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<h2>90 Euro im Schnitt</h2>
<h3>Immer öfter werden Hartz-Bezieher mit Sanktionen belegt – weil die
Jobcenter die Gangart verschärfen. Die Kritiker des Strafsystems kommen
nicht recht in die Offensive</h3>
Es war vor ein paar Tagen, der Koalitionsvertrag von SPD und Union in
der Hauptstadt war noch nicht unterzeichnet, da kündigte der Berliner
CDU-Bundestagsabgeordnete Frank Steffel schon einmal einen
„Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik“ an. Man wolle nicht mehr
„tolerieren, dass Berliner es sich auf Kosten der Allgemeinheit ohne
Arbeit bequem machen. Notfalls müssen die Jobcenter mehr Sanktionen
verhängen.“
<div>
<p>Was des CDU-Mannes Vorurteil verlangt, widerfährt Erwerbslosen
längst. 2010 hat die Zahl der verhängten Strafen um 14 Prozent
gegenüber 2009 zugenommen und ist auf den bisherigen Jahreshöchststand
von 828.700 geklettert. Und auch in diesem Jahr setzt sich der Trend
fort. In der ersten Hälfte 2011 wurden bereits über zwölf Prozent mehr
Sanktionen verhängt als ein Jahr zuvor. Im Schnitt kürzten die Ämter
die Leistung um knapp 90 Euro.</p>
<p>Sind die Erwerbslosen widerspenstiger als früher? Oder, schlimmer
noch als in Steffels Ressentiment behauptet: unwilliger, fauler? Die
Bundesagentur sieht mehrere Gründe – und je nachdem, worauf in der
Berichterstattung das Schlaglicht fällt, verschiebt sich auch die
Interpretation der Sanktionsstatistik. Wegen der guten Konjunktur seien
mehr Jobangebote unterbreitet und mehr Einladungen zu
Vermittlungsgesprächen ausgesprochen worden, sagt eine Sprecherin der
Nürnberger Behörde. „Da erscheinen dann manche Betroffenen nicht oder
lehnen schon mal ein Stellenangebot mit der Haltung ab, bei der guten
konjunkturellen Lage könnte ja noch was Besseres kommen.“</p>
<p><span class="c04_Zwischentitel">Vereinbarungen nicht korrekt</span></p>
<p>Tatsächlich machen abgewiesene Jobangebote nur einen kleinen Teil
der Strafgründe aus. Im ersten Quartal 2011 wurden deshalb fast 47.000
Sanktionen verhängt, aber fast viermal so viele, weil Beratungstermine
versäumt wurden. 60 Prozent aller Strafen wurden 2010 damit begründet,
weitere 18 Prozent kamen zustande, weil sich Betroffene weigerten, eine
Eingliederungsvereinbarung abzuschließen – ein allerdings oft
fehlerhaftes Instrument, wie es aus der Bundesagentur heißt.</p>
<p>Wenn einerseits die Zahl der erwerbsfähigen Bezieher von
Arbeitslosengeld sinkt, andererseits aber die verhängten Strafen in die
Höhe schnellen, liegt es nahe, dass sich die Sanktionspraxis verschärft
hat. Bei der Bundesagentur heißt es, die Jobcenter seien besser
geworden, „Verstöße zu ermitteln und zu ahnden“. Von den in der
Vergangenheit ausgesprochenen Sanktionen erwies sich ein großer Teil
später jedoch als problematisch. 2008 zum Beispiel waren 41 Prozent
der Widersprüche gegen solche Maßnahmen ganz oder teilweise
erfolgreich, vor den Sozialgerichten erhielten 61 Prozent der Kläger im
Nachhinein Recht.</p>
<p>Für Cornelia Möhring ist die Sanktionspraxis ohnehin „nicht
rechtens“. Das Bundesverfassungsgericht habe im Februar 2010 ein
menschenwürdiges Existenzminimum ausdrücklich als Grundrecht
formuliert, argumentiert die Linken-Abgeordnete. „Und eine gesetzliche
Regelung und Praxis, die zu einer Unterschreitung dieses
Existenzminimums führt, ist verfassungswidrig.“ Ähnlich sehen das auch
Politiker von SPD und Grünen, außerdem eine Reihe von Experten und die
