[FoME] Fazit zur Studie "Medien und Journalismus in Afghanistan"
merjam wakili
merjamwakili at gmx.de
Di Feb 6 11:22:45 CET 2007
Guten Tag,
auf Anfrage hin stelle ich ein Fazit und eine knappe Zusammenfassung der kürzlich veröffentlichten Studie "Journalism Afghan Style" ins Forum.
"Journalism Afghan Style" - Fazit
Nach dem Ende des Taliban-Regimes hat für den Journalismus in Afghanistan eine neue Ära begonnen. Das Fehlen jedweder professionellen journalistischen Tradition und eines Mediensystems, das die Basis für einen Wiederaufbau hätte stellen können, rechtfertigen es, von einem absoluten Neuanfang und einem von afghanischen Journalisten oft zitierten „New Journalism Afghan Style“ zu sprechen, einem „neuen Journalismus“, den es mit Hilfe internationaler Nichtregierungsorganisationen aufzubauen gilt.
Voller Tatendrang haben bereits viele Afghanen im ganzen Land – vor allem in der Hauptstadt Kabul – die neue Freiheit der Medien genutzt und Zeitungen und Zeitschriften herausgebracht, Radiostationen eröffnet oder Fernsehsender gegründet. Quantitativ bietet Afghanistans Medienlandschaft nach über 24 Jahren Krieg eine nie da gewesene Vielfalt. Doch haben die Medien bis jetzt durch den Mangel an Professionalität der Journalisten sowie die komplexen gesellschaftlichen Strukturen und Gegebenheiten keinen institutionellen Charakter.
Afghanistan befindet sich auf einem langen und mit Hindernissen gespickten Weg in Richtung Demokratie und Freiheit. Doch diese Demokratie wird nicht vergleichbar sein mit der entwickelter, westlicher Staaten – ebenso wenig vergleichbar wird das Mediensystem sein. Zwar markiert die Präsidentenwahl im September 2004 einen Meilenstein in der Geschichte des Landes und auch die Wahlen zum ersten afghanischen Parlament im September 2005 sind historisch ein großer Schritt für die Demokratie in Afghanistan, doch wird es eine „Democracy Afghan Style“ sein, wie Präsident Hamid Karsai es einmal beschrieben hat. Die Besonderheiten der afghanischen Verhältnisse, gesellschaftlich, kulturell, religiös, geopolitisch, wirtschaftlich, müssen immer im Auge behalten werden, wenn von Demokratisierung und Entwicklung die Rede ist.
Vor allem das Mediensystem kann nicht getrennt von diesen Strukturen betrachtet werden. In einem Land, in dem der Großteil der Bevölkerung des Lesens und Schreibens nicht mächtig ist, in dem nach wie vor eine Kultur der Gewalt und Unterdrückung vorherrscht, in dem altershierarchische Strukturen das gesamte gesellschaftliche Leben prägen und Reformen jeglicher Art mit größter Skepsis betrachtet werden und nur mühsam durchgesetzt werden können, kann nur sehr langsam eine Medienlandschaft entstehen, die all die Aufgaben übernimmt, die sie in westlichen Ländern erfüllt. Dennoch ist die jetzige Entwicklung im afghanischen Mediensektor eine positive, das zeigt nicht nur die Anzahl der neuen Medien und das Wiederaufleben der alten Presse mit neuen Maßstäben, sondern das ist auch ein Ergebnis der empirischen Untersuchung für die vorliegende Arbeit.
Die Beobachtungen und Erfahrungen vor Ort und die zahlreichen Gespräche mit afghanischen und ausländischen Journalisten sowie Medienexperten haben eines besonders deutlich gemacht: Afghanistan und seine Medienlandschaft brauchen Zeit, um ihren eigenen Weg in ihre eigene Zukunft zu finden. Es bleibt eben die Demokratie „Afghan Style“ und der Journalismus „Afghan Style“. Übereilte Versuche, eine Demokratie nach westlichem Vorbild in diesem stark vom Islam geprägten Vielvölkerstaat aufzubauen, und der Versuch, eben so rasch eine möglichst breitgefächerte Medienlandschaft ebenfalls nach westlichen Standards zu etablieren, sind prädestiniert zu scheitern.
Es steht außer Frage, dass dieser Weg der Afghanen von internationaler Seite sowohl finanziell als auch ideell unterstützt werden muss. Priorität haben hierbei zweifelsohne die sozialen, wirtschaftlichen und infrastrukturellen Bereiche. Doch an diese Bereiche knüpft nahtlos der mediale Bereich an. Denn für eine funktionierende Demokratie braucht Afghanistan freie, unabhängige und verlässliche Medien, die die Menschen im ganzen Land mit Informationen versorgen und so zu deren aktiven Meinungsbildung beitragen.
