[fessenheim-fr] Nuklear-Sklaven
klausjschramm at t-online.de
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Mi Jan 4 00:01:39 CET 2012
Die Unsichtbaren der französischen Nuklearindustrie
Nathalie Roller
03.01.2012
Die "Sklaven" der Kernenergie, die in den 19 Atommeilern ihre
Gesundheit aufs Spiel setzen
Über 22 000 nukleare "Nomaden" zählt das französische Atomstromland,
welche nicht für den staatlichen Stromkonzern EDF arbeiten, sondern
für Privatunternehmen, den "Sous-Traitant" (Sub-Unternehmer). Diese
privaten Nukleararbeiter ziehen von Atommeiler zu Atommeiler, um
gesundheitsgefährdende Wartungsarbeiten vorzunehmen. Wie z.B.
Brennstäbe an zu diesem Behufe vorübergehend abgeschalteten Reaktoren
auszutauschen. Seit den 1980er Jahren hat die EDF nämlich den Dreh
heraus: Man lagert die Risiken für offizielle EDF-Mitarbeiter ganz
einfach aus und delegiert hochriskante Unterfangen - wie z.B. in die
Abkühlbecken der Reaktoren zu tauchen - an Privatunternehmen aus.
Mittlerweile arbeiten fast genau so viele Nukleararbeiter für
Privatfirmen wie für die staatliche EDF. Diese privaten
Nukleararbeiter wurden von manchen Gesundheitsexperten abfällig "REM-
Fleisch" getauft!
Nomaden in Campingcars
Menschliches Fleisch also, das die EDF nach Gutdünken verstrahlen
kann? Es sind diese nuklearen Nomaden, die für die Wartung der 19
französischen Kernkraftwerke mit ihren 58 Reaktorblöcken sorgen und
von Reaktorabschaltung zu Reaktorabschaltung reisen. Manche private
Nukleararbeiter bleiben allerdings auch ganzzeitig vor Ort. Während
der betroffene Reaktor zu Wartungszwecken abgeschaltet wird, bleiben
die fahrenden Nukleararbeiter ebenfalls vor Ort und hausen in ihren
Campingcars oder billigen Unterkünften. Bis zur nächsten Abschaltung
irgendwo im französischen Nuklearland.
Es sind diese von der Öffentlichkeit kaum bis gar nicht
wahrgenommenen privaten Nukleararbeiter, die laut den
Kernkraftgegnern von Sortir du Nucléaire 80 Prozent der jährlich
"erlaubten" Dosen an Radioaktivität abbekommen. Für EDF-Angestelle
verbleiben solchermaßen "nur noch" 20 Prozent der Strahlenbelastung.
Ob es auch private Nukleararbeiter waren, die bei einem Unfall im
September in einer Wiederaufbereitungsanlage in der Nähe der
Atomanlage im südfranzösischen Marcoule beteiligt waren, der einen
Toten und vier Schwerverletzte gefordert hat, ist nach wie vor
unklar. Doch die französische Atomindustrie geizt nicht mit
solcherlei Zwischenfällen.
Kernkraftwerk Fessenheim. Bild: Florival fr. Lizenz: CC-BY-SA-3.0
Ende November z.B. musste einer der beiden Reaktoren des ältesten
Kernkraftwerkes Frankreichs, Fessenheim (Inbetriebnahme 1977!), für
drei Tage abgeschaltet werden. Ein Knie in einer Röhre, durch die
Wasserdampf zirkuliert, musste ausgetauscht werden.
Waren "Unsichtbare" an den jüngsten Zwischenfällen beteiligt? EDF
wird die Unsichtbaren gewiss weiterhin im unsichtbaren Bereich
belassen. Jedenfalls arbeiteten die Männer, die im September verletzt
oder getötet wurden, für eine Filiale der EDF. Der Schmelzofen für
wenig radioaktiv verstrahltes Material, der explodiert war, enthielt
67 000 Becquerel, wie die Präsidentschaftskandidatin der Grünen, Eva
Joly, berichtete.
