[fessenheim-fr] Lesenswert - Atomkraft: Horrende Folgekosten
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Mi Jan 30 15:38:06 CET 2008
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Telepolis - 23.01.2008
Atomkraft: Horrende Folgekosten
Für den Rückbau der vermeintlich preisgünstigen AKW-Anlagen müssen die
Steuerzahler Milliarden aufbringen. Wer das verhindern will, bekommt es
mit einem ungehaltenen Ex-Minister zu tun
Thorsten Stegemann
Lange bevor ihn der alte Weggefährte Peter Struck nicht mehr in der
gemeinsamen Partei haben wollte, übte Nordrhein-Westfalens ehemaliger
Ministerpräsident, der auch schon Deutschlands Wirtschaftsminister war,
den eigenständigen Absprung. Als leidenschaftlicher Verfechter der
Agenda 2010 ließ Wolfgang Clement nie ein gutes Haar am vermeintlichen
Linksruck der Sozialdemokraten und drohte für den Sündenfall weiterer
rot-roter Koalitionen mit ernsten Konsequenzen. Wenn es im Bund oder in
Nordrhein-Westfalen zu einer solchen Zusammenarbeit käme, sei für ihn
"der Rubikon überschritten", meinte (1) Clement Ende letzten Jahres.
Mittlerweile hat sich gezeigt, dass der Geduldsfaden des streitbaren
Politrentners auch ohne Beihilfe der Linkspartei reißen kann. Eine
sozialdemokratische Spitzenkandidatin, die den SPD-Energieexperten und
Bundestagsabgeordneten Hermann Scheer im Falle eines Wahlsiegs am
kommenden Sonntag zum neuen hessischen Umweltminister machen will, tut
es offenbar auch. "Wer es wie sie will, der muss sich klar sein: Das
geht nur um den Preis der industriellen Substanz Hessens", giftete
Clement in einer Kolumne (2) für die "Welt am Sonntag". Doch der
Ex-Minister prophezeite der ungeliebten Parteifreundin Andrea Ypsilanti
und ihrem linken Schattenmann nicht nur ein energiepolitisches Fiasko
innerhalb der eigenen Landesgrenzen.
--Es gibt kaum noch ein Mitgliedsland der EU, von Süd bis Nord und West
bis Ost, das die zeitliche Nutzung der Atomenergie nicht zumindest
ausdehnt oder sogar neue Atomkraftwerke bereits baut oder den Bau neuer
Anlagen vorbereitet.--
Wolfgang Clement
Aus Sorge vor einem deutschen Alleingang verstieg sich Clement zu einer
der inhaltlich skurrilsten und sprachlich bemerkenswertesten
Wahlempfehlungen der letzten Jahre.
--Deshalb wäge und wähle genau, wer Verantwortung für das Land zu
vergeben hat, wem er sie anvertrauen kann – und wem nicht.--
Wolfgang Clement
Gegen Haftungs- und Steuerprivilegien
Was Clement so in Rage bringt, dass er de facto zum Wahlboykott der
eigenen Partei aufruft, gehört für die hessischen Sozialdemokraten zu
den Eckpfeilern eines möglichen Regierungsprogramms. Ypsilanti und
Scheer wollen (3) die Aufhebung der "Haftungs- und Steuerprivilegien"
von Atomkraftwerksbetreibern zum Gegenstand einer Bundesratsinitiative
machen und damit neue Antworten auf zwei zentrale Fragen finden: Wer
kommt bei einem Unfall für die Schäden auf, wenn die Haftungsobergrenze
von 2,5 Milliarden Euro, mit der alle 17 deutschen Atomreaktoren
zusammen versichert sind, überschritten wird? Und wie kann der
Gesetzgeber verhindern, dass die Betreiber ihre steuerfreien Reserven,
die eigentlich zur Entsorgung des atomaren Mülls und zum Rückbau der
Anlagen verwendet werden sollen, für "beliebige investive Zwecke"
gebrauchen?
Scheer hat für beide Fälle Vorschläge entwickelt. Er will den
Betreibergesellschaften für jeden einzelnen Mailer eine Deckungsvorsorge
von 2,5 Milliarden Euro vorschreiben und die erwähnten Geldreserven in
Höhe von geschätzten 30 Milliarden Euro in einem Rückstellungsfonds
deponieren. Von hier aus dürften sie dann ausschließlich zweckgebunden
und nicht mehr dazu verwendet werden, allerorten Stadtwerke und
Konkurrenzunternehmen aufzukaufen.
