint tatsächlich nur noch darin zu bestehen, "einen notwendig werdenden Einsatz militärischer Gewalt mit der völkerrechtlichen Legitimität zu versehen?, wie es das Bundesverteidigungsministerium bereits 2006 in seinem Entwurf für ein Weißbuch der Bundeswehr formulierte.[8] Anmerkungen [1] UN and NATO sign Secret Military Cooperation Agreement in Violation of UN Charter - Ban Ki-moon acting beyond his powers, RIA Novosti (9.10.2008) [2] Alfred de Zayas: Verstoss gegen Uno-Charta, in: Zeit-Fragen Nr. 48. [3] Karl Müller: Geheimabkommen zwischen Uno und Nato kann nicht im Sinne der Weltgemeinschaft sein, in: Zeit-Fragen Nr. 48. [4] TFF PeaceTips vom 3.12.2008: Breaking News... Secret UN-NATO Cooperation Declaration [5] Jürgen Wagner: Change We Can´t - Barack Obama, der Siegeszug der "War-Democrats" und die Re-Vitalisierung der NATO, in: AUSDRUCK (Dezember 2008) [6] Council of the European Union: Joint Declaration on UN-EU Co-operation in Crisis Management (CL03-310EN) [7] Christoph Marischka: Battlegroups mit UN-Mandat - Wie die Vereinten Nationen die europäische Rekolonialisierung Afrikas unterstützen, Studien zur Militarisierung EUropas 31/2007 [8] Martin Kutscha: Abschied von der Friedensstaatlichkeit? - Stellungnahme zum Entwurf eines ?Weißbuchs zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr? vom 28.April 2006 Christoph Marischka From imi at imi-online.de Tue Dec 16 14:48:21 2008 From: imi at imi-online.de (Informationsstelle Militarisierung) Date: Tue, 16 Dec 2008 14:48:21 +0100 Subject: [IMI-List] =?iso-8859-15?q?=5B0301=5D_Spendenaufruf_/_Aktualisier?= =?iso-8859-15?q?ung_Militarisierung_Entwicklungshilfe_/_Milit=E4r_gegen_P?= =?iso-8859-15?q?iraten?= Message-ID: <4947B1A5.1000907@imi-online.de> ---------------------------------------------------------- Online-Zeitschrift "IMI-List" Nummer 0301 .......... 12. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563 Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. Red.: IMI / Christoph Marischka / Jürgen Wagner Abo (kostenlos)........ IMI-List-subscribe at yahoogroups.com Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste.php3 ---------------------------------------------------------- Liebe Freundinnen und Freunde, in dieser IMI-List finden sich: 1.) Die Bitte um Spenden zur Unterstützung unserer Arbeit; 2.) Die Aktualisierung einer Studie zur Militarisierung der Entwicklungshilfe; 3.) Eine Analyse zum Militäreinsatz gegen Piraten am Horn von Afrika. 1. Spendenaufruf Auch dieses Jahr haben wir uns bemüht, mit unserer Arbeit der Militarisierung Deutschlands etwas entgegenzusetzen. Viele Menschen haben uns dabei mit Ideen, Arbeitskraft und auch Spenden unterstützt. Herzlichen Dank dafür! Gerade stecken wir mitten in der Vorbereitung für eine umfassende Broschüre, die zur Mobilisierung gegen den NATO-Gipfel im April 2009 beitragen soll. Um dieses und andere Vorhaben im nächsten Jahr umsetzen zu können, benötigen wir aber angesichts unserer unsicheren Finanzlage Eure Unterstützung! Deshalb freuen wir uns über jede Spende zur Unterstützung unserer Arbeit -- und sei sie auch noch so klein (Spenden an die IMI sind weiterhin steuerlich abzugsfähig, wir senden die Bescheinigungen Anfang 2009 zu!). Spendenkonto: 1662832, KSK Tübingen: BLZ 641 500 20 Wer unsere Arbeit kontinuierlich unterstützen möchte, kann dies am besten über eine Mitgliedschaft bei IMI tun (ebenfalls steuerlich abzugsfähig!). IMI-Mitglieder bekommen zudem unser Magazin AUSDRUCK alle zwei Monate als Printversion zugeschickt (Formulare finden sich unter http://www.imi-online.de/download/mitglied.pdf). Wir freuen uns über jede Hilfe und bedanken uns hiermit herzlich für jede Form der Unterstützung! 