<html><head></head><body><div style="font-family: Verdana;font-size: 12.0px;"><div>
<p style="margin-bottom: 0cm">Lieber PeterH,<br/>
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ich verstehe deine Ungeduld sehr gut. Sie ist auch meine. Nicht nur aus persönlichen Gründen, sondern insbesondere weil mir klar ist, dass es in Deutschland eine Menge Leute gibt, die ohne bGE bis hin zu Sklaverei, Hunger und Obdachlosigkeit verelenden. Meine Frau hat sich wohl ca. am 27.11. durch ein paar der vergangenen Debattenmails ein wenig durchgehangelt und mir aufgetragen, in ihrem Namen daran zu erinnern, worum es beim bGE erstmal zentral geht: Existenzminimum. Niemand soll sich Sorgen wegen der elementaren Dinge des Lebens machen müssen. Kann ich meine Stromrechnung bezahlen? Werden sie mir Strom und Telefon bald abstellen? Werde ich mir die letzten Wochen des Monats noch etwas zu essen leisten können? Wie viel Monat wird noch am Ende des Geldes über sein? Solche sehr realen, plagenden, ja bis zu vielfältigen Verelendungsphänomenen quälenden Nöte sind insbesondere in einer reichen Gesellschaft unnötig und unwürdig, daher ein Verstoß gegen Art. 1 GG. Sie betreffen aber im reichen Deutschland jede und jeden 5. (vgl. https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2013/12/PD13_431_634.html ). Das ist Alltagsrealität hier und heute und daher ist ein bGE von Minimum 'nen Tausender jetzt und sofort dringend nötig. Zudem sollten insbesondere die elementaren Dinge des Lebens, Wohnen, Nahrung, Kleidung, Heizen, Strom von der Gesellschaft, also im Zweifelsfall durch staatliche Subventionierung so günstig gehalten werden, dass damit nun wirklich niemand ein Problem bekommt. In der ehemaligen DDR kosteten diese Dinge fast nichts, Unterhaltungselektronik dafür aber viel. Mindestens in diesen Dingen war die DDR das bessere Deutschland und der Westen sollte sich insofern da mal von den Ex-Ossis was erklären lassen.<br/>
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Sehe ich also wie du die Dringlichkeit, ein bGE besser vor einem halben Jahrhundert eingeführt zu haben als es morgen erst einzuführen, sehe ich andererseits nicht, wie uns innerhalb des Netzwerks das ewige „bGE JETZT!!!“-Gerufe helfen soll. Wir sind uns in dem Punkt doch ohnehin einig. Moderator Matthias hatte mir im August oder September mal mitgeteilt, dass etwa 350 Mail-Adressen von diesem Verteiler gefüttert werden. Wenn also jede von uns 100.000 wahlberechtigte Leute in Deutschland überzeugt, hätten wir zumindest grundsätzlich die Möglichkeit auf eine Mehrheit in den Parlamenten. Zwei-Drittel-Mehrheit wäre m. E. besser, aber wir wollen die Latte mal nicht zu hoch hängen ... wir sind ja nicht das einzige Grundeinkommen-Netzwerk. Blicke ich auf meinen persönlichen Anteil, so scheint mir, dass ich bei meinem Soll noch ein klein wenig zu tun habe. Ich würde meinen, dass ich meine Frau und meine Mama wohl mehr oder weniger davon überzeugt habe, dass ein bGE, das diesen Namen auch verdient, eine sinnvolle Sache wäre. Zudem habe ich in einer Mail an 32 Leute aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis darauf hingewiesen, dass ich mich gerade etwas intensiver mit dem bGE befasse und es sinnvoll fände, wenn sie ihrerseits das unterstützen würden. Ich vermute, dass die allermeisten dieser 32 Leute sowieso eher offen für die bGE-Idee sind, ich da eher halboffene Türen eingelaufen habe. Feedback gab's aber fast gar nicht, weshalb ich mir nicht sicher sein kann, ob ich diese Leute denn hinreichend agitiert habe. Seien wir mal positiv und vermuten wir, dass ich 34 Leute überzeugt habe. Dann würden mir nur noch schlappe 99.966 Leute zur Erfüllung meines Solls fehlen. Mache ich in dem Tempo weiter, könnte ich meinen Anteil in 750 Jahren geschafft haben. Gute Aussichten also fürs vierte Jahrtausend. :o/ Wie weit seid ihr denn so auf eurem Weg zu den 100.000?<br/>