Dass diese Ideen bei den großen Energiekonzernen auf wenig Gegenliebe
stoßen, versteht sich von selbst, und so erklärt sich auch das
ungewöhnliche Verhalten des Genossen Clement, der seit seinem Abschied
aus Berlin eine Reihe interessanter neuer Beschäftigungen gefunden hat.
Wolfgang Clement ist Gastprofessor für Politikmanagement an der NRW
School of Governance (4) der Universität Duisburg-Essen, Vorsitzender
des Londoner Adecco Institute (5), außerdem Mitglied in verschiedenen
Aufsichtsräten, so etwa beim "Multidienstleister" Dussmann (6), beim
Verlag M. DuMont Schauberg (7), der Zeitarbeitsfirma DIS (8) oder beim
"Medienbeobachter" Landau Media (9).
Clement steht überdies dem Beirat des Wissens- und
Informationsdienstleisters Wolters Kluwer Deutschland GmbH (10) vor und
gehört zum montanmitbestimmten Aufsichtsrat der RWE Power AG, die ihn
ausdrücklich nicht als "Lobbyisten" betrachtet (11).
Seine "Bemühungen für einen breiten Energiemix" sind dem Energieriesen
eine jährliche "Aufwandsentschädigung" von 20.000 Euro wert, womit
immerhin eindrucksvoll bewiesen wäre, dass man sich bei RWE auf kluge
Investitionen versteht. Der hessische Grünen-Chef Tarek al-Wazir hat
nämlich errechnet (12), dass im Fall der Atomkraftwerke Biblis A und B
schon eine Verlängerung der Laufzeit um nur drei Jahre RWE
Zusatzeinnahmen von 3 bis 3,5 Milliarden Euro bescheren würde.
Mehrkosten für einen WAK-Rückbau übersteigen Fördermittel des Bundes für
den Hochschulpakt
Dem deutschen Steuerzahler wird aller Voraussicht nach eine weniger
erfreuliche Rechnung präsentiert. In der vergangenen Woche musste das
Bundesministerium für Bildung und Forschung einem Antrag des
Haushaltsausschusses entsprechen und eine neue Projektkostenschätzung
für den Rückbau der Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe (13) abgeben.
Die WAK ist seit Ende 1991 außer Betrieb und erfordert insbesondere die
Verglasung und Entsorgung hochradioaktiver Flüssigabfälle.
Nach den neuesten Berechnungen werden die notwendigen Aufwendungen
mindestens 2,17 Milliarden Euro betragen und die ursprünglichen Annahmen
um mehr als das Doppelte übersteigen. Allein in dieser Legislaturperiode
wurde die Kostenplanung erst um 562,1 Millionen Euro (Februar 2006) und
nun noch einmal um 239 Millionen Euro aufgestockt, wobei die Kosten für
die Endlagerung in den bisherigen Zahlenspielen nicht enthalten sind.
Der zuständige Berichterstatter der SPD-Bundestagsfraktion im
Haushaltsausschuss, Klaus Hagemann, und Jörg Tauss, bildungs- und
forschungspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, wiesen in
einer gemeinsamen Stellungnahme (14) darauf hin, dass die
Kostensteigerungen von rund 800 Millionen Euro in dieser
Legislaturperiode bereits die Summe übersteigen, die der Bund im
Hochschulpakt an Fördermitteln für den Kapazitätsausbau und für die
Studienanfänger zugesagt hat.
Die grüne Bundestagsabgeordnete Anna Lührmann hatte freilich schon vor
zwei Jahren ein "vollständiges Konzept mit einer Kostenschätzung für den
Rückbau der Anlage" gefordert (15). Erst wenn ein solches vorliege,
könne man entscheiden, "in welchem zeitlichen Rahmen, in welcher Höhe
und zu welchen Bedingungen der Wiederaufbereitungsanlage Karlsruhe eine
Zusage auf institutionelle Förderung gegeben werden kann".
Kostenfalle Kernenergie
Karlsruhe ist nur ein Beispiel von vielen. In ganz Europa stehen mehrere
Dutzend Anlagen vor der Abschaltung – und das nicht nur in Ländern, die
den Ausstieg bereits beschlossen haben. Die meisten müssen aus
Altersgründen deaktiviert und möglichst umweltfreundlich und
kostensparend zurückgebaut werden.
