[Grundeinkommen-Info] Alternative Neuberechnungen zum Hartz-IV-Beschluss des Deutschen Bundestages

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Mo Dez 13 21:41:27 CET 2010


http://www.grundeinkommen.de/13/12/2010/alternative-neuberechnungen-zum-hartz-iv-beschluss-des-deutschen-bundestages.html  
  
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Alternative Neuberechnungen zum Hartz-IV-Beschluss des Deutschen 
Bundestages  
  
13.12.10 | von Ronald Blaschke und Herbert Wilkens |  
  
Es liegt auf der Hand, dass die Höhe der Regelleistungen nach dem SGB 
II – bekannter als „Hartz-IV-Eckregelsatz“ – von großer Bedeutung für 
die Diskussion um das bedingungslose Grundeinkommen ist. Jede 
politische Erörterung geht zunächst von dem aktuellen Mindestanspruch 
jedes Menschen aus, und wenn es um die mögliche Höhe des 
Grundeinkommens geht, heißt es oft, es könne erst einmal nur über einen 
Betrag diskutiert werden, der dem aktuellen Hartz-IV-Anspruch 
entspricht. Deshalb auch die Empörung der Grundeinkommensbefürworter 
über die von der Bundesregierung und vom Bundestag mit der Mehrheit von 
CDU/CSU und FDP beschlossene Erhöhung des Betrags um nur 5 Euro. Allen 
ist klar, dass die jetzt beschlossenen 364 Euro (plus Kosten der 
Unterkunft und Heizung) für die Sicherung der bloßen Existenz und eines 
Mindestmaßes an gesellschaftlicher Teilhabe nicht ausreichen.  
  
Jetzt liegen zu dieser Frage eigenständige Berechnungen gemäß dem 
Statistikmodell auf der Grundlage der Einkommens- und 
Verbrauchsstichprobe vor. Sie sollen den wirklichen Bedarf klären. 
Zugrunde gelegt wurden dabei die Ausgaben der untersten 20 Prozent in 
der Einkommenshierarchie in Deutschland (ohne 
Grundsicherungsbeziehende), deren durchschnittliche Einkommen weit 
unter der Armutsrisikogrenze nach EU-Standard liegen. Die alternativen 
Berechnungen sind bisher vorläufig, weil wichtige Einzelinformationen 
noch ausstehen. Sie sind beim Statistischen Bundesamt angefordert 
worden und werden die Ergebnisse tendenziell weiter in Richtung auf 
höhere Regelsätze treiben.  
  
Dies sind die bisher vorliegenden Studien:  
  
   1. Die Partei DIE LINKE hat nach Beratung mit Experten u. a. von 
Sozialverbänden, Erwerbsloseninitiativen und Gewerkschaften in einer 
Pressekonferenz am 29. November 2010 (Youtube-Video, 7 Minuten) einen 
detaillierten Bericht (PDF, 131 kb) vorgelegt. Die Berechnungen ohne 
die von der Regierung angewendeten Tricks und ohne vollkommen 
willkürliche Abschläge kommen auf einen Regelsatz von 465 Euro. Wenn 
darüber hinaus einige grundsätzlich nicht gerechtfertigte Abschläge 
zurückgenommen würden, würde der Eckregelsatz für Alleinstehende nicht 
unter 514 Euro fallen. Grundsätzlich kritisiert die LINKE aber das 
EVS-Statistikmodell , da es die Ausgaben der Einkommensärmsten zur 
Grundlage der Regelsatzbestimmung nimmt und nicht den tatsächlichen 
Bedarf für ein menschenwürdiges Leben bestimmt. Ein solches Verfahren 
ist ein Zirkelschluss, denn das Einkommen vieler Menschen in dieser 
Gruppe reicht nicht für ein Leben in Würde. Um dem wenigstens teilweise 
abzuhelfen, fordert die LINKE ein Bedarfs-TÜV in den Güterabteilungen 
Ernährung, Mobilität und Bildung. Dieser ergibt, dass der Regelsatz 
über 600 Euro betragen müsste.  
  