2) Aktualisierte Studie zur Militarisierung der Entwicklungshilfe Die im November 2008 überarbeitete und nun in gedruckter Form vorliegende Broschüre (83S. DINA4) "Mit Sicherheit keine Entwicklung! Die Militarisierung der Entwicklungszusammenarbeit" von IMI-Vorstand Jürgen Wagner kann GRATIS unter folgender Adresse bezogen werden: Bundestagsbüro Heike Hänsel: heike.haensel at bundestag.de Die Außerdem kann die im Auftrag der LINKEN im Bundestag erstellte Studie auch unter folgendem Link heruntergeladen werden: Die Militarisierung der Entwicklungszusammenarbeit (überarbeitete und erweiterte Version. Stand: November 2008): http://www.imi-online.de/download/EZ-Broschuere-Oktober2008.pdf INHALTSVERZEICHNIS Einleitung 1. Die "Neuen Kriege" und der entwicklungspolitische Paradigmenwechsel 1.1 Der Staatenkrieg als Auslaufmodell 1.2 Kriegsursachen aus Sicht der Neuen Kriege 1.3 Krieg als militärischer Humanismus 1.4 Krieg als sicherheitspolitischer Imperativ 1.5 Die Neuen Kriege: Steigbügelhalter für die Rekolonisierung der Peripherie 2. Armut als Kriegsursache: Die Militarisierung des Neoliberalismus und die Krisentendenzen der Weltwirtschaftsordnung 2.1 Die Bankrotterklärung des Neoliberalismus 2.2 Armut als Kriegsursache Nummer Eins 2.3 Krisentendenzen und militärischer Neoliberalismus 2.4 Militärischer Investitionsschutz als entwicklungspolitisches Projekt 3. Stabilitätsexport als neues außen- und entwicklungspolitisches Leitbild 3.1 Stabilitätsexport als moralisch-sicherheitspolitischer Imperativ 3.2 Vernetzte Sicherheit: Die Subordination der Entwicklungshilfe 3.3 Entwicklungspolitischer Paradigmenwechsel: Von der Armutsbekämpfung zur Sicherheitspolitik 4. Krieg als Entwicklungshilfe 4.1 Was ist ODA? 4.2 Phantomhilfe und vorgegaukelte Großzügigkeit 4.3 Sicherheitskonditionalität: Entwicklungshilfe als Terrorbekämpfung 4.4 Dammbruch: Die sicherheitspolitische Erweiterung der ODA-Kriterien 4.5 Sicherheitssektorreform: Entwicklungshilfe als Aufstandsbekämpfung 4.6 Kriegseinsätze mit Entwicklungshilfegeldern? 4.7 Krieg als Entwicklungshilfe: Das Beispiel der African Peace Facility 4.8 Die Zweckentfremdung der Entwicklungshilfe: Das Drama in Zahlen 4.9 Kurz vor dem Rubikon: Österreichische Kriegsentwicklungshilfe im Tschad 4.10 Kritik: Sicherheit statt Entwicklung Exkurs: Die Vereinigten Staaten als Blick in die Kristallkugel 5. CIMIC - Das Ende eigenständiger Entwicklungszusammenarbeit 5.1 CIMIC I: Vereinte Nationen 5.2 CIMIC II: Europäische Union 5.3 CIMIC III: NATO 5.4 Afghanistan: Prototyp Zivil-militärischer Aufstandsbekämpfung 5.5 Von Helfern zu Kollaborateuren zu Anschlagszielen 5.6 Fazit: CIMIC als integraler Bestandteil westlicher Kriegspolitik 6. Neoliberales Nation Building 6.1 Neoliberalismus als europäische Kernideologie 6.2 Bittere Medizin: Neoliberale Entwicklungshilfe als Armutsbekämpfung 6.3 Neoliberales State Building I: Theorie 6.4 Neoliberales State Building