[fessenheim-fr] franzoesische AKW-Nomaden

klausjschramm at t-online.de klausjschramm at t-online.de
So Sep 11 22:33:25 CEST 2011


Hallo Leute!

Zuletzt wurde über die skandalösen Zustände in frz. Atom-
kraftwerken und den Arbeits-Nomaden der Sub-Unternehmen
vor einem Dreivierteljahr von arte berichtet. Hier nun eine
Rezension zu diesem Thema in der Schweizer WOZ.

Ciao
   Klaus Schramm


AKW-Arbeiter
Die Nomaden der Nuklearwirtschaft
Von Alain de Halleux

Eigentlich lieben sie ihre Arbeit und wollen alles tun, damit die 
AKWs sicher sind. Doch die Männer, die während der Revisionsarbeiten 
von Atomkraftwerk zu Atomkraftwerk ziehen, geraten bei ihrer 
gefährlichen Arbeit immer mehr unter Druck. Der belgische Filmemacher 
und Nuklearchemiker Alain de Halleux hat die Geschichten 
französischer AKW-Arbeiter aufgezeichnet.

Ein AKW ist erst mal eine gigantische Klempnerei. Kilometer von 
Rohren verflechten sich auf einer Oberfläche so gross wie ein 
Fussballfeld. Alle achtzehn Monate müssen die Brennelemente 
ausgewechselt werden. Da dabei der Block abgestellt ist, kann er 
gewartet werden. Dabei müssen sämtliche Teile überprüft werden, die 
hohen Temperaturen, starkem Druck und speziell der Radioaktivität 
ausgesetzt sind, die die Korrosion beschleunigt.

Die Arbeit, die hier anfällt, ist kolossal. So greifen die AKWs 
jeweils auf externe Kräfte zurück, auf Unterhaltsfirmen. Dort sind 
die verschiedensten Berufe vertreten: Mechaniker, Elektriker, 
Kesselschmiede, Armaturentechniker. Zur Seite stehen ihnen 
Strahlenschutzspezialisten, und man trifft auch auf die Spezialisten 
für Dekontamination. Ihre Aufgabe ist es, jene Bereiche zu 
dekontaminieren, in denen nachher die Arbeiter mit den verschiedenen 
Handwerksberufen tätig sind. Wenn es die Umgebung verlangt, tragen 
sie «Mururoa» -dichte Kombinationsanzüge, mit sauberer Luft gefüllt. 
Andere Arbeiter legen Bleidecken über die Rohre, um die Strahlung zu 
begrenzen.

Eine der gefährlichsten Tätigkeiten üben die Wärme­dämmer aus. Die 
Aufgabe dieser Männer ist es, die Isolationen an den Rohren zu 
ersetzen. Die Techniker, die die radioaktiven Teile der Anlage 
überprüfen müssen, bekommen gleich zweimal etwas ab: nicht nur die 
allgemeine Radioaktivität an den Örtlichkeiten, sondern auch noch 
jene aus den Kobaltquellen, die zum Einsatz kommen, um an Leitungen 
Radioskopien vorzunehmen, um festzustellen, was repariert werden 
muss. Kurz: Die Arbeit in einem AKW unterscheidet sich kaum von der 
Arbeit in der Petrochemie oder einer anderen Schwerindustrie, ausser 
eben: dass sie in einer radioaktiven Umgebung stattfindet.

Um den Kontrollbereich zu betreten, jene Zonen, wo ionisierende 
Strahlung vorhanden ist, brauchen die Arbeiter eine spezielle 
Bewilligung und werden mit Kontrollgeräten ausgerüstet. Das Dosimeter 
misst die tägliche, ein Filmdosimeter die monatliche Dosis, die sie 
abbekommen. Mitarbeiter des Strahlenschutzes überwachen die 
Radioaktivität und sorgen dafür, dass die auf dem Gelände geltenden 
Regeln beachtet werden.

