[Debatte-Grundeinkommen] Jochen Tittel Antwort an Bernd Starkloff

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Mi Feb 4 11:39:57 CET 2015


Lieber Bernd,
eine Vielzahl anderer Dinge, die ich erledigen muß oder auch will, 
hindern mich daran,mit dem Studium Deiner Texte zur Staatsbürgersteuer 
und dem Drumherum voranzukommen. Wenn ich etwa unter "2. 
Konstruktionsfehler des heutigen Systems" die verschiedenen 
Vergleichsrechnungen sehe, fehlt mir die Klarheit über die genaue 
Definition der unterschiedlichen Steuerbegriffe; folglich verstehe ich 
dann nicht hinreichend, was da gesagt wird. Ich müßte also erstmal ein 
Wörterbuch der Steuersprache durchnehmen. Dazu fehlt mir aber nicht nur 
die Zeit, sondern auch der Antrieb. Ich versuche trotzdem am Thema dran 
zu bleiben. Zunächst aber hoffe ich, daß wir auch angesichts solcher 
Wissenslücken dennoch einen sinnvollen Dialog führen können.
Zunächst eine kleine Bemerkung aus gegebenem Anlaß: In der 
Gesprächsrunde bei Günther Jauch zur Wahl in Griechenland und den 
Ankündigungen der neuen Regierung sagte Katja Kipping, mit der Absicht, 
daß Steuerflucht der Superreichen in Steuerparadiese verhindert werden 
müsse, daß die Steuerpflicht an die Staatsbürgerschaft gebunden werden 
müsse. Kann es sein, daß ihre Vorstellungen da vom Modell der 
Staatsbürgersteuer beeinflußt sind?
Nun zu unserem Austausch.
Ich freue mich darüber, daß wir doch in einigen Dingen übereinkommen. So 
etwa in Bezug auf Korruptionsfilz und Vetternwirtschaft, und ich finde 
es gut, wenn Du da direkt wirksam bist. Ich denke allerdings, daß die 
grundlegenden Probleme hier tief im bürgerlichen Menschenbild verwurzelt 
sind und daß ein Kampf gegen die Erscheinungen an der Oberfläche eine 
Sisyphusarbeit sind. Es fällt schwer, die Grenze zwischen krimineller 
Verfilzung und normalen Beziehungsnetzwerken zu ziehen. 
Beziehungsnetzwerke sind die Grundlage von Vergesellschaftung überhaupt. 
Theoretisch kann man natürlich leicht sagen, daß solche Verflechtungen 
solange gut und erlaubt sind, wie sie der Allgemeinheit nicht schaden. 
Aber hier stellt sich dann schon die Frage, wieweit man noch an das 
bürgerliche Paradigma von Adam Smith´ "unsichtbarer Hand" glauben will, 
wonach der Gemeinnutzen am besten realisiert würde, wenn man den 
Einzelinteressen freie Hand ließe. Nach wie vor ist das das liberale 
Grunddogma. Ich bin überzeugt, daß wir solange keine menschenwürdigere 
gesellschaftliche Ordnung finden werden, wie wir diesen Irrglauben nicht 
aufgeben. Das erfordert natürlich eine eingehende Debatte über die 
historischen Ursachen der Entstehung dieser Überzeugungen.
Wenn Du, lieber Bernd, die Mißstände in diesem Zusammenhang als 
Wachstumsbremsen beklagst, leuchtet bei mir eine rote Alarmlampe auf. 
Die Wachstumsanbetung unserer wirtschaftlichen und politischen 
Institutionen ist für mich ein Symptom eines Wahnsystems. Dieses (rein 
quantitativ verstandene) Wachstum ist verantwortlich für die Zerstörung 
unserer Lebensgrundlagen und je länger wir damit weitermachen, desto 
schlimmer wird die Katastrophe schließlich werden. Was wir brauchen (und 
zwar global), ist nicht weiteres Wachstum, sondern eine Neuorganisation 
unseres Wirtschaftens mit Orientierung auf die grundlegenden Bedürfnisse 
der Menschen für ein gutes Leben. Dazu braucht es nicht noch mehr von 
diesem und jenem, sondern eine Umverteilung (sowohl der Produkte, wie 
der Aktivitäten).
Wenn ich von " einer Schuld als Profiteure" der Menschen in den 
westlichen Zentren der Industrialisierung spreche, meine ich damit nicht 
eine individuelle oder persönliche (die mag es auch geben, aber darum 
geht es mir jetzt nicht). Besonders für uns Deutsche ist das Thema ja 
lange und immer wieder diskutiert worden. Ich, als Person (und das 
gestehe ich auch jedem andern Menschen zu) habe keine Verantwortung und 
keine Schuld an irgendetwas, was ich nicht selbst getan oder selbst 
entschieden habe. Andernfalls würden für mich die Begriffe von Schuld 
und Verantwortung ihren Sinn verlieren. Aber die Welt, in der ich lebe, 
ist das Resultat einer konkreten Geschichte (auch das trifft auf jeden 
Menschen zu). Der Wohlstand in den Zentren der Industrialisierung ist 
das Ergebnis der Räubermentalität dieser Staaten seit Jahrhunderten. 