II: Afghanistan 6.5 Neoliberales State Building III: Kosovo 7. Verschärfung von Armutskonflikten und globaler Kriegszustand 7.1 Neoliberaler "Stabilitätsexport" und selektive Interessensdurchsetzung 7.2 Stabilitätsexport und gewaltsamer Widerstand 8. Fazit: Plädoyer für eine systemkritische Fokussierung der Entwicklungspolitik Bibliographie ABBILDUNGSVERZEICHNIS http://www.imi-online.de/download/EZ-Broschüre-Oktober2008.pdf 3) Analyse zum Militäreinsatz gegen Piraten am Horn von Afrika. IMI-Analyse 2008/040 - in: Junge Welt, 5.12.2008 Maritimes Säbelrasseln Die internationalen Fischfangflotten rauben am Horn von Afrika Milliardenwerte. Die daraus resultierende Piraterie wird von Industriestaaten mit Militarisierung der wichtigen Handelsroute beantwortet http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1855 5.12.2008, Claudia Haydt Weithin sichtbar waren die Flammen, als in der Nacht von 18. auf den 19. November die indische Fregatte »INS Tabar« im Golf von Aden ein vermeintliches Piratenmutterschiff beschoß und versenkte. Nachdem in den Wochen zuvor mehrere Schiffe von Freibeutern gekapert worden waren, zuletzt der saudische Supertanker »Sirius Star«, gab es damit endlich eine Erfolgsmeldung im Kampf gegen die Piraten. In »Selbstverteidigung« und in einem »erbitterten Kampf« konnte die indische Marine den »Piraten ihre schwimmende Plattform« entziehen -- so bejubelten die meisten internationalen Medien das Geschehen. Als sechs Tage später der vermutlich einzige Überlebende der Besatzung aus dem Meer gerettet wurde, kam eine gänzlich andere Geschichte zum Vorschein. Piraten hatten den thailändischen Fischkutter »Ekawat Nava 5« geentert. Als die »Tabar« sich näherte, drohten die Piraten, gaben einige Schüsse ab und verließen den Fischtrawler mit ihren Schnellbooten. Das Schiff mitsamt seiner größtenteils gefesselten Besatzung ging in Folge des Beschusses durch das Kriegsschiff in Flammen auf und sank. Ein Besatzungsmitglied wurde tot geborgen und 14 werden bis heute vermißt. Dieser Vorfall zeigt überdeutlich, was es bedeuten kann, wenn Piratenbekämpfung zu einer militärischen Aufgabe wird. Es ist bezeichnend für das momentane politische und mediale Klima, daß der Tod von wahrscheinlich 15 Menschen nicht zum Anlaß genommen wurde, darüber nachzudenken, ob militärische Maßnahmen wirklich der richtige und sinnvolle Weg zur Überwindung der Pirateriegefahr sind. Mit beängstigender Zielstrebigkeit wird auf allen politischen Ebenen darum gerungen, sämtliche Hindernisse für den Militäreinsatz am Horn von Afrika -- und weit darüber hinaus -- aus dem Weg zu räumen. Die politische Agenda richtet sich dabei wesentlich mehr an den wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen der Truppensteller aus als an einer Bekämpfung der Ursachen der Piraterie. Militarisierung der Seewege Nur in Hollywoodfilmen sind Piraten so zuvorkommend, durch Hissen einer Totenkopfflagge ihren Gegnern die Identifizierung und Bekämpfung einfach zu machen. Bevor sich Piraten einem poten¬tiellen Opfer nähern, sind sie weder für Kriegsschiffe noch für Aufklärungsflugzeuge eindeutig als Piraten zu identifizieren. Dennoch setzen sowohl Militärbündnisse wie die NATO oder die EU als auch Einzelstaaten wie Rußland, Indien und die USA mit ihrer Fünften Flotte auf die militärische