Fortschritt und Gefahren
Es ist auch die ehemalige Untersuchungsrichterin Eva Joly, die zur
Zeit einen Kompromiss mit den Sozialisten zum Thema Ausstieg aus der
Nuklearenergie verweigert, denn die Nuklearenergie sei "eine
Energieform, die der Vergangenheit angehört". Daran festzuhalten sei
"archaisch". Der Präsidentschaftskandidat des PS, François Hollande,
will den Anteil der Nuklearenergie im französischen Energiepaket von
derzeit 75% auf 50% reduzieren. Diese "progressive" Drosselung der
Kernenergie soll bis 2025 vor sich gehen, wie er in der Tageszeitung
Le Monde seine Vorstellungen zur energetischen Zukunft des
Atomstromlandes darstellt.
Es ist bereits abzusehen, dass die Präsidentschaftskampagne 2012 von
der Rolle der französischen Kernenergie nach Fukushima geprägt sein
wird. Präsident Sarkozy klagt die Sozialisten und Grünen der
"Verantwortungslosigkeit und gar des Staatsverrats" an, indem sie
angeblich den Atomausstieg predigen:
Es ist nicht der Zeitpunkt zum Mittelalter zurückzukehren noch zur
Epoche der Kerzen. (...) Sollen wir nunmehr das einzige Land sein,
das dem Fortschritt den Rücken kehrt?
Sarkozy lobte an anderer Stelle die Wettbewerbsfähigkeit
Deutschlands, aber in Sachen Energiepolitik seien die Deutschen mit
ihrem Ausstieg ebenso verrückt wie die französische Linke:
Seit wann besteht ein Tsunami-Risiko in Bayern?
Radioaktive Sklaverei
Kerzenbeleuchtung und bayerische Tsunamis hin oder her, während die
Präsidentschaftskampagne 2012 offensichtlich bereits tobt, sorgen die
größtenteils privaten Nukleararbeiter weiterhin klammheimlich und
fernab von der Öffentlichkeit mit ihren Wartungsarbeiten in den
Reaktoren für die Sicherheit der französischen Atomkraftwerke. Diese
"Unsichtbaren" tauchen natürlich nicht in offiziellen
Gesundheitsstudien und Statistiken auf, sind sie doch
praktischerweise unsichtbar.
Obendrein werden diese privaten Nukleararbeiter schlechter bezahlt,
sind schlechter ausgebildet und haben eine schlechtere
Gesundheitsversorgung als ihre EDF-Kollegen. Denn während sich ein
EDF-Kollege einer Gesundheitsversorgung durch Mediziner, die auf die
gesundheitlichen Folgen der Arbeit in einer radioaktiv verseuchten
Umgebung spezialisiert sind, erfreut, wird ein privater
Nukleararbeiter von ganz normalen Arbeitsmedizinern versorgt wird.
Schlimmer noch: Manche von der radioaktiven Belastung sichtlich
überforderten Arbeitsmediziner bezeichnen die nuklearen Nomaden gar
als REM-Fleisch, nach jener nicht mehr gebräuchlichen Messeinheit für
die abbekommene Ionendosis, die von den Sievert abgelöst wurde.
Die Wissenschafterin Annie Thebaud-Mony, vom staatlichen
Gesundheitsforschunginstitut Inserm meint, dass die Art und Weise,
wie die privaten Nukleararbeiter eingesetzt werden, "im Herzen der
französischen Gesellschaft eine neue Form von Knechtschaft und
Sklaverei darstellt".
Zudem würde das praktische System der Auslagerungen an
Privatunternehmen, dem Auftraggeber EDF jede direkte Konfrontation,
sprich mögliche Forderungen von Seiten der nuklearen Nomaden, die
kaum gewerkschaftlich organisiert sind, ersparen. Nur ein
schwerwiegender Unfall würde wahrscheinlich den nuklearen
Unsichtbaren nuklearen Unsichtbaren dazu verhelfen, von Seiten der
Politiker, der Öffentlichkeit und der EDF, endlich Aufmerksamkeit zu
erhalten, wie die erboste Wissenschaftlerin die herrschende
Ungleichbehandlung zwischen "regulären" EDF-Angestellten und den
privaten Nukleararbeitern kritisiert.