Einer von ihnen erklärt uns: «Man muss zwischen Strahlung und 
Kontamination unterscheiden. Man spricht von Strahlung, wenn ein 
Arbeiter mit einer radioaktiven Quelle konfrontiert wird. Die Gefahr 
verschwindet, wenn er sich von der Quelle entfernt. Von Kontamination 
spricht man, wenn radioaktiver Staub die Haut des Arbeiters verseucht 
oder solcher Staub von ihm eingeatmet oder eingenommen wird. Das ist 
gravierend, weil radioaktiver Staub im Körper weiterstrahlt.»

Unter der Führung der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) 
haben die Kontrollbehörden Grenzwerte festgelegt. Michel Lallier, 
Exchemiker in Chinon: «Diese Norm ist aufgrund der Erkenntnisse aus 
Hiroshima und Nagasaki vereinbart worden. Man untersuchte die 
Überlebenden der Atombombenabwürfe und leitete aus dem Ergebnis ab: 
Wenn jeder Beschäftigte über vierzig Jahre hinweg 20 Millisievert 
(mSv) pro Jahr abbekommt, also 800 mSv, kommt es bei zusätzlich vier 
bis fünf Prozent zu einer Krebserkrankung. Im Prinzip heisst das, 
dass man diese vier bis fünf Prozent als <gesellschaftlich 
tolerierbar> betrachtet. Die Norm beruht also nicht einfach auf 
Expertenwissen, sondern enthält auch eine gesellschaftliche 
Bewertung. Diese Norm gibt nur einen Grenzwert an, den man nicht 
überschreiten darf, bedeutet aber nicht, dass es, wenn sie 
eingehalten wird, keine Gefahr gäbe.» In ganz Europa sind die 
Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet, diese Norm einzuhalten. Ein 
notwendiges Arbeitsinstrument ist für sie also das Dosimeter der 
Arbeiter.

Der Fluch der Subunternehmen

Philippe Billard ist Strahlenschutzexperte. Zurzeit ist er von 
Entlassung bedroht, weil er Missstände aufdeckte. Er verlangt eine 
stärkere Berücksichtigung der Krankenakten, die übrigens häufig 
unsorgfältig geführt werden. Die Schwierigkeiten mit der zulässigen 
Strahlendosis haben die AKW-Betreiber dazu bewogen, mit 
Subunternehmern zusammenzuarbeiten. Billard sagt:

«Die Strahlendosis macht den Arbeitgebern Probleme, denn sie nimmt 
sie in die Verantwortung. Also haben sie ein System aufgezogen, mit 
dem sie die Spuren verwischen können. Ich habe selbst für zwei 
Subunternehmen gearbeitet. Musste ich eines Tages einen Krebsfall 
melden, so hatte ich mich an eine Firma zu wenden, die unterdessen in 
Konkurs gegangen war. Seit sie grossen Konzernen gehören, versuchen 
die Subunternehmen wie auch die Électricité de France (EDF) sich aus 
der Affäre zu ziehen. In Frankreich gibt es vier grosse Konzerne: GDF-
Suez, Spie, Onet und Areva. Diese arrangieren sich untereinander, 
sodass wir jedes Mal, wenn wir diesen Markt hinterfragen, vom einen 
zum andern weitergereicht werden. Sie mischen die Karten immer wieder 
neu. Das Subunternehmertum ist somit selbst ein Risiko.»

Gerade das hat Pierre Lambert erlebt. 1988 ist er Froschmann bei der 
belgischen Taucherfirma Atlas Diving, die ein paar Jahre später 
selbst untergehen wird. Er hat einen Einsatz im Brennelementbecken 
des AKWs Chooz, um den Durchgang zu befestigen, der Becken und 
Reaktor verbindet. Dabei wird er mit Kobalt verseucht. Nach der 
medizinischen Untersuchung spricht die AKW-Werksärztin folgende 
Warnung aus: «Es besteht ein Risiko, dass Sie in einigen Jahren 
Leukämie bekommen.»