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Schaut man sich an, wie sich die großen politischen Organisationen zum bGE positionieren, kann einem echt übel werden. Guckt man sich etwa beim Hamburger Grundeinkommen-Netzwerk die Rekapitulation an (vgl. http://www.grundeinkommen-hamburg.de/grundeinkommen/positionen_zum_grundeinkommen.php ), tendieren eigentlich nur die beiden Kirchenvereinigungen wenigstens halbwegs zu dem, was die Essentials dieses Netzwerks sind. Beachtenswert ist m. E. allemal, dass die FDP am unverkrampftesten mit der bGE-Idee umgeht, aber selbstverständlich nicht vom Arbeitszwang lassen möchte. Ich hatte bereits angedeutet, dass ich sowohl das vage Konzept von den Leuten um Götz Werner als auch Verenas Modell eher den Interessen des FDP-Klientels zuordnen würde. bGE ist nicht interessensneutral. Es hängt voll davon ab, wie es gestrickt wird. Die in der Rekapitulation aufgeführten Bauchschmerzen bei SPD, LINKEN und DGB in Richtung Stilllegungsprämie und Abschied von volksgemeinschaftlicher Inklusion/Integration übers Schaffenschaffenschaffen halte ich in Bezug auf FDP- oder CDU-nahe bGE-Konzepte für inhaltlich angemessen, andererseits aber auch wieder für den ekligen Junk der Arbeiteraristokratie. In meiner Lebensspanne gab's in Deutschland immer Massenarbeitslosigkeit – aber nö, die soll es mit SPD und DGB nicht mehr geben. Die leben im Traumland ihrer eigenen Autopoiesis. Kann ja nicht sein, dass ein bGE vielleicht wirklich eine Freiheit vom Verkauf der Ware Arbeitskraft ermöglicht und damit auch die ohnehin morschen Organisationen der Arbeiterklasse vollends überflüssig. Ein Ende der Arbeiterklasse wäre auch ein Ende der Aristokratie der Arbeiterklasse. Daraus folgt, dass die Aristokraten der Arbeiterklasse, also die Parteikader und Funktionäre in den Organisationen der Arbeiterklasse am dringlichsten am Fetisch der Ware Arbeitskraft kleben. Absurd, aber Fakt. Historisch ließe sich das hier und da und dort dran illustrieren. Ich sag's mal wieder lieber schlicht mit Musik: http://youtu.be/Ph-vHNUBUdc . Zum Kotzen ist dieser Integrationswahn über die allseits beliebte Sklaverei, deren Produktivitätsgrad in Deutschland ganz nebenbei mindestens die europäische Arbeiterschaft durch das Maastricht-Regelwerk in viel krassere Verelendungen als das deutsche Prekariat stürzt. Aber von Internationalismus hielt die deutsche Arbeiterbewegung im Zweifelsfall ja noch nie sonderlich viel.<br/>
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Ich hatte das nur nebenbei mal als Thema aufgeworfen, möchte das aber angesichts dieser Bauchschmerzen aus dem vorgeblich „linken“ Flügel des Parteienspektrums ein wenig formeller festhalten als „Berts bGE 0.2.1“: Abweichung von 0.2-Version ist ein gleichhohes bWE (bedingungsloses Wirtschaftseinkommen), das zweckgebunden für wohlfahrtswirtschaftliches Handeln ausgeschüttet wird. Die Bevölkerung könnte sich so einerseits von den gewachsenen Institutionen und ihren Verkrustungen emanzipieren, indem sie neue schafft, andererseits echten demokratischen Einfluss auf die bestehenden Institutionen durch Mittelzuwendungen gewinnen. Inklusion/Integration wäre selbstverständlich gegeben: Wer würde denn sein bWE verfallen lassen, wenn man damit lustige gemeinnützige Sachen anstellen kann? Also bGE plus bWE = keine Ausrede der Aristokratie der Arbeiterklasse mehr. Die wird vermutlich neue Ausreden finden, weil sie ja in Wirklichkeit nicht etwa wie behauptet Inklusion und Integration möchte, sondern Inklusion/Integration über Arbeit und den Verkauf der Ware Arbeitskraft in einer Gesellschaft, die zur Vollautomatisierung strebt. <br/>
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Schaut man sich die von Ronald Blaschke auf einer der zentralen Seiten unseres Netzwerks veröffentlichte tabellarische Übersicht der verschiedenen bGE-Modelle an (vgl. https://www.grundeinkommen.de/content/uploads/2012/08/12-06-modelle-tabelle.pdf ), entsprechen nur die ersten drei wirklich den Essentials des Netzwerks, die vom BAG der Sozialhilfeinitiativen, die vom BAG in/bei der LINKEN und das vage Dilthey-Modell. Noch vager werden die Modelle ab der dritten Seite (beginnend mit ATTAC), die zumindest eventuell vielleicht den Essentials unseres Netzwerks entsprechen. Alles in allem lässt sich festhalten: Nicht nur gibt es überhaupt keine Mehrheiten für ein bGE. Es gibt auch überhaupt nicht das EINE bGE, sondern ein Haufen Ideen, Konzepte, Modelle, hinter denen wiederum ein Haufen sehr unterschiedliche Interessen stecken. Angesichts dieser Situation scheint es mir ehrlich absurd, diesen Verteiler nur dafür zu nutzen, „bGE JETZT!!!“ zu fordern. Yo, klar, meinetwegen gerne, meinetwegen das vom BAG in/bei der LINKEN, obwohl ich ein Konsumsteuermodell möchte. Nur: Werden wir jetzt alle die als Stasi-Schergen verunglimpften LINKEN wählen? Kann ich mir kaum vorstellen. Und selbst wenn: Das Modell des BAG ist m. W. ja noch gar nicht Konsens in der LINKEN, also wohl auch keine Parteiprogrammforderung.<br/>