   2. Der Frankfurter Arbeitskreis Armutsforschung, eine Gruppe 
namhafter Wissenschaftler in Frankfurt am Main und Umgebung (unter 
anderen Irene Becker, Roland Eisen, Richard Hauser, Friedhelm 
Hengsbach, Franz Segbers und Wolfgang Strengmann-Kuhn) hat eine 
grundlegende Analyse vorgelegt: „Menschenwürde, Teilhabe und die 
scheinbare Objektivität von Zahlen“. Es wird im Einzelnen dargelegt, 
warum die neue Regelsatzbestimmung, die jüngst im Bundestag beschlossen 
wurde, nicht dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gerecht wird, 
also als grundgesetzwidrig einzuschätzen ist. Die vorläufige Berechnung 
Irene Beckers führt zu einem Regelsatz von 478 Euro. Selbst wenn ein 
gewisser Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers anerkannt würde, dürfte 
der Regelsatz nicht unter 431 Euro gedrückt werden. Bei diesen Angaben 
muss berücksichtigt werden, dass die Gruppe der „verdeckt Armen“ noch 
gar nicht aus der überprüften Ausgabenpersonengruppe herausgerechnet 
worden ist. Es handelt sich um fast 6 Mill. Menschen, die Anspruch auf 
Grundsicherung hätten, jedoch aus unterschiedlichen Gründen diesen 
Anspruch nicht durchsetzen (können). Das heißt, die Regelsätze würden 
sich nach dieser Neuberechnung noch erhöhen.  
  
   3. Die Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe hat ebenfalls die 
Berechnung von Irene Becker zugrunde gelegt und kommt faktisch zu dem 
gleichen Ergebnis von 480 Euro bzw. 433 Euro. Allerdings wird von den 
auftraggebenden Landesverbänden der Diakonie eingeräumt, dass mit der 
Angabe 433 Euro normative Setzungen aus dem Entwurf des „Gesetzes zur 
Ermittlung von Regelbedarfen“ in Teilen übernommen werden, sehr wohl 
wissend, dass damit Positionen der Diakonie zu einem methodisch 
vertretbaren Berechnungsverfahren zurückgestellt werden. Deutlich wird 
dabei, dass die von der Bundesregierung vorgenommenen Abzüge bei der 
Ermittlung des Regelbedarfs nicht nur methodisch fragwürdig sind, 
sondern die Grenze des ethisch Vertretbaren berühren oder 
überschreiten.  
  
   4. Rüdiger Böker, Mitglied des Deutschen Sozialgerichtstags und 
Gutachter beim Verfahren des Bundesverfassungsgerichts zu den 
Hartz-IV-Regelsätzen hat zur öffentlichen Ausschussanhörung vor 
Beschlussfassung des Gesetzes zu den Regelbedarfen eine eigene 
Berechnung veröffentlicht. Seinen Berechnungen zufolge müsste der 
Regelsatz bei 565 Euro liegen. Auch hier sind allerdings noch nicht die 
verdeckt Armen aus der Ausgabenpersonengruppe herausgerechnet, was zu 
einem zu niedrigen Regelsatz führt. Rüdiger Böker kritisiert wie o. g. 
Autorinnen und Autoren alternativer Berechnungen die Intransparenz 
sowie die fehlende Sachgerechtheit der aktuellen Regelsatzbestimmung 
und folgert daraus, dass das Verfahren verfassungswidrig ist.  
  
Grundsätzliche Kritik an der verfassungsrechtlich äußerst bedenklichen 
Regelsatzbestimmung findet sich in einem Rechtsgutachten von Johannes 
Münder, Professor für Sozial- und Zivilrecht an der TU Berlin.  
  
Fazit  
  
Die alternativen Berechnungen mussten auf der Grundlage noch nicht 
vollständiger Informationen angestellt werden. Dennoch belegen die 
vorläufigen Ergebnisse klar, dass eine beträchtliche Erhöhung des 
Regelsatzes unausweichlich ist, wenn die Regeln des Grundgesetzes und 
des Bundesverfassungsgerichts eingehalten werden sollen.  
  
Um die Gesamtheit des Existenz- und Teilhabeminimums zu betrachten, 
also den Betrag, den ein Grundeinkommen bereitstellen müsste, sind noch 
die Kosten der Unterkunft und Heizung dazuzurechnen. Die Summe ist dann 
ein Nettobetrag, enthält also nicht die Beiträge für die Kranken- und 
Pflegeversicherung.  
  
In Deutschland lagen im Jahr 2009 die von den Sozialbehörden als 
angemessen anerkannten Kosten für Unterkunft und Heizung im 
Durchschnitt bei 290 Euro für eine alleinstehende Person. Diese Höhe 
wird allerdings von vielen Sachkennern als viel zu gering eingeschätzt. 
In Berlin zum Beispiel betragen die als angemessen anerkannten Kosten 
der Unterkunft und Heizung derzeit 378 Euro. In München sind die 
Mietkosten bekanntlich noch deutlich höher.  
  
Neben der notwendigen Debatte über das Existenz- und Teilhabeminimum 
(vgl. z. B. Blaschke 2010 ) bedarf es auch der grundsätzlichen Kritik 
an Hartz IV, so wie sie z. B. in der Stellungnahme des Netzwerkes 
Grundeinkommen vorgetragen wurde.  
 

  



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