2003, als er in Afrika arbeitet, erkrankt Pierre wie angekündigt an 
Leukämie. Nach einer Leidenszeit von anderthalb Jahren hat er die 
Krankheit überwunden. Nun möchte er gegen die EDF vorgehen. Seine 
Krankenakte ist aus den EDF-Archiven verschwunden. Glücklicherweise 
kann Pierre für seinen Auftrag im AKW Beweise erbringen. Sein Anwalt 
schreibt der EDF. Und dann: «Was für eine Überraschung! Ich erhalte 
ein Schreiben des Anwalts der EDF Assurances, das besagt, dass die 
zivilrechtliche Haftung bei Nuklearfällen von Regeln bestimmt wird, 
die von den allgemeinen zivilrechtlichen Haftungsregeln abweichen. 
Gemäss Artikel 15 des Gesetzes aus dem Jahr 1968 verjähren Ansprüche 
auf Schadenersatz nach zehn Jahren!»

«Heute geht es nur noch ums Geld»

Man will die Lebenszeiten der AKWs verlängern, doch diese werden mit 
zunehmendem Alter immer stärker verseucht. Immer mehr Radioaktivität 
sammelt sich in den Kreisläufen und im Metall der Rohre des 
Primärkreislaufs an. In den Schutzmänteln, die den radioaktiven 
Brennstoff unter Verschluss halten sollen, kommt es zu Rissen, es 
werden Alphateilchen freigesetzt. Diese höchst kontaminierenden 
Teilchen sind noch schwieriger erkennbar als Gammastrahlen, denn die 
Dosimeter zeigen sie nicht an.

In den Umkleideräumen, wo die Arbeiter ihre Jeans ablegen und in 
ihren weissen Schutzanzug schlüpfen, wird heftig diskutiert. Da wird 
gemeckert und geschimpft. Jahrelang haben sie geschwiegen und ihren 
Arbeitsplatz verteidigt, anders als ihre Vorgänger in den Minen, aber 
um den Preis, von der Geschichte vergessen zu werden. Heute nun 
treten sie aus dem Schatten heraus. Etwas Wichtiges ist geschehen und 
hat die Situation verändert.

Serge Serre, Führungskraft einer Gesellschaft für Nuklear­logistik, 
sitzt mit seinen beiden Freunden José und Michel vom AKW Cruas 
zusammen. Sie diskutieren:

«Früher freute man sich, zur Arbeit zu gehen, und wenn man sie 
erledigt hatte, war man stolz auf das Geleistete. Die Stimmung war 
ausgezeichnet. Heute ist es nicht mehr so. Man könnte sagen: Es wird 
alles unternommen, uns die Lust an der Arbeit zu verderben.»

«Genau. Wenn ich auf dem Weg zum AKW war, schaute ich, ob die 
Kühltürme dampften. Wenn nicht, sagte ich mir: Oha, da ist ein Block 
ausgefallen. Bevor ich den Kontrollraum betrat, machte ich jeweils 
einen kleinen Rundgang, um das Brummen und Vibrieren der Maschinen zu 
hören. Ich brauchte das, um zu wissen, wie es um den Reaktor stand.»

«Heute geht es nur noch ums Geld. Ich bin mir nicht sicher, ob man 
alles tut, damit die Jungs, die da schuften, ihre Maschine gernhaben 
können.»

Zu einer rapiden Verschlechterung des Klimas kam es 1996, als eine 
erste europäische Direktive die Büchse der Pandora öffnete: mit der 
Liberalisierung des Energiemarktes in der gesamten EU. Der 
Liberalismus hatte das ökonomische und soziale Leben schon geprägt, 
bevor Margareth Thatcher britische Premierministerin wurde, doch 1996 
kommt es zu einer entscheidenden Wende. Man wirft die letzten 
Regulierungs- und Kontrollinstrumente über Bord. Die AKWs werden 
teilweise privatisiert und entziehen sich somit künftig den allzu 
neugierigen Blicken von PolitikerInnen und BürgerInnen.

Laut Michel Lallier, dem Gewerkschaftsvertreter des AKW Chinon an der 
Loire, ist der Anteil der beschäftigten Subunternehmen von zwanzig 
Prozent in den 1990er-Jahren auf heute über achtzig Prozent 
angestiegen. Viele Arbeiter müssen von AKW zu AKW ziehen. Man nennt 
sie die «Nomaden der Nuklear­wirtschaft». Diese 
Subunternehmensstruktur hat nicht nur unzulässige soziale 
Konsequenzen für die Arbeiter selbst, sondern wirft auch bezüglich 
der Sicherheit und Langlebigkeit der Einrichtungen Fragen auf.