Karte. Rußland versucht, die ehemalige sowjetische Marinebasis in Aden (Jemen) wieder zu beleben, und Indien ist es gelungen, in Oman Anlegemöglichkeiten für seine Kriegsschiffe zu erhalten. In den letzten Monaten ist es voll geworden im Meer vor dem Horn von Afrika. Der Indische Ozean ist offensichtlich ein neuer Schauplatz globaler Machtpolitik. Neben den genannten Akteuren haben weitere wie Frankreich, Großbritannien, Südkorea und Malaysia nationale maritime Kontingente entsandt. Sogar der Iran, dessen Schiffe ebenfalls Opfer der Piraterie wurden, kündigte seine Präsenz an. Japan erwägt militärischen Geleitschutz für seine Schiffe, und in China findet zur Zeit eine intensive Debatte darüber statt, ob die Marine künftig auch zum Schutz der chinesischen Handelsflotte eingesetzt werden soll. Daß innerhalb dieser bunten Antipiratenkoalition einiges an Eskalationspotential liegt, ist nicht zu übersehen. Die deutsche Marine ist auch ohne Antipiratenmandat längst Teil des Säbelrasselns. Seit Ende 2001 beteiligt sich die Bundesmarine an der maritimen Komponente der Operation Enduring Freedom (OEF). Mit der Fregatte »Mecklenburg-Vorpommern« und etwa 230 Seeleuten ist Deutschland am Horn von Afrika militärisch präsent, offiziell, um dort den internationalen Terrorismus zu bekämpfen. Praktisch waren Marineschiffe jedoch schon mehrfach im Zuge der »Nothilfe« in Antipirateneinsätzen aktiv -- wenn sie »zufällig in der Nähe« waren. Ab Januar 2009 wird die »Mecklenburg-Vorpommern« als Führungsschiff der OEF eingesetzt. Die NATO hat Anfang November 2008 im Rahmen der Operation »Allied Provider« die »Standing NATO Maritime Group 2« (SNMG2) aus dem Mittelmeer ans Horn von Afrika verlegt. Der deutsche Beitrag hierfür besteht aus der Fregatte »Karlsruhe« und dem Versorgungsschiff »Rhön«. Begründet wird der Einsatz vor allem mit dem Schutz für Schiffe des Welternährungsprogramms. Warum für diese Aufgabe jedoch vier Kriegsschiffe nötig sein sollen, bleibt ein Rätsel. Die Operation »Allied Provider« kooperiert eng mit der indischen Marine, ein Fakt, der im blockfreien Indien für Diskussion über eine neue Bündnispolitik sorgt. Am Rande des jüngsten NATO-Außenministertreffens wurde klar, daß die Mission des Bündnisses Ende Dezember nicht beendet, sondern lediglich kurzfristig unterbrochen wird. NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer deutete an, daß verstärkte Präsenz auf den Weltmeeren für die NATO zukünftig einen hohen Stellenwert haben wird: »Die NATO prüft tatsächlich eine langfristige Rolle (...), aber auf diesem Globus gibt es viel Wasser, und dieses Thema wird noch lange Zeit auf der Tagesordnung stehen.« EU als Seemacht? Am 10. November beschloß der Rat der Europäischen Union eine gemeinsame Antipirateriemission unter dem Namen »Atalanta«. Die »gemeinsame Aktion« ermöglicht einen ersten Einsatz von Kriegsschiffen unter EU-Flagge. Ihr Auftrag: »Durchführung der erforderlichen Maßnahmen, einschließlich des Einsatzes von Gewalt, zur Abschreckung, Verhütung und Beendigung von seeräuberischen Handlungen oder bewaffneten Raubüberfällen, die in den Gebieten, in denen (die Mission »Atalanta« -- C. H.) präsent ist, begangen werden könnten.