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Ich glaube, dass es noch eine prägnantere Stelle im Werk Adornos gibt, die ich aber gerade nicht finde, deren Message ist: Wir sind auf der Suche nach dem Wort, das den Bann brechen möge. Hier formuliert er zumindest etwas Ähnliches: „Mit Aufarbeitung der Vergangenheit ist in jenem Sprachgebrauch nicht gemeint, daß man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles Bewußtsein. Sondern man will einen Schlußstrich darunter ziehen und womöglich es selbst aus der Erinnerung wegwischen.“ (Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, GS10.2, S. 555) Mit Bann ist bei Adorno etwas sehr Vielschichtiges gemeint. Unmittelbar die Wertverwertung bis in die Triebstruktur der Individuen hinein, der universelle Verblendungszusammenhang, Hass und Selbsthass der zu bloßen Funktionen der Maschinerie Abgerichteten, Immunisierung gegen Erinnern, Meditation und Eingedenken des gesellschaftlichen Leidens und der ganz persönlichen Dialektik von Unfreiheit und Freiheit. Und vieles mehr. Man könnte Bücher über Adornos Bann-Begriff verfassen. Ich denke, dass das eine Hoffnung aller humanistischen Aufklärer ist: Das Wort, die Reflexion in sprachlicher Gestalt möge fähig sein, die gesamte Menschheit zum Aufwachen zu bringen: „So kann's doch echt nicht weitergehen. Das können wir besser, wenn wir von unseren schlechten Gewohnheiten einfach mal ablassen könnten.“ Der junge Marx formuliert das kämpferischer und optimistischer, ist aber im Kern beim gleichen Thema: „Es handelt sich darum, den Deutschen keinen Augenblick der Selbsttäuschung und Resignation zu gönnen. Man muß den wirklichen Druck noch drückender machen, indem man ihm das Bewußtsein des Drucks hinzufügt, die Schmach noch schmachvoller, indem man sie publiziert. Man muß jede Sphäre der deutschen Gesellschaft als die <i>partie honteuse</i> der deutschen Gesellschaft schildern, man muß diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt! Man muß das Volk vor sich selbst <i>erschrecken</i> lehren, um ihm <i>Courage</i> zu machen. Man erfüllt damit ein unabweisbares Bedürfnis des deutschen Volks, und die Bedürfnisse der Völker sind in eigener Person die letzten Gründe ihrer Befriedigung.“ (MEW1, S. 381)<br/>
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Das Tasten nach diesem Wort, dieser theoretischen Bemühung, dieser sprachlichen Reflexion des Elends, das zu einem gesellschaftlichen Erwachen darüber führen könnte, wie das nun wirklich unnötig gewordene Elend historisch beseitigt werden könnte, ist eine Übung, die seit Jahrhunderten relativ erfolglos praktiziert wird. Das Elend und die Profiteure und die Bequemlichen blieben stets stärker. Es ist aber nicht ausgemacht, dass das immer so bleiben wird. Daher geht die Suche nach diesem Wort einerseits weiter. Andererseits versuchen diejenigen, die nach diesem Wort suchen, immer wieder all die alten Worte in Erinnerung zu rufen, die zumindest vage in die richtige Richtung zu tasten schienen. So sehe ich Jochens Beiträge. Sie sind oberflächlich betrachtet vielleicht offtopic, angesichts der faktischen Wirklosigkeit der bGE-Idee auf die reale Politik aber eigentlich viel mehr ontopic als die tumbe „bGE JETZT!!!“-Forderung, die ohnehin an der Realität abperlt bzw. hier im Verteiler ja nun wirklich keinen Einwand hervorkitzeln kann. Wollen wir ja eh alle, also wozu das immer wieder sagen? Die Frage ist doch viel eher: Wie kommen wir dahin? Wo sind die Hürden? Diese sind sicherlich praktischer Natur, agitationstaktischer und organisatorischer Natur. Andererseits aber sind sie auch zutiefst theoretischer Natur, weil ohne Besinnung schlichtweg weder ein Weg zu einem vernünftigen bGE-Modell führt (das m. E. noch nicht erarbeitet vorliegt) noch ein Weg zu einem Verständnis, warum die Gesamtgesellschaft sich eigentlich gegen ein bGE so vehement sträubt. Ich plädiere daher ganz allgemein dafür, mal über eine Verkehrung von off- und ontopic nachzudenken. Ontopic-Sachen hier sind eigentlich noch gar nicht da, wo wir hinwollen, zumindest ich nicht. Offtopic-Sachen stecken demgegenüber das Feld ab, worum es beim bGE eigentlich geht oder gehen sollte, sind daher eigentlich viel mehr ontopic.</p>

<p style="margin-bottom: 0cm">Sorry, soll kein Angriff gegen dich sein, lieber PeterH. Nur ein Plädoyer dafür, uns auch den Raum für fernliegendere Überlegungen zu geben, weil in der Ferne manchmal das vermeintlich Nahe überhaupt erst nah wird oder zumindest überhaupt erst als Nahes wirklich gespürt werden kann ...<br/>
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Liebe Grüße,<br/>
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Bert</p>
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