Michel Lallier sagt: «Die Subunternehmensstruktur führt nicht nur zu 
einer Verlagerung der Verantwortung, sondern auch zu einem 
Wissensverlust. EDF-Angestellte, die in Pension gehen, werden heute 
durch neue EDF-Angestellte ersetzt, die selbst nicht mit den 
konkreten Arbeitsabläufen vertraut sind, aber Leute kontrollieren 
sollen, die sich auskennen. Und so sagen sich viele Arbeitnehmer bei 
den Subunternehmen: Was soll dieser Kerl, der mich kontrollieren 
will, aber nichts von der Sache versteht?»

Die Arbeit des klassischen AKW-Arbeiters geht zunehmend an einen 
Nomaden über, der von aussen kommt, nach der Erledigung seines 
Auftrags wieder geht und nur sehr wenig konkret abrufbares Wissen 
über das betreffende AKW mitnimmt. Anders gesagt: Das kollektive 
Wissen über ein AKW verliert sich in der weiten Landschaft. Niemand 
hat mehr einen Gesamtüberblick über die Lage in einem AKW, das dem 
Alzheimer anheimfällt. Annie Thébaud-Mony, Arbeitssoziologin an der 
Universität Paris 13, teilt diese Ansicht und betont, dass eine 
solche Organisation der Arbeit die ganze Verantwortung dem einzelnen 
Arbeiter zuschiebt:

«Wenn man den Arbeiter selbst unterschreiben lässt, dass er seine 
Aufgabe gemäss den geltenden Regeln erfüllt und erledigt hat, 
bedeutet das, dass man die Verantwortung an ihn delegiert. Das heisst 
auch: Wenn es eines Tages zu einem Problem kommt, schaut man auf der 
Liste nach, wer zu jenem Zeitpunkt gerade im Einsatz war. Der, der 
unterschrieben hat, ist dann auch verantwortlich. So verschwindet 
gleichsam alles hinter einer administrativen Bestätigung von 
Unterhaltsarbeiten, vorgenommen von Arbeitskräften, die nachher 
europaweit über alle Berge verschwunden sind. Ein unglaublicher 
Vorgang.»

«Keine besonderen Vorkommnisse»

Besonders erbaulich ist in diesem Zusammenhang die Geschichte von 
Christian Ugolini. Der heutige Filmemacher arbeitete früher für ein 
Subunternehmen und war noch bis vor drei Jahren Strahleninspektor, 
bis seine Mitwirkung an einem Film des TV-Senders Canal+ zu seiner 
Entlassung führte. Seine Arbeit bestand darin, die Schweissnähte an 
den Ventilen der Leitungen und Rohre mit radioaktiven Kobaltquellen 
zu überprüfen. Er zeigt uns die Aufnahmen, die er heimlich im 
Reaktorbecken gemacht hat. Dann erzählt er:

«Man betraut dich mit einer Arbeit in einem Bereich, der für die 
Sicherheit höchst relevant ist. Aber gleichzeitig verlangt man von 
dir, dass du deinen Prüfungsrapport mit RAS (die Abkürzung für «rien 
à signaler» - keine besondere Verkommnisse) unterschreibst, auch wenn 
es Defekte gibt. Ich kann das bezeugen, denn es ist mir passiert, und 
man hat mich unter Druck gesetzt. Doch was heisst hier Druck? Ich 
befinde mich auf einer Baustelle im Innern des Reaktorgebäudes, im 
Herzstück, wo es grosse Ventile gibt, die völlig verrottet sind. Es 
stinkt nach Tod, da wimmelt es nur so von Becquerel und allem, was du 
willst, da strahlt es vor sich hin, dass es nur so zum Kotzen ist. Du 
bist verpflichtet, einen Mururoaanzug zu tragen. Ich entdecke also, 
dass da ein Riss sein könnte, und sage: Scheisse! Die 
Armaturentechniker stehen alle daneben und warten, bis ich fertig 
bin, damit sie nach Hause können; es ist fünf Uhr abends. Ich 
wiederhole die Kontrolle und kassiere also nochmals eine Dosis. Ich 
sage den Armaturentechnikern: Geht nicht, wir können den Rapport 
nicht unterschreiben. Sie spinnen wohl!, heisst es dann, das ist kein 
Riss! - So nicht, meine Lieben, wir sind Profis und können 
feststellen, ob es sich um einen Riss oder einen Kratzer handelt; der 
Sachverhalt ist klar, es wird nicht unterschrieben. - Aber wir müssen 
zurück, unsere Chefs brüllen uns sonst an; wir sind angehalten, zügig 
zu arbeiten, es warten weitere Aufträge, wir haben kein 
Ersatzmaterial hier, und wenn Sie einen Riss melden, wissen Sie 
genau, dass man uns dann heisst, denselben Hahn wieder zu montieren, 
oder? - Auch wir sind verpflichtet, unsere Chefs zu benachrichtigen, 
die dann verlangen, dass wir die Kontrolle unter ihren Augen 
wiederholen. Der Chef, der über die Abschaltung des Blocks bestimmt, 
hört so was nicht gerne und kommt dann auch hinzu. Über Stunden haben 
wir die Kontrolle dann vier- bis fünfmal wiederholt, dabei habe ich 
nochmals die vier- bis fünffache Dosis abbekommen, während alle einen 
Indianertanz aufführen und sagen: Ihr seid übereifrig, es gibt keinen 
Defekt. In solchen Situationen gibt es immer welche wie mich, die 
hartnäckig bleiben und sagen: Nein, ich unterschreibe den Rapport 
nicht! Obwohl ich weiss, dass die nächste Prüfung ein anderer macht 
und den Rapport unterzeichnet. Aber es gibt eben Leute wie mich, die 
ihren Job tun. Ob du nun zu denen gehörst, die bereitwillig 
unterschreiben oder nicht, alle wissen, dass es hier überall 
gigantische Probleme gibt; alle Arbeiter wissen, was für ein Saustall 
da herrscht und dass es so nicht mehr weitergehen kann. In den 
Umkleide­räumen triffst du auf Arbeiter, die echt sagen, es brauche 
mal ein Tschernobyl in Frankreich, damit man wieder auf korrekte Art 
arbeiten könne. Bist du dir bewusst, was das bedeutet?»

Wer sich wehrt, wird entlassen

Serge Serre war Vorgesetzter bei Cime, einer Unterhaltsgesellschaft 
der EDF. Er wurde entlassen. Serres Schuld war, dass er schwere 
Störfälle gemeldet hatte: «Mehrmals war es bei meiner unterbesetzten 
Equipe zu Unfällen gekommen. Da ich mich für meine Männer 
verantwortlich fühlte, habe ich die Direktion wiederholt darauf 
aufmerksam gemacht. Meine Schreiben wurden nicht beantwortet. Ich 
entschied mich, bei den Kontroll­behörden offiziell vorstellig zu 
werden. Ich leitete also ein Verfahren ein, das ausdrücklich 
geschaffen wurde, damit die Arbeiter jede Art von Störfall melden 
können. Mein Anliegen wurde registriert und als <gut begründet> 
bezeichnet. Die Kontroll­behörde führte eine Untersuchung durch. 
Wenige Wochen später bekam ich das Entlassungsschreiben. Begründung: 
<schwerwiegendes Fehlverhalten>. Man warf mir auch <zweideutiges 
Verhalten> vor, eine vage Formulierung, die meine Chefs nie näher 
erklärten. Ich begriff nicht, was los war. Diesen Schlag ins Gesicht 
hatte ich echt nicht erwartet. Ich hatte das getan, um Verbesserungen 
zu erreichen, und gemäss dem Pflichtenheft gehandelt, damit wir 
unsere Arbeit im Auftrag der EDF korrekt ausführen können. Ich habe 
drei Kinder. Meine Frau arbeitet immer noch im AKW. Sie war 
Vorgesetzte wie ich, aber nachdem ich Alarm geschlagen hatte, wurde 
sie gemobbt. Man hat sie degradiert und entzieht ihr Verantwortung. 
Wir waren eben erst von Bugey hierhergezogen, weil meinem Unternehmen 
der Vertrag mit dem AKW Bugey gekündigt worden war, und ich hatte 
hier in der Nähe von Cruas ein Haus gekauft und wollte mich da 
einrichten. Jetzt weiss ich nicht, wie ich das finanziell bewältigen 
soll. Meine Zukunft? Keine Ahnung. Ich fühlte mich wohl bei der 
Atomindustrie. Ich mochte meine Arbeit. Ich bewerbe mich, aber nach 
22 Jahren in der Nuklearwirtschaft bin ich ausgebrannt und habe keine 
Ahnung, was ich sonst noch tun könnte. - Ob sich was ändern wird? Es 
muss, denn so kann es nicht weitergehen. Ich wage gar nicht, daran zu 
denken, wohin das führen könnte. Man muss darüber reden! Die Medien 
müssen sich endlich auch mit uns beschäftigen, denn die berühmte 
Transparenz der EDF ist eine Einbahnstrasse.»