Eine Million Euro Kosten für einen Wartungstag
Die Wartungsarbeiten an den temporär abgeschalteten Reaktoren, den
sogenannten Arrets de tranche", werden zu 80% von privaten
Nukleararbeitern vorgenommen. Bis zu 1000 zusätzliche nukleare
Arbeiter werden während dieser Reaktorabschaltungen eingesetzt. Viele
sind für den Reaktorstop von weither angereist. Die Wartungsarbeiten
an den Reaktoren müssen unter zunehmenden Zeitdruck vorgenommen
werden.
Waren früher für einen Reaktorstop zwei bis zweieinhalb Monate
vorgesehen, so müssen jetzt die Nukleararbeiter die Wartungen in 40
Tagen abgeschlossen haben, kostet die EDF eine Reaktorabschaltung
doch 1 Million Euro pro Tag. Also versucht der Stromkonzern die
Abschaltungen so kurz wie möglich zu halten. Auf Kosten der
Sicherheit, versteht sich. Wegen möglicher unerwünschter
Nebenwirkungen wenden Sie sich bitte an die EDF.
Nukleare Schweigepflicht
Manche "Unsichtbare" wie Philippe Billard, einer der wenigen, der es
gewagt hat, Gewerkschaftsmitglied zu werden und auch prompt von
seinem privaten Arbeitgeber entlassen wurde, treten nun ans Licht der
Öffentlichkeit. Billard hatte die Traute, auf seine zahlreichen
verstrahlten Kollegen und die kläglichen Arbeitsbedingungen
hinzuweisen. Er selbst wurde ebenfalls mehrmals verstrahlt.
Wer allerdings in der Nuklearbranche arbeiten will, muss offenbar
lernen, schön brav das Maul zu halten und sich schweigend ein klein
bisschen verstrahlen zu lassen. Billard betont, dass die Sicherheit
der Atomanlagen in den Händen der privaten Nukleararbeiter liege:
Denn wer diese Wartungsarbeiten macht, sorgt für die Sicherheit. Wir
sind die Garantie der Sicherheit der Nuklearinstallationen! Je
schlechter man uns behandelt und unter Druck setzt, desto schlechter
wird auch der Job erledigt.
Die "kleinen" Verstrahlungen der privaten Nukleararbeiter werden,
nebenbei bemerkt, vom französischen Gesetzgeber nicht als
Arbeitsunfall anerkannt. Wie auch beweisen, dass eine Erkrankung
durch eine Verstrahlung in eine Atomanlage verursacht wurde?
Nur drei Erkrankungen werden in Frankreich zur Zeit als radioaktiv
bedingt anerkannt. Ein Umstand, unter dem die Veteranen der
französischen Nuklearversuche (Die Verstrahlten der Republik) noch
immer, falls sie noch am Leben sind, leiden. Diese Nichtanerkennung
hilft praktischerweise dabei, die Gesundheitsstatistiken zu
beschönigen, und weiterhin die Gefahrlosigkeit der französischen
Atomenergie zu predigen. Eine ähnliche Taktik wurde laut Sortir du
Nucléaire jahrelang in Sachen "Ungefährlichkeit" von Asbest
praktiziert.
Die Atomgegner dieser Organisation befinden darüberhinaus, dass die
zunehmende
Privatisierung der Wartungsarbeiten an den Reaktoren unverständlich
und sogar
gefährlich sei, hätten doch die EDF-Angestellten vor Ort eine größere
und
oftmals jahrelange Erfahrung im Umgang mit "ihrem" Reaktor.
Angelegenheit des öffentlichen Dienstes?
Laut den Atomgegnern ist die nukleare Sicherheit der ganzen Nation
selbstverstä
ndlich Angelegenheit des öffentlichen Dienstes, also des Staates.
Seit der europ
äische Energiemarkt 2004 liberalisiert wurde, ist die staatliche
Eléctricité de France (EDF) zu einer Aktiengesellschaft geworden, an
welcher der Staat 84,48 % der Anteile hält.
http://www.heise.de/tp/artikel/36/36071/1.html
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