« Am Montag nächster Woche, also am 8. Dezember, werden die EU-Außenminister voraussichtlich den Operationsplan und die Einsatzregeln vereinbaren. Damit soll die Mission bereits in der kommenden Woche ihre Arbeit aufnehmen. Insgesamt sollen sechs Kriegsschiffe, drei Aufklärungsflugzeuge, Hubschrauber und Versorgungsschiffe eingesetzt werden. Der deutsche Beitrag dazu, die Fregatte »Karlsruhe«, liegt vor Ägypten und wäre im Nu einsatzbereit. Die politische Entscheidung wird jedoch möglicherweise nicht ganz so schnell fallen. Das Kabinett wird wahrscheinlich am 10. Dezember eine Entscheidung über das Mandat treffen. Der Bundestag soll dann in der letzten Sitzungswoche vor Weihnachten im Schnellverfahren diesem Vorgehen zustimmen. Das funktioniert jedoch nur, wenn alle Fraktionen zustimmen. Die parlamentarische Geschäftsführerin der Linksfraktion, Dagmar Enkelmann, hat jedoch bereits angekündigt, daß ihre Fraktion erheblichen Diskussionsbedarf hat. Damit ist mit einer endgültigen Abstimmung im Bundestag voraussichtlich erst Mitte Januar zu rechnen. Viele Details der EU-Mission »Atalanta« sind tatsächlich fragwürdig. So ist völlig unklar, was mit gefangenen Piraten geschehen soll. Wie etwa soll der Richtervorbehalt des Artikels 104 im Grundgesetz (GG) am Horn von Afrika umgesetzt werden? Sollen Beamte der Bundespolizei für eventuelle Verhaftungen mit an Bord genommen werden? Offensichtlich will besonders die CDU/CSU das Piratenproblem als Türöffner für die Aushebelung der Aufgabentrennung von Polizei und Militär und Änderung der Artikel 35 und 87a GG nutzen. Auch der Einsatzraum der EU-Mission läßt einige Fragen offen. 500 Seemeilen entlang der somalischen Küste und der der Nachbarstaaten sollen die EU-Kriegsschiffe eingesetzt werden. Also auch in den Küstengewässern von Kenia und Dschibouti? Auch der Status der sogenannten »Embarked Military Forces«, also kleiner militärischer Einheiten, die auf gefährdeten Handelsschiffen eingesetzt werden sollen, ist unklar. Es besteht die konkrete Gefahr, daß hier rechtliche Grauzonen etabliert werden. Das Ziel ist eindeutig: Die Bevölkerung soll daran gewöhnt werden, daß der Schutz von ökonomisch und strategisch wichtigen Seetransporten eine Aufgabe der Bundeswehr sei. Formal stützt sich die EU-Mission auf das Seerechtsübereinkommen und die UN-Resolution 1816. Artikel 105 des Übereinkommens ermöglicht jenseits der Zwölf-Seemeilen-Zone die Piratenbekämpfung. Außer der direkten Nothilfe ist aktive Pirateriebekämpfung möglich -- jedoch keine Verpflichtung. Die UN-Resolution 1816 vom 2. Juni 2008 erweitert das Recht der Pirateriebekämpfung auf die Küstengewässer vor Somalia. Auch wenn die Resolution explizit feststellt, daß hier kein neues Gewohnheitsrecht geschaffen werden soll, ist doch zu befürchten, daß genau diese Aushebelung von staatlicher Souveränität als »Lösung« auch für zukünftige Konfliktkonstellationen angewandt wird. Mit der Resolution 1816 ermöglicht der Sicherheitsrat einen Einsatz gegen Piraten nach Kapitel VII der UN-Charta, zuerst auf sechs Monate beschränkt. Voraussetzung für eine solche »robuste« Mission ist eine Bedrohung des internationalen Friedens. Piraterie ist jedoch nicht mehr und nicht weniger als gewöhnliche Kriminalität. Der Sicherheitsrat hat durch seine Entscheidung einen weiteren Beitrag zur Aushöhlung des Völkerrechts geleistet. Diesen Kurs hält er, indem er am 2. Dezember 2008 die Piratenbekämpfung