[Grundeinkommen-Info] "Eine Frage der Werte"

Wolfgang Strengmann-Kuhn strengmann at t-online.de
So Sep 10 13:16:04 CEST 2006


Liebe MitstreiterInnen,

anbei ein Artikel aus der TAZ von Boris Palmer, in dem sich zum ersten
Mal ein relativ prominenter Gruener Politiker fuer ein bedingungsloses
Grundeinkommen ausspricht.Er ist stellvertretender
Fraktionsvorsitzender in Baden-Württemberg und war
Oberbürgermeisterkandidat für Stuttgart. Weitere Infos zu seiner
Person unter http://www.boris-palmer.de

Schoene Gruesse
Wolfgang Strengmann-Kuhn

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http://www.taz.de/pt/2006/09/08/a0150.1/text

Eine Frage der Werte

Umverteilen von oben nach unten und effektiv Familien unterstützen -
das geht am besten, wenn man ein Grundeinkommen einführt. Es ließe
sich problemlos finanzieren

"Würden Sie aufhören zu arbeiten, wenn es ein bedingungsloses 
Grundeinkommen gäbe?" Mit dieser Frage verblüfft Prof. Götz Werner,
Chef von 23.000 Mitarbeitern, regelmäßig seine Gesprächspartner. Um
den Geschäftsführer der Drogeriekette dm über Konsumsteuer und
Grundeinkommen dozieren zu hören, pilgern im Süden der Republik auch
mal 1.500 Menschen in eine Kirche und zahlen bereitwillig 15 Euro
Eintritt. Die Mischung aus Milliardär und Marx fasziniert. Und die
meisten Zuhörer stellen für sich fest: Nein, ich würde auch mit einem
Grundeinkommen bestimmt nicht aufhören zu arbeiten.

Götz Werner will allen Bürgern monatlich 1.500 Euro auszahlen, ohne
dies an Bedingungen zu knüpfen oder mit dem Erwerbseinkommen zu
verrechnen. Er sieht darin die Antwort auf das Verschwinden der
Erwerbsarbeit. Wenn Maschinen immer mehr Arbeit für den Menschen
erledigen, werde dieser nicht wirtschaftlich überflüssig, sondern frei
für Kulturleistungen, für die Arbeit am Menschen.

Für die Finanzierung seiner Vision schlägt Werner einen radikalen
Umbau des Steuersystems vor. Die Mehrwertsteuer soll alle anderen
Steuern ersetzen und sämtliche staatlichen Leistungen und
Transferzahlungen abdecken. Bedingungsloses Grundeinkommen und 
Ende
des Steuerdschungels - zu schön, um wahr zu sein. Oder?

Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU) hat erst vor kurzem
mit einem eigenen Vorschlag für ein Grundeinkommen überrascht. Das
Unbehagen an der Zerstörung des Sozialstaats durch sogenannte 
Reformen
hat so weite Teile der Gesellschaft erfasst, dass Alternativentwürfe
gefragt sind. Es gilt, einige elementare gesellschaftliche Fragen zu
stellen.

Erstens: Setzen wir ein Recht aller Bürger auf ein Leben ohne Armut an
die Stelle von bürokratischer Ermittlung des Anspruchs auf Hilfe und
entwürdigender Kontrolle ? Zweitens: Gehen wir im Sozialsystem von der
Leitidee der Lebensstandardsicherung zur Grundsicherung über?
Drittens: Wagen wir den Wechsel von der Beitragsfinanzierung zur
Steuerfinanzierung des Sozialstaats? Bejahen wir diese drei Fragen,
schaffen wir die Grundlage für einen neuen sozialpolitischen
Enthusiasmus.

Ein armutsfestes Grundeinkommen nicht an Bedingungen zu knüpfen, löst
bei Ökonomen die Angst vor einer Faultierprämie aus. Zu Unrecht.
Menschen finden Bestätigung in Arbeit und werden sie auch weiter
suchen. Wo die Arbeitslosigkeit niedrig ist, betätigen sich die
Menschen auch im Ehrenamt: 4,5 millionenfach allein in
Baden-Württemberg. Und sogar ökonomisch bleibt Arbeit mit einem
Grundeinkommen attraktiv, weil zusätzliches Erwerbseinkommen nicht
verrechnet wird.

Nach meiner Meinung kann ein bedingungsloses Grundeinkommen nur 
Grundbedürfnisse abdecken, aber auch nicht weniger. Götz Werners
Vorstellung von 1.500 Euro monatlich erscheint mir doch zu
paradiesisch. 800 Euro für Erwachsene und 400 Euro für Kinder liegen
in der Höhe des soziokulturellen Existenzminimums. Dies würde brutto
720 Milliarden Euro pro Jahr kosten.

