[FoME] Pacz: "Eine Sternstunde deutscher Rundfunkgeschichte"

Wolf Ludwig wolf.ludwig at comunica-ch.net
Do Aug 14 00:31:41 CEST 2014


Hallo zusammen,

in der Ferne habe ich erst heute vom Tod von Gert von Paczensky erfahren, einem wahrlichen Urgestein wie einer Lichtgestalt des kritischen Journalismus (im seinerzeit noch meinungskonformen Blätterwald), den Berufsanfänger wie ich seinerzeit geradezu verehrten. Spätestens mit der Gründung von „Panorama“ (1961) beim NDR setzte er neue Massstäbe für politische Magazinsendungen. Seine entwicklungspolitischen Publikationen wie „Wieviel Geld für die dritte Welt? Entwicklungshilfe kritisch durchgerechnet“ (1972), Das Ölkomplott. Von der Kunst, uns und andere auszunehmen (1982) oder Nofretete will nach Hause, Europa – Schatzhaus der «dritten Welt» (1984) habe ich sämtlich verschlungen als exzellente Einführungen in die Entwicklungspolitik und Debatte nicht nur der 1970er – 80er Jahre. 

Die von Klaus Jürgen Schmidt vorab gepostete Episode von Radio Bremen (1975) kannte ich noch nicht, ist jedoch typisch für Gradlinigkeit, Fundus und Integrität dieses grossen Journalisten. Auch wenn es in den letzten Jahren – bis auf Kulinarisches – stiller wurde um ihn, bleibt sein Werk beachtlich.

Mit traurigen Grüssen,
Wolf Ludwig


Radiobridge at aol.com sent Wed, 13 Aug 2014 11:07:
>Pacz: "Eine Sternstunde deutscher Rundfunkgeschichte"
 
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
 
das journalistische Urgestein Gert von Paczensky, Autor vieler kritischer Publikationen zu entwicklungspolitischen Fragestellungen, wird am 21. August in Köln beigesetzt. Ich würde mich freuen, wenn aus diesem Anlass in einem Ihnen/Euch zugänglichen öffentlichen Medium die folgende Erinnerung an eine weitgehend unbekannt gebliebene Episode seines journalistischen Wirkens Platz fände.
 
"Im Frühjahr 1975 kam es unter Radio Bremen-Chefredakteur Gert von Paczensky zu einer ungewöhnlichen "Stunde der Wahrheit". In Vietnam  waren  Hue und Da Nang schon von den Amerikanern verlassen, da gab Paczensky bei fünf Autoren, u.a. bei mir, eine "Chronologie des Betrugs" in Auftrag, die Darstellung falscher und verzerrter Berichterstattung über Geschichte und Entwicklung des Indochina-Konflikts. Die Sendung führte zu einem Aufschrei im rechten politischen Lager. Eine Beschwerde von  Bernd Neumann, seinerzeit CDU-Fraktionsvorsitzender in der Bremischen Bürgerschaft, im Rundfunkrat (dem er selber angehörte) konterte der Chefredakteur mit der kühlen Aufforderung, Neumann möge bitte seinen Protest schriftlich begründen. Als nach Monaten noch immer keine Reaktion vorlag - die Amerikaner hatten inzwischen längst auch Saigon verlassen -, mahnte Paczensky brieflich die Stellungnahme an - allein dies schon ein unerhörter Vorgang in der ARD-Landschaft! Nach Eintreffen von Neumanns umfangreicher Fleißarbeit nahm sich Paczensky die Kritikliste vor: in seiner gründlichen Antwort für den CDU-Politiker und den Rundfunkrat ließ er links Punkt für Punkt jeden einzelnen Vorwurf notieren, rechts die Rechtfertigung der Chefredaktion, belegt mit Original-Zitaten aus Dokumenten, amerikanischen, englischen und französischen Presseveröffentlichungen: links - rechts, links - rechts, wie Watschen zerfetzten Fakten das arrogante Ideologiegeschwafel. In der Zusammenfassung fragte Paczensky freundlich an, ob die Kritik etwa mit dem Vorschlag verbunden sei, Informationen zu unterschlagen - eine Sternstunde deutscher Rundfunkgeschichte!"
 
Klaus Jürgen Schmidt, "Der Weg nach Zimbabwe, oder: Versuche, die Fremde zu verstehen", 1990, Ergebnisse-Verlag, Hamburg
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