Jean-Luc Lacroix arbeitet im AKW Cruas:

«Es war vor zehn Jahren, da war ich noch jung und schön (er lacht). 
Mein Chef fordert mich auf, den Betonbunker zu betreten, der den 
Reaktor umgibt. Der Reaktor war natürlich stillgelegt, sonst wäre ich 
jetzt nicht mehr da und könnte das nicht mehr erzählen. Ich sollte an 
einem Spotlicht unten an der Wanne die Kabel verschieben, in die eine 
Türe einschnitt. Ich gehe hinein, packe den Spot und verschiebe ihn, 
als mein Dosimeter plötzlich Alarm schlägt. Ich verlasse den Raum 
schleunigstens. 340 Millisievert, das bedeutet ein Drittel der Dosis, 
der ich im Verlauf meiner ganzen Karriere überhaupt ausgesetzt sein 
darf. Ich informiere meinen Chef, und der sagt: <Scheisse, ich habe 
vergessen, dass es da Kobaltstrahlung gibt! Gib mir dein Dosimeter 
und deinen Film aus dem Filmdosimeter, ich schicke sie sofort ins 
Labor.> Naiv wie ich bin, glaube ich ihm. Ich habe noch Vertrauen in 
die Hierarchie. Ich bin aber dennoch beunruhigt und will am nächsten 
Tag wissen, ob ich nicht untersucht werden muss. Ich erkundige mich 
beim Chef nach den Ergebnissen aus dem Labor. Da sagt er mir: <Es 
gibt keine, das Zeug ging irgendwo unterwegs verloren.> An den 
folgenden Tagen fragt mich die Direktion, was ich mit meinem 
Dosimeter und dem Film gemacht habe. Sie glauben mir meine Geschichte 
nicht. Sie sind überzeugt, dass ich sie bescheissen wollte. Wenn du 
in einem AKW eine zu hohe Dosis abbekommst, bist du immer selbst 
schuld, und man herrscht dich an, denn dann müssen Rapporte gemacht 
werden, und das ist nicht gut für die Statistik ... Kurz: Über Wochen 
und Monate hat man mich gemobbt. An einem bestimmten Tag wurde es mir 
zu viel. Ich packte einen Amboss, befestigte ihn an meinem Fuss und 
sprang in die Rhone. Was dann passierte, weiss ich nicht mehr. Der 
Überlebensinstinkt. Es gelang mir, den Amboss loszumachen, obwohl ich 
ihn gut befestigt hatte, und wieder aufzutauchen. Seither kämpfe ich 
für die Würde der Arbeiter, dass man ihnen gegenüber Respekt zeigt. 
Ich kämpfe für dieses verdammte AKW, an das ich glaube. Denn es ist 
möglich, Atom­energie zu erzeugen und auf den Menschen Rücksicht zu 
nehmen. Ich war in einer EDF-Schule, mein Vater war bei der EDF. Wir 
sind es, die dieses Unternehmen ausmachen, nicht die Aktionäre!»

