[fessenheim-fr] Der Ausstieg

klausjschramm at t-online.de klausjschramm at t-online.de
Mo Apr 5 19:46:03 CEST 2010


Hallo Leute!

Hier ein sehr interessanter Artikel von Matthias Nomayo.
(veröffentlicht auf www.scharf-links.de)

Zwei kleine Anmerkungen: 
a) Selbstverständlich ist die Linke in Deutschland nicht 
mit "Die Linke." (vulgo: Linkspartei) identisch.
b) Ursprünglich waren die deutschen Atomkraftwerke 
ursprünglich nur für eine Betriebsdauer von 25 Jahren
ausgelegt und nicht für 32 Jahre wie M. Nomayo
annimmt. Dies läßt sich anhand von Originalschriften
aus den 1970er Jahren nachweisen und zudem fand
dies auch seinen Niederschlag in einer Bundestags-
Drucksache.

Ciao
   Klaus Schramm


Der Ausstieg
	
03.04.10

Nun habe ich eine ganze Weile gewartet, ob von LINKEr Seite 
irgendetwas Substanzielles zum Ausstieg aus dem sogenannten Ausstieg 
aus der Nutzung der Kernenergie kommt - wie es scheint, im 
Wesentlichen vergeblich. Liegt es am mangelnden Interesse an der 
Thematik oder am mangelnden Erinnerungsvermögen ? Ich weiß es nicht, 
aber zumindest letzterem kann ein alter   "Wackersdorf-Veteran" 
vielleicht etwas auf die Sprünge helfen:

Als Mitte der Siebziger des letzten Jahrhunderts im großen Stil 
kommerzielle Druckwasserreaktoren geplant und gebaut wurden, war der 
Kenntnisstand zu den verwendeten Materialien noch sehr dünn. Das 
Forschungsgebiet der "Bruchmechanik" steckte noch in den 
Kinderschuhen und war theoretisch für homogene Material- und 
Spannungszustände entwickelt worden. Die Entwicklung der 
Behälterstähle war noch keineswegs abgeschlossen und für die 
Auslegung und behördliche Abnahme von Reaktordruckbehältern gab es 
allgemeine Vorschriften, denen die "AD-Blätter" (Arbeitsgemeinschaft 
Druckbehälter) und "TRD-Blätter" (Technische Regeln für Dampfkessel) 
zugrunde lagen. Was es nicht gab, waren Aussagen über die Einflüsse 
der Strahlung, über die Berechnung der Spannungsspitzen und über das 
zulässige Verhältnis thermischer und mechanischer Spannungen. Daher 
sollte die Integrität des Reaktordruckbehälters im Wesentlichen 
(mangels Alternativen) durch regelmäßig (jährlich) wiederkehrende 
Prüfungen gewährleistet werden (in der Hoffnung, Risse noch 
rechtzeitig zu entdecken, bevor sie die zum Bruch führende 
"kritische" Größe erreichen würden - wo immer diese liegen sollte, 
denn Erfahrungen mit entsprechend belastetem Material lagen noch 
nicht vor). Die Änderung der Materialeigenschaften (insbesondere die 
Änderung der Zähigkeit) durch die intensive Neutronenbestrahlung, 
durch Aktivierungsprozesse und durch Einlagerung von Helium (aus 
Kernreaktionen infolge Neutronenbestrahlung) sowie von Wasserstoff 
(wird im Reaktor ständig durch "Radiolyse" von Wasser erzeugt und hat 
in Form von Knallgasblasen auch schon zu gefährlichen chemischen 
Explosionen in Kernkraftwerken geführt, darunter 2001 in Brunsbüttel) 
soll durch "Einhängeproben", die innerhalb des Reaktors einem höheren 
Neutronenfluss als der Behälter ausgesetzt sind und die durch 
zerstörende Methoden untersucht werden, voreilend bestimmt werden 
[Dieter Smidt, Reaktortechnik, 2. Auflage 1976, ISBN 3 7650 2019 2]. 
Leider sind diese Materialien weder der Druckdifferenz noch dem 
Temperaturgradienten, noch dem Gradienten der Neutronenbestrahlung 
ausgesetzt, denen der Druckbehälter standhalten muss, noch müssen sie 
entsprechende Änderungen (insbesondere infolge von 
Schnellabschaltungen) abfangen, die zu einer Materialermüdung führen 
können.
In den RSK-Leitlinien für Druckwasserreaktoren vom Oktober 1981 wurde 
das obere Limit des hazardösen Spiels (im Gleichklang mit den 
Leitlinien von 1974) wie folgt festgesetzt:

"Durch Werkstoffauswahl und sachgerechte Formgebung, Schweißung und 
Wärmebehandlung muß an allen Stellen der Druckführenden Umschließung 
bei allen betriebs- und störfallmäßig durchfahrbaren Anlagenzuständen 
ein ausreichend zäher Werkstoffzustand während der Lebensdauer der 
Anlage erhalten bleiben. Dieses ist u. a. durch eine Begrenzung der 
maximalen Neutronenfluenz im kernnahen Bereich der Wand des 
Reaktordruckbehälters auf 1019 cm-2 (Energie > 1 MeV) 
sicherzustellen."

Ausgehend von einer Anreicherung der Brennelemente auf ca. 3% U235 
und einem zu erzielenden mittleren Abbrand von 25.000 MWd/t wurde bei 
einer angenommenen Verfügbarkeit der Reaktoren von 80% deren 
"Lebensdauer" auf 40 Jahre konzipiert, entsprechend 32 Jahren 
Vollbetriebsdauer, bevor die Reaktoren aufgrund der erreichten 
Neutronenfluenz in jedem Fall still zu legen gewesen wären. Genau 
diese 32 Jahre Vollbetriebsdauer wurden später den 
Kernkraftwerksbetreibern durch die rosa-oliv-Regierung in dem 
angeblichen Kompromiss zum "vorzeitigen Ausstieg" aus der Kernenergie 
garantiert.

Von Anfang an sind deutsche Kernkraftwerke große Spiel- und 
Experimentiereinrichtungen der verschiedenen Betreiber, deren 
Betriebsweise mit den ursprünglich genehmigten Parametern und der 
darauf fussenden Störfallauslegung nichts mehr gemeinsam hat. Die 
Anreicherung der Brennelemente wurde mittlerweile auf bis zu 4,4% 
erhöht, bei erzielten Abbränden bis 55.000 MWd/t (wodurch sich der 
Druck der "Spaltgase", die im Brennelement während der 
Kernspaltungsreaktionen entstehen, bis zum Ende der Betriebszeit des 
Brennelements gegenüber der ursprünglichen Auslegung mehr als 
verdoppelt und danach noch über Jahre hinweg das Versagensrisiko der 
Brennstabhüllen entsprechend erhöht). Die Verweildauer der 
Brennelemente im Reaktor hat sich verdoppelt (Verlängerung der 
Korosionsdauer der Brennstabhüllen). Der Einsatz von MOX-
Brennelementen (Plutonium aus alten Atomsprengköpfen als 
Kernbrennstoff) erhöht die Neutronenproduktion pro Spaltung und 
vermindert das ohnehin schmale Intervall für einen noch ausregelbaren 
Anstieg im Neutronenfluss dieser Brennelemente um satte 70% (!).
Um trotz all der Veränderungen die zulässige maximale Neutronenfluenz 
der Wand des Reaktordruckbehälters nicht vorzeitig zu überschreiten 
wurde auch das Beladungskonzept mit frischen Brennelementen ständig 
variiert (Übergang zu einer "LLC"-Beladestrategie, bei der die 
"frischen" Brennelemente in der Mitte des Reaktors eingesetzt werden 
und die älteren außen), mit erheblichen Änderungen der lokalen 
Leistungsdichten und des Strömungsverhaltens im Reaktordruckbehälter, 
insbesondere mit der Konsequenz einer erheblichen Erhöhung der 
Leistungs- und Neutronenflussdichten im Zentrum ("Heißkanal") des 
Reaktorkerns (bewirkt eine Erhöhung der Korrosionsintensität der 
betroffenen Materialien im "Heißkanal"). Diese Veränderungen 
bedeuteten faktisch jeweils eine völlig neu zu berechnende 
Reaktorgeometrie und Reaktordynamik.
Im Jahresbericht 2002/2003 der GRS [Gesellschaft für Anlagen- und 
Reaktorsicherheit (GRS) mbH, Jahresbericht 2002 / 2003] heißt es 
hierzu:

"In Deutschland gab es bis 2003 noch 13 in Betrieb befindliche DWR, 
wovon drei Anlagen jeweils eine Kerngröße mit 121, 157 und 177 BE 
besitzen. Bei allen großen DWR mit 1200 bis 1400 MWel wird der 
Reaktorkern mit 193 BE bestückt. Für die Anlagen gibt es 
grundsätzlich keine gemeinsame Beladestrategie, da sie von 
verschiedenen Betreibern betrieben werden. Die technischen, 
wirtschaftlichen und regulatorischen Randbedingungen sind dennoch 
sehr ähnlich (z. B. besonders hohe Kosten für Behandlung, 
Wiederaufbereitung und Entsorgung von BE unabhängig vom Abbrand, kein 
konkret festgelegter Grenzwert für den Abbrand, überwiegend 
Grundlastbetrieb der Anlagen, Online-Überwachung der 
Leistungsverteilung im Kern). Unter diesen Bedingungen haben die 
meisten Anlagenbetreiber in Deutschland aus wirtschaftlichen Gründen 
LLC-Beladestrategien eingeführt. Es gibt jedoch selbst für eine 
einzelne Anlage kein "Standard"-Beladeschema. Beladeschema und Anzahl 
der auszutauschenden BE kann von Zyklus zu Zyklus geändert werden (s. 
S. 27). ...  Für die ältesten Anlagen in Deutschland, bei denen die 
Fluenzen in der RDB-Wand ursprünglich hoch waren, ist die Situation 
anders. Bei all diesen Anlagen wurde zunächst die LLC-Strategie zur 
Begrenzung der Neutronenversprödung angewandt. Später wurden bei zwei 
Anlagen so genannte Dummy-Elemente mit Stahlstäben an Stelle von 
Brennstäben am Ende der Hauptachsen eingesetzt. Bei einer Anlage 
wurden sogar Dummy-Elemente in der Randzone rund um den Kern 
eingesetzt."

Bereits gemäß §7(1) des "alten" Atomgesetzes [AtG vom 31.10.1976] 
wären all diese Veränderungen, die für den Betrieb der Anlage 
wesentlich sind, genehmigungspflichtig gewesen, d.h. es wäre jeweils 
ein atomrechtliches Genehmigungsverfahren gemäß den Vorschriften der 
atomrechtlichen Verfahrensordnung [AtVfV vom 31.03.1982] erforderlich 
gewesen (Beteiligung der Öffentlichkeit, Erörterungstermin ...). Dies 
wird umso klarer, wenn man sich erinnert, wie sehr der maximale 
"Auslegungsstörfall" gemäß Leitlinien der Reaktorsicherheitskomission 
[RSK-Leitlinien für DWR vom Oktober 1981, bzw. Vorläufer vom August 
1974] bereits "auf Kante genäht" war. So war die Annahme eines 
"Gleichgewichtskerns" bei Störfalleintritt, bei dem das älteste 
Drittel der Brennelemente 2,5 Jahre Betriebszeit hinter sich hatte, 
schon nicht konservativ, weil schon damals bis zu 3 Jahre 
Bestrahlungsdauer bis zum BE-Wechsel vorgesehen waren (heute bleiben 
die BE bis zu 6 Jahre im Reaktor). Bei dem besagten 
Auslegungsstörfall können definitionsgemäß nur 10% der Brennelemente 
schadhaft (undicht) werden und obwohl diese Brennelemente 
annahmegemäß unter Betriebsbedingungen einen Spaltgasinnendruck von 
ca. 100 bar aufweisen (wir reden wohlgemerkt von den "milden" 
Auslegungsdaten zu Mitte der 70er Jahre), werden aus den schadhaften 
Brennelementen nur 10% der Edelgase, 3% der Halogene (Iod), 2% des 
Caesiums und weniger als 0,1% der sonstigen Feststoffe in den 
Sicherheitsbehälter freigesetzt. ... Worum handelt es sich bei diesem 
maximalen Schadensereignis? Wir reden von einem sogenannten 
Kühlmittelverluststörfall (KVS), ausgelöst durch einen 2-F-Bruch 
(Abriss) einer Kühlwasserzuleitung zum Reaktordruckbehälter (infolge 
Materialermüdung / Versprödung). Bei diesem "Auslegungsstörfall" (ein 
Störfallereignis, das, wie es so schön heißt, "hinreichend 
wahrscheinlich ist", um berücksichtigt werden zu müssen) entleert 
sich der Reaktordruckbehälter innerhalb weniger als 15 Sekunden 
vollständig.