Die österreichische Umweltschutzorganisation "Global 2000"' schätzt die
Kosten für diese Maßnahmen auf 500 Milliarden Euro (16), und bislang ist
keineswegs klar, dass das Verursacherprinzip "Polluter pays" europaweit
greifen wird. Vielerorts scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein –
von den Betreibergesellschaften wurden entweder überhaupt keine
Rücklagen gebildet oder bereits anderweitig verwendet, so dass die
horrenden Folgekosten der Kernenergie nun vom Steuerzahler beglichen
werden müssen, wenn sie nicht ohnehin schon über den Strompreis an die
Verbraucher weitergegeben werden.
--In den Betreiberländern decken die Rückstellungen für den Abbau und
die Lagerung radioaktiven Materials - wenn überhaupt angelegt - oft nur
einen Bruchteil der zu erwartenden Kosten. In der Slowakei werden z.B.
die bisher 400 Mio. € Kosten für die Stilllegung des AKW Bohunice nun
durch einen Aufschlag auf den Strompreis direkt an die Verbraucher
weitergegeben. In Großbritannien brauchte die finanziell angeschlagene
Betreibergesellschaft die für den Rückbau von Atomkraftwerken an sie
gezahlten staatlichen Subventionen vor ihrem Konkurs selbst auf.--
Europäische Vereinigung für Erneuerbare Energien e.V.
Dass der Strompreis in der Slowakei gestiegen und die Europäische Union
mit mehreren hundert Millionen Euro am Rückbau des von Experten als
hochgefährlich eingestuften Atomkraftwerks Bohunice (17) beteiligt ist,
hat auch damit zu tun, dass es vor Ort lange Zeit an vorausschauenden
Regelungen fehlte und die nationale Atomindustrie erst seit Mitte der
90er Jahre entsprechende finanzielle Rücklagen bildet (18).
Höchst problematisch sieht die Situation auch im Kernkraftwerk Krsko
(19) aus, für das Slowenien und Kroatien die gemeinsame Verantwortung
übernommen haben. Nach Einschätzung der EU-Kommission, die vor kurzem
ihren Zweiten Bericht über die Verwendung der finanziellen Ressourcen
für die Stilllegung kerntechnischer Einrichtungen und die Entsorgung
abgebrannter Brennelemente und radioaktiver Abfälle (20) vorgelegt hat,
fehlen hier die ausreichenden Mittel, weil in Kroatien kein
entsprechender Fond existiert. Die mahnenden Worte der Kommission
bleiben allerdings die Ausnahme – grundsätzlich scheint in Brüssel wie
so oft das Prinzip Hoffnung zu regieren.
--In vielen Fällen wurde kein eigener Fonds eingerichtet, man geht
jedoch grundsätzlich davon aus, dass Barmittel bereitgestellt werden,
sobald dies erforderlich ist.--
Bericht der EU-Kommission vom 12. Dezember 2007
Zweckentfremdete Rücklagen
Diese Einstellung ist umso bemerkenswerter, als sich krisenhafte
Entwicklungen bereits überdeutlich abzeichnen.
--Wichtige Probleme sind inexakte Schätzungen der Stilllegungskosten und
eine geringe Wertentwicklung der Fonds (aufgrund geringer Rentabilität
oder risikoreicher Investitionen), die eine unabhängige finanzielle und
technische Aufsicht über die Fonds erfordern. Bei einigen
Mitgliedstaaten stellt sich die Frage, ob die entsprechende Aufsicht in
geeigneter Weise stattfindet.
Eine Absicherung für den Fall des frühzeitigen Abschaltens ist nur in
wenigen Fällen vorgesehen (ursprüngliche Garantien, Rückstellungen,
eigene Versicherungsverträge). In mehreren Mitgliedstaaten geht man
davon aus, dass eventuelle finanzielle Probleme im Zusammenhang mit
einem frühzeitigen Abschalten vom Staat abgesichert werden.--
Bericht der EU-Kommission vom 12. Dezember 2007
Für eine ganze Reihe von Ländern liegen unzweideutige Informationen vor,
die darauf hindeuten, dass die Rücklagen für die von Hermann Scheer
kritisierten "beliebigen investiven Zwecke" verwendet werden und im
Bedarfsfall nur noch eingeschränkt zur Verfügung stehen könnten.