Ein Selbstmord und ein Fastunfall

Patrick ist fünfzig Jahre alt und trägt seine langen weissen Haare zu 
einem Pferdeschwanz gebunden. Seiner Meinung nach sind wir in einem 
Zug unterwegs, der mit Volldampf fährt, den der Lokführer aber 
klammheimlich verlassen hat. Vor etwas mehr als einem Jahr hat sein 
bester Freund, der wie er selbst bei der AKW-Steuerung tätig war, 
Selbstmord begangen. Als Patrick davon erfuhr, wurde er wütend. Er 
und seine Gewerkschaftskollegen beschlossen, die Leistung 
herunterzufahren, also den Reaktor, und damit auch die 
Stromproduktion zu verlangsamen. Patrick sass in der Befehlszentrale. 
An diesem Tag war er der Einzige, der ermächtigt war, am Schaltpult 
zu wirken. Aus Wut fuhr er die Leistung etwas zu schnell herunter. 
Der Reaktor geriet während 9 Minuten und 46 Sekunden ausser 
Kontrolle, was einen europäischen Rekord darstellt. In der 
Befehlszentrale stieg die Nervosität. Die Direktion und die 
Ingenieure standen um ihn herum, setzten ihn unter Druck, wieder 
Vernunft anzunehmen. Schliesslich gab er nach, denn die Situation 
wurde gefährlich. Darauf kam es zu einer Untersuchung des Vorfalls, 
und Patrick fiel in eine schwere Depression.

Dekontaminationsfachmann Philippe Billard fügt hinzu:

«Man spricht zurzeit viel über die Selbstmordfälle in Chinon, aber 
solche gibt es auch bei den Subunternehmen, nur hört man davon 
weniger. In Paluel zum Beispiel gab es dreizehn Suizide, darunter war 
auch mein Kollege Dédé, der sich in seinem Auto von einer Klippe 
stürzte. Wenn man nicht mehr auf die Stimmen und Ratschläge jener 
hört, die die Arbeit konkret bewältigen, fährt man die Karre gegen 
die Wand. Vergessen wir nicht: Wenn wir heute über sichere AKW 
verfügen, dann gewiss nicht dank unserer Arbeitgeber, sondern dank 
der Beschäftigten, die da arbeiten, deren Bedeutung in Sachen 
Sicherheit aber nur noch als zweit- oder drittrangig erachtet wird. 
Sie aber sind für die Betriebssicherheit entscheidend. Wenn man sich 
dessen nicht bewusst ist und nicht auf Verbesserungsvorschläge dieser 
Akteure hört, fährt man direkt in die Wand.»

Zwei Jahre lang habe ich solche Geschichten von den unsichtbaren AKW-
Arbeitern gehört, in Schweden, England, Belgien, Frankreich. Überall 
war die Situation dieselbe. Kürzlich beschrieb ein Internetartikel 
der Zeitung «Le Temps» die Lage in der Schweiz. Auch die Helvetier 
sind keine Ausnahme von der Regel! Denn im Fall eines nuklearen 
Unfalls kommen auch da Subunternehmen zum Einsatz wie heute in Japan.

Aus dem Französischen von Peter Burri.


«Tschernobyl für immer»

Der Belgier Alain de Halleux (Jahrgang 57) studierte zuerst 
Nuk­learchemie und liess sich danach zum Filmemacher aus­bilden. Seit 
Jahren beschäftigt er sich aber weiter mit dem Thema Atomtechnik, 
2009 drehte er den Dokumentarfilm «RNS - Alles im Griff?» über 
Nukleararbeiter in Frankreich und Begien. Der hier abgedruckte Text 
ist ein gekürzter Beitrag aus dem Buch «Tschernobyl für immer - von 
Atombombenversuchen im Pazifik bis zum Super-GAU in Fukushima», das 
dieser Tage erscheint. Das Buch enthält Texte über die Folgen von 
Tschernobyl, aber auch über die AKW-Debatte in der Schweiz und die 
Reaktorkatastrophe von Fukushima. Herausgeber und Mitautor des Buches 
ist der Schweizer Journalist Peter Jaeggi.


http://www.woz.ch/artikel/2011/nr36/thema/21117.html



Mehr Informationen über die Mailingliste fessenheim-fr