In der vorliegenden Arbeit wurde deutlich, dass Afghanistans Medien für den Aufbau der Demokratie eine essentielle Rolle spielen und diese auch zum Teil sehr wohl wahrnehmen. Es wurde auch deutlich, dass trotz aller Mängel und Kritikpunkte das zum ersten Mal in der afghanischen Geschichte verfassungsmäßig garantierte Recht jedes Bürgers auf freie Meinungsäußerung und das 2004 verabschiedete Mediengesetz eine geeignete Basis für die Medien bilden, um eben diese Rolle nach und nach wahrnehmen zu können. Doch noch ist Afghanistan davon entfernt, eine pluralistische und freie Medienlandschaft zu bieten, die dazu beiträgt, dass eine politische Öffentlichkeit entsteht, die die Grundvoraussetzung einer jeden Demokratie ist. Viele Entwicklungen im Land passieren nicht parallel oder nicht im gleichen Tempo. Es wurde an mehreren Stellen in der vorliegenden Arbeit deutlich, dass die Entwicklungen in der Hauptstadt Afghanistans keineswegs als Maßstab für das gesamte Land ges
ehen werden können. Der Medienboom in Kabul bedeutet nicht gleichzeitig, dass nun alle Provinzen ausreichend mit Medien und Informationen versorgt werden. Kabul galt zwar immer als Synonym für Afghanistan, doch liegt in diesem Schluss ein fataler Irrtum, der sich in der aktuellen Entwicklung des Landes nicht wiederholen darf. Denn konzentriert sich alle Medienhilfe auf die Hauptstadt oder lediglich auf die nördlichen Provinzen sowie auf eine kleine alphabetisierte Elite in der Bevölkerung, verfehlt die Hilfe eines der wichtigsten Ziele: zur nationalen Einheit beizutragen und somit zu einem dauerhaften Frieden zu verhelfen.
Aus dem Zusammenspiel von internationaler Hilfe und einer starken Eigeninitiative der Afghanen heraus kann eine gesunde Medienlandschaft erwachsen, die zu den Eigenschaften, der Kultur und Religion der Menschen Afghanistans passt und sich dadurch auch in Zukunft ohne internationale Hilfsorganisationen selbst erhalten und weiterentwickeln kann. Ein Beispiel, das in dieser Arbeit vorgestellt worden ist, ist die aus afghanischer Initiative und mit internationaler finanzieller Unterstützung gegründete unabhängige Journalistenvereinigung AIJA, die sich unter anderem für Professionalismus im afghanischen Journalismus einsetzen will und einen aktiven Beitrag leisten will, um vor allem die Selbstfinanzierung und somit die Selbstständigkeit der Medien zu ermöglichen. Ein weiteres vorgestelltes Beispiel ist die „Moby Capital“ Gesellschaft, die auf private Initiative von drei afghanischen Brüdern gegründet worden ist und sich auf dem afghanischen Medienmarkt mit einem äuße
rst erfolgreichen kommerziellen Radiosender, einem privaten TV-Sender, einem Hochglanzmagazin und den ersten „Gelben Seiten“ Afghanistans, den „Yellow Pages“, etabliert haben. Im elektronischen Mediensektor setzt „Moby Capital“ Maßstäbe und bildet eine belebende Konkurrenz zum verkrusteten staatlichen Rundfunk „Radio Television Afghanistan“ (RTA).
Allein die Bemühungen, aus diesem gigantischen unbeweglichen Apparat RTA eine moderne, flexible und konkurrenzfähige Anstalt des öffentlichen Rechts zu machen, zeigen einmal mehr, dass Afghanistan aus der Tradition der Presseunfreiheit und des obrigkeitshörigen Verlautbarungsjournalismus’ austreten und die Regeln eines offenen, pluralistischen Medienmarktes in einem afghanischen Rahmen akzeptieren will.
Die vorliegende Studie kann als ein erster Schritt in Richtung Journalismusforschung in Afghanistan angesehen werden. Weitere Untersuchungen, etwa eine Wiederholung der Befragung oder aber umfangreichere Befragungen in regelmäßigen zeitlichen Abständen, können einen wissenschaftlichen Blick auf die raschen Entwicklungen in Afghanistans Medienlandschaft richten.
"Journalism Afghan Style" - Zusammenfassung der empirischen Untersuchung
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Ergebnisse der Interviews mit Medienvertretern durch die schriftliche Befragung im Wesentlichen bestätigt wurden. Insgesamt zeichnet sich ein sehr ähnliches Bild, wie es die Interviewpartner dargestellt haben. Auffällig ist, dass die befragten Journalisten sowohl die Tendenz zu einem neutralen, informativen Journalismus zeigen als auch ihre Rolle als Sprachrohr der Bevölkerung betonen. Was widersprüchlich klingt, scheint für afghanische Journalisten durchaus vereinbar zu sein.
Afghanische Journalisten sehen sich mit einer Vielzahl von Problemen konfrontiert. Besonders die finanziellen Schwierigkeiten, sowohl auf privater Ebene, also den einzelnen Journalisten betreffend, als auch auf staatlicher Ebene, behindern viele Journalisten. Zudem erschwert die Bedrohung von mehreren Seiten die Arbeit der Journalisten, seien es lokale Warlords, religiöse Führer oder unkooperative Behörden. Angst und Misstrauen scheinen vorherrschend zu sein. Doch trotz aller Probleme und Hindernisse sehen afghanische Journalisten die Zukunftsentwicklung der Medienbranche in ihrer Heimat optimistisch. Der Wunsch nach dem Anschluss an bestehende journalistische Standards und besseren Ausbildungsmöglichkeiten macht dies besonders deutlich.
Viele Grüße
Merjam Wakili
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Dipl.-Journ.
Merjam Wakili
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