Der schlagartige Druckabfall von über 150 bar auf Normaldruck erzeugt 
eine "Verdünnungswelle", die das gesamte Containment beansprucht und 
zum Abriss weiterer Anlagenteile führen kann, die wie Geschosse in 
diverse Betonabschirmungen einschlagen. Selbst die einwandfreie 
Funktion der Notkühleinrichtungen innerhalb der ersten Sekunden 
verhindert nicht ein Erreichen des superplastischen Zustandes der 
Zircalloy-Brennstabhüllen nach etwa 25 Sekunden bei 800-900°C. Dabei 
blähen sich die Hüllrohre ballonartig auf (so genanntes ballooning), 
brechen teilweise und versperren den Weg für das zur Nachkühlung 
erforderliche Wasser. Bei höheren Temperaturen wird die Zr-
Wasserreaktion beschleunigt, bei der Wasserstoff gebildet wird. Auf 
höheren Befehl der RSK-Leitlinien ist definitionsgemäß 
sichergestellt, dass eine maximale Hüllentemperatur von 1200°C im 
heißen Kanal des Reaktors (Leistungsdichte wie zu Mitte der 70er 
Jahre unterstellt) nicht überschritten wird und nicht mehr als 1% des 
Zirkoniums mit Wasser reagieren (der Energieinhalt des dabei 
gebildeten Wasserstoffs entspricht der Sprengkraft von ca. 60 kg 
TNT). Die Wasserstoffblase verschwindet, ohne Schaden anzurichten, 
wie durch ein Wunder und die beginnende Kernschmelze in den 
Brennstäben des heißen Kanals wird gerade noch rechtzeitig gestoppt - 
beim "Happy End" wird abgeblendt ... . (Es sei darauf hingewiesen, 
dass es hierbei für die eingesetzten Notkühlsysteme keine "zweite 
Chance" gibt. Die Systeme, die abgerufen werden, müssen einwandfrei 
funktionieren. Einen zweiten Versuch nach Fehlversuch gibt es 
aufgrund der engen Zeitskala nicht. Die Nachwärmeleistungsdichte im 
Reaktordruckbehälter beträgt nach der erfolgreichen 
Schnellabschaltung immer noch ca. das Dreifache der 
Wärmeleistungsdichte des Tschernobyl-Reaktors bei Volllastbetrieb.) 
Sollten wir bei einem solchen Störfall Glück haben und tatsächlich 
alles so glimpflich ablaufen wie geschildert, so wird man uns melden, 
dass die Grenzwerte der Strahlenschutzverordnung für die Bevölkerung 
dabei nicht überschritten wurden - nicht etwa die für den 
"Normalbetrieb", sondern die speziellen für den "Auslegungsstörfall" 
(letzteres Detail wird man wohl unangesprochen lassen).

Darüber hinausgehende Schadensereignisse, insbesondere ohne die 
unterstellten wundersamen Eingriffe von Schutzengeln, lagen und 
liegen definitionsgemäß "jenseits der praktischen Vernunft" und sind 
auch heute noch dem nicht mehr zu beachtenden "Restrisiko" zuzuordnen 
(das Risiko, das uns im Ernstfall den Rest gibt!).

Mit dem nun angekündigten Ausstieg aus dem "Ausstieg" soll nun auch 
die letzte der ursprünglichen Einschränkungen für den Betrieb 
deutscher Kernkraftwerke fallen. Die ursprünglich konzipierte 
Laufzeit soll glatt verdoppelt werden. Hinsichtlich der 
Materialbelastung der Druckbehälter soll unter Ausschluss der 
Öffentlichkeit absolutes Neuland betreten werden, für das es auch im 
internationalen Vergleich keinerlei vergleichbare Referenzdaten aus 
der Praxis gibt - die deutschen Reaktoren sind ja noch nicht einmal 
untereinander vergleichbar, weil sie - wie dargestellt - jeweils 
völlig unterschiedliche Betriebshistorien besitzen. Dennoch wird die 
anvisierte Freigabe wohl pauschal erfolgen.

Gemeinsam in eine strahlende Zukunft!
Nix für ungut!

Matthias Nomayo



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