in somalischen Hoheitsgewässern um ein Jahr verlängerte. Insgesamt soll die Bundeswehr bis zu 1400 Soldaten für die EU-Mission »Atalanta« stellen. Mit dieser Größenordnung schafft sich die Regierung viel Spielraum. Es geht dabei auch darum, ein kurzfristiges Mandate-Switching zu ermöglichen. Dann kann eine Antiterrorfregatte, wenn sie gerade in der Nähe eines Piratenschiffs ist, zeitweilig zur Antipiratenfregatte mutieren. Grund für die maritime Präsenz ist offensichtlich: In einem Interview mit dem Fernsehsender Phoenix erklärte Verteidigungsminister Franz Josef Jung am 2. Dezember, daß Deutschland als Exportweltmeister Seesicherheit brauche. »Wir sind auf freien Seehandel angewiesen.« Mit mehr als 3200 Schiffen liegt die deutsche Handelsflotte bei der verfügbaren Transportkapazität hinter Griechenland und Japan auf Platz drei. Bei der Containerschiffahrt belegt Deutschland den ersten Platz. Der aktuelle Jahresbericht des Flottenkommandos der Deutschen Marine stellt fest: »Die maritime Wirtschaft zählt mit mehr als 380000 Beschäftigten und einem Umsatz von rund 48 Milliarden Euro zu den wirtschaftlich wichtigsten und fortschrittlichsten Wirtschaftszweigen in Deutschland.« Ungünstig für die Wirtschaft ist auch: Die Internationale Handelskammer gibt an, daß sich allein im letzten Jahr die Versicherungsprämien für den Transport durch den Golf von Aden verzehnfacht hätten. Das kann zu steigenden Preisen für Importe und Exporte führen. Die Seeroute vor Somalia wird jährlich von etwa 50000 Schiffen passiert. 20000 davon nehmen pro Jahr die Route durch den Golf von Aden zum Suezkanal, einen Weg den auch 30 Prozent des Rohöls für Europa nimmt. Piratenfischer und Giftmüll Die Karibik nimmt heute unter den von Piraterie betroffenen Regionen keinen Spitzenplatz mehr ein. Nach Angaben der International Maritime Organisation waren im Jahr 2007 besonders die Straße von Malakka, das südchinesische Meer, die Küsten Westafrikas -- speziell Nigeria -- sowie die Küste Ostafrikas -- speziell Somalia -- Schwerpunkte von Piratenüberfällen. In all diesen Regionen ist die Armut der zentrale Nährboden für die Piraterie. 2007 wurden weltweit 263 Angriffe durch Seeräuber gemeldet, 43 davon auf deutsche Schiffe. Die angegriffenen Schiffe sind nur zu einem kleinen Teil Luxusyachten, in 2007 waren es acht, 121 waren Containerschiffe, 77 Chemikalien- und Rohöltanker. Im Jahr 2008 hat sich die Anzahl der Übergriffe auf die Schiffahrt am Horn von Afrika im Vergleich zu anderen Region deutlich erhöht. Zur Zeit befinden sich vor Somalia 14 Schiffe und etwa 340 Seeleute in der Hand von Piraten -- bis sich Piraten und Reedereien über die Höhe des Lösegeldes geeinigt haben. Das kann Monate dauern. Zum finanziellen Umfang der Beute der Piraten gibt es nur Schätzungen. Allein vor dem Horn von Afrika sollen Piraten in den ersten neun Monaten dieses Jahres 30 Millionen Dollar Lösegeld erpreßt haben. Das sind für die Piraten und ihre verarmte Umgebung riesige Summen -- im Verhältnis zum gesamten Welthandel sind das Peanuts. 80 Prozent der Angriffe fanden in Küstennähe statt. Jedoch fällt auf, daß besonders die somalischen Korsaren ihren Aktionsradius zunehmend weiter auf das offene Meer ausdehnen. Europäische Fischfangflotten nutzen seit dem Zusammenbruch der somalischen Zentralregierung Anfang der 90er Jahre das Fehlen einer Küstenwache und überfischen das Meer vor Somalia. 