Überdies haben die Betreibergesellschaften in den entsprechenden Ländern
so ideale Möglichkeiten, um sich attraktive und dauerhafte
Wettbewerbsvorteile zu sichern.
--In Italien fließen die Mittel aus Abgaben auf den Strompreis in einen
staatlichen Fonds. Die nicht für die Stilllegung erforderlichen Mittel
werden für andere staatliche Interessen verwendet. (...)
In Belgien wurde kürzlich ein neues Gesetz eingebracht, in dem anstelle
einer umsichtigen Mittelverwaltung der Einsatz von Stilllegungsmitteln
für die Finanzierung völlig unabhängiger Investitionsprojekte zur
Stromerzeugung vorgesehen ist, in einer Weise, die von Vorteil für das
Projekt sein könnte.
Litauen hat in einigen Fällen seinen nationalen Fonds zur Kofinanzierung
von Projekten des Energiesektors verwendet, um Ersatzkapazitäten für den
jeweils frühzeitig stillgelegten Reaktor zu schaffen.--
Bericht der EU-Kommission vom 12. Dezember 2007
Angedeuteter Flügelkampf
Durch Wolfgang Clements Attacke gegen die alten Parteifreunde ist die
Energiepolitik in Hessen unversehens zum wichtigen Wahlkampfthema
avanciert. Denn im Umfeld der Kernenergie lassen sich selbstredend nicht
nur Fragen der Haftung, der Steuervergünstigung oder des konkreten
Rückbaus, sondern – wie eh und je – eine Fülle wirtschaftlicher,
ökologischer und sicherheitstechnischer Aspekte verhandeln.
Kein einziges dieser Probleme kann allein in Hessen gelöst werden, und
mit einer Bundesratsinitiative ist Scheer bereits der Ende der 90er
Jahre gescheitert. Gleichwohl dürfte der Streit einen wichtigen Zweck
erfüllen, hilft er doch den Sozialdemokraten, sich programmatisch neu zu
sortieren und – wie beim Thema Mindestlohn im ideologischen
Hoheitsgebiet der Linkspartei – nun in den Gefilden der Grünen zu wildern.
Fraglich bleibt nur, wie die SPD-Mitglieder und –Wähler, die Clement
insgeheim zustimmen und ihre Partei lieber wieder dort hätten, wo sie
Schröder und später Müntefering verlassen haben, mit dieser Situation
umgehen.
Links
(1)
http://wap.welt.de/welt/index/sv-welt/politik/article1481385/Bei_Rot-Rot_verlaesst_Wolfgang_Clement_die_SPD.xmli
(2) http://newsticker.welt.de/index.php?channel=pol&module=dpa&id=16686436
(3)
http://www.spd-hessen.de/.net/GKVPGPPDVDPDZYVQGDTQQC/meldungen/14038/51237.html
(4) http://www.nrwschool.de/data/nrwschoolposterclement_lowres.pdf
(5) http://www.adeccoinstitute.com/about-board-Wolfgang-Clement.htm
(6) http://www.dussmann.com/uploads/tx_noaddress/wolfgang_clement_dt.pdf
(7) http://www.dumont.de/dumont/de/100033/unternehmen/daten
(8)
http://www.dis-ag.com/cms/disag/de/investor/disag/popup_boardmanagement_Clement.html
(9) http://www.landaumedia.de/unternehmen/aufsichtrat.html
(10)
http://195.243.174.54/wkdweb/v3/home.nsf/url/72D65002972028E2C125712C00476316?OpenDocument&menu=5B13A4129471A135C1257132003B97A4&l=1
(11)
http://www.rwe.com/generator.aspx/presse/language=de/id=76858?pmid=4001967
(12)
http://www.al-wazir.de/cms/default/dok/216/216210.rwelobbyist_clement_will_rotgruenelandes.htm
(13) http://www.wak-karlsruhe.de
(14) http://www.spdfraktion.de/cnt/rs/rs_dok/0,,42961,00.html
(15) http://www.anna-luehrmann.de/presse/104544.html
(16) http://www.global2000.at/files/Teil6kosten.pdf
(17)
http://www.seas.sk/power-plants/nuclear-installations/atomove-elektrarne-bohunice-en/
(18)
http://www.europarl.europa.eu/meetdocs/2004_2009/documents/pr/568/568919/568919de.pdf
(19) http://www.wien.gv.at/wua/atom/akw/krsko.htm
(20)
http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2007:0794:FIN:DE:DOC
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