Initiativen der Erwerbslosenhilfe sowieso. Doch eine
öffentlichkeitswirksame Bewegung gegen das Strafsystem ist bisher nicht
in Gang gekommen. Das Beispiel zeigt auch, auf welche Schwierigkeiten
ein Politikwechsel selbst im Kleinen stößt. Schon 2009 hatte sich ein
„Bündnis für ein Sanktionsmoratorium“ gegründet, das Unterstützer in
den rot-rot-grünen Parteien fand und allen sozialpolitischen
Differenzen zum Trotz einen kampagnenfähigen Kompromiss suchte: die
Aussetzung der Strafen. Dazu, hieß es damals, sei „die Bildung eines
breiten außerparlamentarischen Bündnisses notwendig“, die Idee des
Moratoriums selbst sei „vorwärtsweisend“. Die Erfahrungen geböten zudem
„ein schnelles Verhindern weiterer Not“.</p>
<p><span class="c04_Zwischentitel">Anträge im Bundestag</span></p>
<p>Daraus wurde jedoch nichts. Das Unterfangen spielt zwar heute immer
noch bei Erwerbslosen-Initiativen eine Rolle. Trotz der großen Zahl von
Betroffenen blieb eine hörbare Gegenbewegung jedoch aus. Und auch
derzeit schafft es das Thema nicht aus dem Schatten der Euro-Krise
heraus. Zudem hat sich gezeigt, dass die Befürworter einer Abkehr von
der bisherigen Strafpraxis nicht einmal im rot-rot-grünen Lager
gemeinsam handlungsfähig werden, von einer parlamentarischen
Durchsetzbarkeit gegen die schwarz-gelbe Bundestagsmehrheit ganz zu
schweigen.</p>
<p>Derzeit stehen zwei Anträge im Bundestag zur Beratung an – einer der
Linken, der sich für eine Abschaffung der Sanktionen einsetzt, und
einer der Grünen, der für eine Aussetzung plädiert. Letzterer erhielt
im Sozialausschuss des Parlaments lediglich die Stimmen von Grünen und
Linken. Die SPD, die bereits gegen den Antrag der Linken votierte,
enthielt sich.</p>
<p>Linken-Politikerin Möhring sagt, Sozialdemokraten und Grüne seien
eben „Hartz-IV-Parteien“ geblieben. Bei der SPD herrscht dagegen die
Auffassung vor, dass zwar die Verschärfung der Sanktionen für
Arbeitssuchende unter 25 Jahren rückgängig gemacht werden müsse. Bei
besserer Anpassung an den Einzelfall blieben die Strafen aber im
Grundsatz sinnvoll. Und ein Moratorium, wie von den Grünen eingebracht,
halten die Sozialdemokraten rechtlich nicht für möglich.</p>
<p>Immerhin bleibt das Thema auf der Tagesordnung: Am vergangenen
Wochenende haben die Grünen in Kiel auf Initiative ihres Sozialexperten
Wolfgang Strengmann-Kuhn das Ziel einer „Basissicherung, die ohne
Sanktionen auskommt“, in ihren wirtschaftspolitischen Beschluss
aufgenommen. Auch beim Berliner SPD-Parteitag kommende Woche stehen die
Sanktionen auf der Agenda: „Die Arbeitslosigkeit von
Langzeitarbeitslosen“, warnt zum Beispiel der Kreisverband aus dem
thüringischen Sömmerda, lasse sich „durch verschärfte
Zumutbarkeitsregelungen und Sanktionen nicht abbauen“.</p>
<p>Was „von oben“ über Gesetzesänderungen nicht zu erreichen ist,
gelingt anderswo offenbar auf andere Weise – sozusagen „von unten“. Die
Gewerkschaft Sud ANPE, in der Mitarbeiter der französischen
Arbeitsagentur organisiert sind, hat sich jetzt gegen Streichungen von
Leistungen ausgesprochen. „Die Zunahme von Gesprächen, die ständigen
Aufforderungen zum Besuch der Agentur werden keine Arbeit schaffen,
sondern erhöhen nur das Risiko für die Arbeitsuchenden, gezwungen,
schikaniert und abgestraft zu werden“, heißt es in einer Erklärung. Man
werde sich künftig weigern, an dieser „Erpressung“ mitzuwirken.</p>
</div>
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