2006 versuchte Greenpeace, auf das Problem aufmerksam zu machen, daß vor Somalia und in anderen Regionen durch illegalen Fischfang für die Ärmsten dieser Welt jährlich Milliarden von Verlusten entstehen. »Nachts sieht das Meer aus wie die Skyline von Manhattan«, erläutert der Fischereiexperte Abdirahman Shuke vom Entwicklungs- und Forschungszentrum in der somalischen Provinzhauptstadt Garowe. Auch wenn die Schiffe häufig unter Billigflaggen fahren, sind die Profiteure meist klar zu benennen: Sie sitzen in der EU, den USA und Japan. Greenpeace nennt diese Form des Fischdiebstahls und der Umweltzerstörung Piraterie und ruft die EU auf, hier eindeutige ökonomische und rechtliche Schritte zu unternehmen. Bis heute geschah wenig. Klar ist jedoch, daß die illegalen Fischfangflotten von der EU-Mission »Atalanta« profitieren werden, da sie dann gefahrloser in deren Windschatten im Küstenbereich Somalias auf Beutezüge gehen können. Neben der Überfischung gefährdet auch die illegale Müllentsorgung die Sicherheit der Gewässer am Horn von Afrika. Der UN-Sonderbotschafter für Somalia, Ahmedou Ould Abdallah, erklärte im Juni dieses Jahres: »Ich bin überzeugt, daß Müll entsorgt wird, Chemikalien und wahrscheinlich atomare Abfälle.« Ein Sprecher des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (¬UNEP), Nick Nutall, beschreibt in einem Interview mit dem Fernsehsender Al-Dschasira die ökonomische Bedeutung der illegalen Müllentsorgung: »Europäische Unternehmen stellten fest, daß es sehr billig ist, so ihren Müll zu entsorgen, wenn dies lediglich 2,50 US-Dollar pro Tonne kostet, während Müll¬entsorgungskosten in Europa bei 1000 Dollar pro Tonne liegen.« Was tun gegen Piraterie? Die somalischen Piraten sind maritime Profis. Nicht wenige begannen ihre »Karriere« als Fischer oder Angehörige der somalischen Küstenwache. Aus Frustration über die leergefischten Fanggründe begannen Mitte der 90er Jahre einzelne Somalis von den Eindringlingen »Steuern« und »Fanglizenzen« zu kassieren. Einige der Piratengruppierungen nennen sich auch heute noch »Somali Marines« oder »National Volunteer Coast Guard«. Der Zugang zum Piratengewerbe ist relativ barrierefrei. Die notwendige Grundausstattung besteht aus zwei bis drei Schnellbooten, sechs bis acht Bewaffneten und ein paar Kalaschnikows. Ebenfalls notwendig sind Kommunikationsmittel und meist vier bis sechs Meter lange Leitern. Da viele Handelsschiffe vollbeladen tief im Wasser liegen und dabei nur sehr langsam fahren, fällt es den kleinen Piratenbooten mit starkem Motor leicht, ihre Beute im Radarschatten einzuholen und zu entern. In den letzten Jahren hat sich die Arbeit der Seeräuber eindeutig professionalisiert. Sie haben einen Teil ihrer Beute in schnellere Boote, neuere Waffen und bessere Kommunikationsmittel investiert. Mutterschiffe und Satellitentelefone ermöglichen es, Angriffe Hunderte Seemeilen von der Küste entfernt durchzuführen. Die britische Schiffahrtspublikation Lloyd's List berichtet davon, daß die Lösegeldforderungen im letzten Jahr deutlich gestiegen sind, von unter 100000 Euro pro Schiff in 2007 auf Millionenbeträge in 2008. Die meisten Aktionen gehen auf das Konto von vier bis fünf Gruppen mit unterschiedlichen