[fessenheim-fr] AKW-Laufzeitverlängerung: Nullsummenspiel mit Kalkül
Klaus Schramm
klausjschramm at t-online.de
Mo Sep 19 12:01:03 CEST 2022
Hallo Leute!
Hier ein Artikel von Ute Rippel-Lau (IPPNW), der
in der 'BZ' veröffentlicht wurde
sehr lesenswert!
Ciao
Klaus Schramm
+++
AKW-Laufzeitverlängerung: Nullsummenspiel mit Kalkül
Ute Rippel-Lau
16.09.2022 | 09:27 Uhr
Mitten im heißesten und trockensten Sommer seit Jahrzehnten, in dem der
Klimawandel zum Greifen nah ist, trifft die Bundesregierung nach dem
Wiederanfahren von Kohlekraftwerken im Frühjahr weitere verhängnisvolle
klimapolitische Entscheidungen: Im „Entlastungspaket“ vom 5. September
versteckt, wird die für 2023 schon beschlossene CO2-Preiserhöhung um ein
Jahr verschoben. Einen Tag später, nach dem Vorliegen des sogenannten
zweiten Stresstestes, kündigt Wirtschaftsminister Habeck an, zwei der
noch laufenden AKWs Isar 2 und Neckarwestheim 2 als „Notreserve“ bis zum
April 2023 bereitzuhalten.
Mit dieser „Kaltreserve“ wird der Versuch gemacht, einerseits formal das
Atomgesetz mit dem Abschalttermin am 31. Dezember 2022 einzuhalten,
andererseits hält sich aber die Regierung den Weiterbetrieb über eine
Notfallregelung offen. Der Betreiber Eon hält die „Kaltreserve“ für AKWs
nicht geeignet für kurzfristige Engpässe und technisch für nicht
umsetzbar. Weltweit sei dies noch nie erprobt worden. Ohnehin würde eine
Entscheidung über das Wiederanfahren beider Atomkraftwerke angesichts
der zu erwartenden Engpässe in der französischen Atomindustrie
wahrscheinlich noch im Dezember fallen. De facto wäre also diese
„Einsatzreserve“ ein Streckbetrieb.
Sowohl Neckarwestheim als auch Isar 2 sind über 30 Jahre alt und wurden
seit 2009 keiner Sicherheitsüberprüfung unterzogen, die eigentlich alle
zehn Jahre fällig ist. Sie wurde wegen des beschlossenen Atomausstieges
ausgesetzt. Im Reaktor Neckarwestheim wurden immer wieder Risse in den
Dampferzeugern gefunden, die im ungünstigsten Fall einen Super-GAU
auslösen können. Ein Betrieb über den 31.12.22 hinaus wäre nur unter
Missachtung grundlegender Sicherheitsanforderungen möglich.
Die Betreiber haben deshalb schon erklärt, keine Haftung zu übernehmen.
Das Risiko und die Haftung tragen der Staat und damit der Steuerzahler.
Ein hohes Sicherheitsrisiko würde eingegangen und ein mühsam errungener
gesellschaftlicher Konsens zerstört, ohne dass der Weiterbetrieb einen
nennenswerten Beitrag zur Energieversorgung beitragen könnte. Ein
Streckbetrieb ist, wie der Name schon sagt, insgesamt ein Nullsummenspiel.
Gas aus Deutschland ersetzt französische Atomenergie
Erst bei einem Blick über die Grenze nach Frankreich wird deutlich, dass
es auch noch weitere Gründe für eine Laufzeitverlängerung gibt. Bei der
gegenwärtigen Energiekrise handelt es sich nicht nur um eine Gaskrise,
ausgelöst durch den Ukrainekrieg und die Wirtschaftssanktionen. Fast
alle europäischen und deutschen Atommeiler sind alt – mehr als 80
Prozent laufen schon länger als 30 Jahre. Das gilt besonders für die
französischen Atomkraftwerke. Zu Anfang dieses Jahres musste ein Drittel
und aktuell mehr als die Hälfte der französischen Atommeiler vom Netz
genommen werden. Zu den Problemen zählen Korrosion und Altersprobleme,
aber auch fehlendes Kühlwasser in den Flüssen infolge der Klimakatastrophe.
Aus diesem Grund versorgen andere Länder, darunter vor allem auch
Deutschland, Frankreich mit dem fehlenden Strom, um das Netz zu
stabilisieren und einen Blackout zu verhindern. Die
Wissenschaftler:innen des Fraunhofer ISE stellten fest, dass die
Stromproduktion aus Erdgas im Mai 2022 einen Höchststand erreichte.
Deutsche Gaskraftwerke haben kurzfristig den fehlenden Strom aus
französischen Atomkraftwerken ersetzt. Allein im Juni 2022 flossen 1,7
Milliarden Kilowattstunden Strom aus deutschen Gaskraftwerken nach
Frankreich, um den Atomstromausfall der französischen Atomkraftwerke zu
kompensieren.