Kindergeld, Bafög, Arbeitslosengeld II oder Wohngeld müssten im 
Gegenzug entfallen. Für die Kranken- und Pflegeversicherung wäre eine
Kopfpauschale von 150 Euro für Erwachsene sinnvoll, die aus dem
Grundeinkommen bezahlt wird. Die Rentenversicherung befindet sich
durch Kürzungen ohnehin auf dem besten Weg zu einer Grundsicherung.
Ihre heutigen Zahlungen würden ebenso wie Pensionen mit dem
Grundeinkommen verrechnet, das damit zu einer Mindestrente würde.

Derzeit werden über die sozialen Transfersysteme nach Angaben des
Bundesfinanzministeriums in der Summe rund 550 Milliarden Euro 
bewegt.
Für das Grundeinkommen und die verbleibenden Leistungen aus dem
heutigen System wären 900 Milliarden Euro notwendig. Die
Finanzierungslücke von 350 Milliarden Euro erscheint riesig, lässt
sich aber schließen.

Wenn der Staat das Existenzminimum durch direkte Zahlungen garantiert,
kann der Grundfreibetrag bei der Einkommensteuer entfallen. In
Kombination mit einer Erhöhung der Steuersätze auf das Niveau von 1998
kann die Ertragskraft der Einkommensteuer um 100 Milliarden Euro
gesteigert werden.

Alle Steuern durch die Mehrwertsteuer zu ersetzen geht zu weit, aber
eine schrittweise Erhöhung von 16 auf 38 Prozent würde 190 Milliarden
für das Grundeinkommen erbringen. Damit ließen sich die
Sozialversicherungsbeträge von derzeit 42 auf etwa 20 Prozent für die
verbleibenden Leistungen der Rentenversicherung und der
Arbeitslosenversicherung senken. Die daraus resultierenden
Wachstumsimpulse könnten die verbleibende Lücke von 60 Milliarden 
Euro
schließen.

Das Grundeinkommen bewirkt eine Umverteilung von oben nach unten 
und
besonders zu Familien. Zwei Beispiele: Eine Familie mit zwei Kindern
und einem Jahreseinkommen von 40.000 Euro zahlt derzeit 4.500 Euro
Steuern und erhält 4.000 Euro Kindergeld, zahlt netto also 500 Euro
pro Jahr. Mit Grundeinkommen, aber ohne Freibeträge und Kindergeld
sowie nach Abzug der Kopfpauschale erhielte sie nach meinen
Berechnungen eine jährliche Gutschrift (negative Einkommensteuer) von
rund 15.000 Euro. Ein Single mit einem Jahreseinkommen von 80.000 
Euro
zahlt derzeit 25.000 Euro Steuern und müsste trotz Grundeinkommen
künftig etwa 28.000 Euro Steuern entrichten.

Die höhere Mehrwertsteuer würde sich im Durchschnitt kaum auf die
Konsumentenpreise auswirken. Handwerksleistungen würden zum 
Beispiel
nicht teurer, weil die höhere Mehrwertsteuer und die niedrigeren
Sozialversicherungsbeiträge sich gegenseitig aufheben. Teurer würden
allerdings Importwaren und Produkte mit einem geringen Arbeitsaufwand.

Für deutsche Verhältnisse käme eine solche Reform vermutlich einer
Revolution gleich. Paradiesische Zustände würden dadurch nicht
einkehren. Wer dauerhaft von 800 Euro zu leben versucht, wird
feststellen, dass dies möglich, wenn auch nicht luxuriös ist. Aber für
viele Probleme könnte dieses Konzept attraktive Lösungen anbieten:

Kinderarmut würde hoch wirksam bekämpft, Familien profitieren enorm
von der Bedingungslosigkeit des Grundeinkommens. Die im
internationalen Vergleich exorbitant hohen Lohnnebenkosten würden
durch die Umschichtung zur Mehrwertsteuer drastisch reduziert. Weil
die Mehrwertsteuer im Export nicht anfällt, würde die
Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft erheblich gesteigert,
Importe würden stärker zur Finanzierung des Staates beitragen. In der
Verwaltung der Armut würden zwar viele Stellen wegfallen, insgesamt
dürfte die Beschäftigung aber deutlich zunehmen.

Jenseits ökonomischer Umwälzungen würde ein neues Leitbild die 
Gesellschaft prägen. Subjekt des Sozialstaats wäre wieder der Mensch
mit seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen.

BORIS PALMER

taz Nr. 8069 vom 8.9.2006, Seite 11, 241 Kommentar BORIS PALMER,
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