Fähigkeitsprofilen. Insgesamt sind wahrscheinlich zirka tausend Personen mehr oder weniger direkt ins Piratengeschäft involviert. Von den Geldern, die durch die Aktivitäten der Piraten in die arme Küstenregion fließen, profitieren jedoch ganze Städte und Dörfer. Eine politische Agenda haben die Piraten nicht. Ebenso gibt es keine Verbindungen zu Islamisten in Somalia. Im Gegenteil, diese bekämpfen Piraten am entschiedensten. Als von Juni bis Dezember 2006 die Union der Islamischen Gerichtshöfe (UIC) an der Macht war, rückten diese den Korsarennestern so entschlossen zu Leibe, daß die Piraterie zu Erliegen kam. Allerdings nur solange, bis dann im Dezember die äthiopische Armee mit Hilfe der USA in Somalia einmarschierte. Es gibt eine Reihe ganz banaler, aber sehr effektiver Schutzmöglichkeiten von Schiffen vor Piratenüberfällen. Die wichtigste ist, wie von der International Maritime Organisation empfohlen, eine durchgehende Antipiratenwache. Wenn Piraten rechtzeitig entdeckt werden, dann können sie mit Hochdrucklöschwasserkanonen am Entern gehindert werden. Ebenso ist es äußerst effektiv, Bordwände mit Schmierfett zu bestreichen. Da diese Lösungen aber sehr personalintensiv sind, sind sie bei Reedereien nicht sehr beliebt. Piraterie ist organisierte Kriminalität, aber sie ist nicht staatlich arrangiert, sie führt keinen Krieg, und um die mafiaartigen Strukturen zu zerschlagen, helfen Kriegsschiffe und Aufklärungsflugzeuge wenig. Der Ursprung der Piraterie liegt nicht auf dem Meer, sondern auf dem Land. Eine effektive militärische Lösung kann es schon allein deswegen nicht geben. Auch kurzfristig ist ein militärisches Eingreifen sehr aufwendig. In einer Präsentation der European Union Naval Coordination Cell (NAVCO) vom 15. Oktober 2008 wird deutlich, wie groß dieser Aufwand ist: »Wirklicher Schutz braucht eine permanente Nähe zwischen militärischen Fähigkeiten und zivilen Schiffen.« Bei 50000 Schiffen, die jedes Jahr in der Region vor dem Horn von Afrika unterwegs sind, gilt deswegen: »Wenn wir alle Schiffe, die das Gebiet durchfahren, effektiv schützen wollten, dann würden alle Armeen dieser Welt nicht ausreichen.« Es ist darum völlig unverständlich, warum die Europäische Union zwar eine Militäraktion startet, nicht jedoch einen Plan zur präventiven Bekämpfung der Ursachen von Piraterie entwickelt. Der Friedenprozeß in der indonesischen Provinz Aceh zeigt, daß eine politische und ökonomische Perspektive die Pirateriegefahr massiv senken kann. Eine politische Lösung in Somalia wird es jedoch nur dann geben, wenn alle relevanten politischen Akteure einbezogen werden -- auch die Union der islamischen Gerichtshöfe. Die Industriestaaten können viel zur Seesicherheit beitragen, wenn sie für die Strafverfolgung ihrer eigenen Flotten in Fragen der illegale Müll¬entsorgung und Überfischung am Horn von Afrika sorgen. Genauso könnten sie zusammen mit den somalischen Nachbarstaaten den Stopp der Rüstungsexporte in Angriff nehmen. Wer den Indischen Ozean jedoch zum Aufmarschgebiet für eine neue Runde globaler Machtpolitik macht, der trägt massiv zur sicherheitspolitischen Eskalation bei. Claudia Haydt ist Soziologin und Religionswissenschaftlerin. Sie ist Mitglied im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung e.V. in Tübingen (www.imi-online.de)