Schon im Mai 2022 titelte die Wirtschafts- und Finanzagentur Bloomberg:
„Die sich vertiefende Nuklearkrise in Frankreich wird für Europa noch
mehr Energieschmerzen bedeuten“. Bloomberg warnte wegen des
langfristigen Ausfalls der französischen Atomkraftwerke vor hohen
Preisen und Schwierigkeiten für die Energieversorgung im kommenden
Winter. Die Entscheidung um die Laufzeitverlängerung in Deutschland ist
damit direkt verbunden.
Das ganze Dilemma der Atomkraftdebatte zeigt sich am Beispiel der
französischen Atomindustrie. Hier wird auf dramatische Weise sichtbar,
welche Defizite eine ausschließlich auf Atomkraftwerke ausgerichtete
Stromgewinnung mit sich bringt. In Frankreich werden rund 70 Prozent des
Stroms durch Atomkraftwerke erzeugt. Die fortgesetzte Nutzung von
Atomkraft blockiert die dringend notwendige Energiewende, in Frankreich,
Deutschland und ganz Europa. Denn Atomkraft ist träge, sie kann nicht
kurzfristig zurückgefahren werden, wenn erneuerbare Energien gerade im
Überfluss zur Verfügung stehen.
Atomenergie als militärisches Werkzeug
Wie Frankreich in diese selbst verschuldete Atomkrise rutschen konnte,
wird deutlich, betrachtet man den französischen zivil-militärischen
Atomindustriekomplex. Infrastrukturen und Investitionen werden doppelt
genutzt: zivil und militärisch. Sie sind auf eine langfristige
Weiterentwicklung ausgerichtet, um die Infrastruktur für die Produktion
von Atomwaffen und U-Booten mit atomarem Antrieb zu sichern. Bereits vor
Beginn des Ukraine-Kriegs hatte der französische Präsident Macron der EU
das Angebot gemacht, mit ihr über gemeinsame Atomwaffen zu reden. „Wir
glauben“, so Macron, „die französische nukleare Abschreckung ist ein
Weg, europäische Interessen zu schützen.“
Seit Beginn des Ukraine-Krieges scheint dieses Interesse an einer
doppelten Nutzung der Atomenergie auch in Deutschland zu wachsen. So
begannen hochrangige Vertreter in der CDU für europäische Atomwaffen zu
plädieren: Im Mai 2022 nahm der erste parlamentarische Geschäftsführer
der CDU/CSU-Fraktion, Torsten Frei, die von Macron angestoßene Debatte
in einem Gastbeitrag in der FAZ auf. Der Titel: „In der Krise das
Undenkbare denken: Europa braucht eine eigene atomare
Abschreckungsstreitmacht.“ Frei plädierte darin für eine Europäisierung
der französischen Atommacht. Anschließend greift CDU-Chef Friedrich Merz
im Juni 2022 das Angebot von Präsident Macron auf: Angesichts der
Weltlage sähe er in einer gemeinsamen europäischen „nuklearen Kapazität
unsere Lebensversicherung“. Es dürfe da „keine Tabus mehr“ geben.
Dazu passt, dass Deutschland den Atomausstieg nicht vollständig geplant
hat: Die Urananreicherungsanlage in Gronau und die Brennelementefabrik
in Lingen haben trotz des Atomausstieges eine unbegrenzte
Betriebserlaubnis. Eine nukleare Infrastruktur möchte man aufrechterhalten.
Im Juli 2022 äußert sich schließlich der CDU-Politiker und ehemalige
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, er halte eine nukleare
Abschreckung auf europäischer Ebene für unverzichtbar. Die europäische
Verteidigungskapazität sei ohne die nukleare Dimension nicht denkbar.
Auch der ehemalige deutsche Botschafter Eckhard Lübkemeier und andere
Persönlichkeiten hatten sich zu der Idee geäußert.
So ist es nicht unwahrscheinlich, dass hinter dem sogenannten
Streckbetrieb bis April das Kalkül steht, diese aus Interesse an einer
Zusammenarbeit mit Frankreich auch darüber hinaus am Netz zu halten. Die
„Bereitschaftsreserve“ könnte ein Fuß in der Tür zu einer
Laufzeitverlängerung sein. Wir nehmen ein erhebliches Risiko auf uns –
nicht um uns selbst vor einem Blackout zu bewahren, sondern um
Frankreich weiter mit Strom zu versorgen und die Option einer
militärisch-nuklearen Zusammenarbeit offenzuhalten.
***
Ute Rippel-Lau ist Ärztin für Allgemeinmedizin in Hamburg und
Vorstandsmitglied der Internationalen Ärzt:innen für die Verhütung des
Atomkrieges (IPPNW).
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