Diese Mentalität hat sich nicht geändert, lediglich die 
Selbstdarstellung ist "geschickter" geworden. Am deutlichsten kann man 
das an den USA beobachten, die es nicht bedenklich finden, wenn sie 
"ihre Interessen" in der ganzen Welt durchaus auch militärisch 
durchsetzen (als Beispiel etwa Brzezinskis berüchtigtes Buch: Die 
einzige Weltmacht; und als praktische Illustration dieses eher 
strategischen Werks: John Perkins: Bekenntnisse eines economic hitmen). 
Deutsche und europäische Politik besteht im Wesentlichen in der 
Unterwerfung unter diese US-Amerikanische Weltpolitik. Als Bürger dieses 
Deutschlands und dieses Europas bin ich mitverantwortlich für die 
Katastrophen, die diese Politik heraufbeschwört, wenn ich nur nichts 
dagegen unternehme; also auch, wenn ich weiter irgendwelche Politiker 
bzw. Parteien wähle und dann glaube, sie für alles verantwortlich machen 
zu können. Daß wir als Nachkriegsdeutsche mit unseren Steuern die 
Wiedergutmachung mitbezahlen mußten, ist sicher zum Teil unvermeidlich. 
Man könnte darüber streiten, ob nicht die interne Verteilung der 
Belastung hätte anders organisiert werden sollen (während der westliche 
Teil bald mit der Mashallplan-Hilfe aufgepäppelt wurde, ist der Osten 
leergeräumt worden und hat so einen Großteil der Kriegsfolgelast 
getragen (das auch zu bedenken in Berts Argumentation zur Errichtung des 
Sozialismus in der kapitalistischen Peripherie)). Darüberhinaus gäbe es 
noch andere Aspekte; aber ich will das jetzt nicht weiter verfolgen.
Von Schuld oder Verantwortung spreche ich also immer in Bezug auf 
gegenwärtige Umstände und die eigene Haltung dazu. In dem Sinne sind 
natürlich alle mitverantwortlich für die jeweilige Politik eines Landes, 
die diese Politiker gewählt haben. Aber auch, wer nicht zur Wahl geht 
oder anders gewählt hat ist deshalb noch nicht seine Verantwortung los. 
Andererseits kann aber auch kein Mensch einem andern Verantwortung 
aufladen oder geben, wenn dieser das nicht mitmacht. Die Rede vom 
Abgeben, Abnehmen oder Übertragen von Verantwortung ist also immer 
zwiespältig zu verstehen. Soweit ich das beurteilen kann, sind wir uns 
da wohl einig.
Das Modell der Staatsbürgersteuer halte ich auf alle Fälle für 
diskussionswürdig in Bezug auf Vereinfachung und Transparenz und auch 
mehr Gerechtigkeit (und es ist wohl als Grundlage für ein BGE geeignet). 
Und das, obwohl ich selber hinsichtlich konkreter Einzelauswirkungen 
noch nicht den richtigen Durchblick habe und denke, daß da noch sehr 
viel Aufklärungsarbeit zu leisten ist, wenn ein sogenannter "normaler 
Mensch" verstehen soll, worum es da geht. Ich weiß gerade auch aus den 
Diskussionen in dieser Liste, daß für ein wirkliches Verständnis der 
Zusammenhänge grundlegende Voraussetzungen fehlen. Daraus könnte man 
eine Frage an unser Bildungswesen ableiten.
Zum Effizienzbegriff
Die abstrakte Definition des Begriffs ist natürlich unstrittig. Ein 
günstiges Verhältnis zwischen Aufwand und Nutzen wird niemand anfechten. 
Aber wie werden Aufwand und Nutzen bestimmt? Wann ist da die abstrakte 
Einheit in Geldwert wirklich angemessen? Selbst in unmittelbar 
ökonomischen Zusammenhängen wird dieses Kriterium fragwürdig, wenn es um 
ökologische Auswirkungen geht. Im Bildungs- oder Gesundheitswesen ist es 
völlig unangemessen. Das bedeutet zwar nicht, daß es nicht auch 
ökonomische Effizienz-Aspekte in diesen Bereichen gibt, aber als 
übergeordnete Organisationsprinzipien im Ganzen sind sie ungeeignet. 
Wenn dann noch Effizienz mit Profitabilität identifiziert wird, geht die 
Menschenwürde restlos verloren; ich denke da an die entsetzlichen 
Entwicklungen im Pflegebereich (nur als ein Beispiel).
Im Bildungswesen führt die Dominanz marktwirtschaftlicher Orientierung - 
um nur einen Aspekt herauszugreifen - zu einer Verdichtung der 
Bildungswege mit dem erklärten Ziel, die Menschen schneller zu 
ökonomisch verwertbaren Individuen zu machen, zu einer Verengung des 
Horizonts, der letztlich nichtmal den ökonomisch erwarteten Effekt 
hervorbringt. Die Bologna-Reform hat etwa solche Auswirkungen, daß ein 
Professor in einer Sendung von 3sat zum Thema "Krise in den 
Wissenschaften" berichtet, daß seine Studenten ihm gegenüber äußern, daß 
er nicht von ihnen erwarten könne, daß sie ein ganzes Buch lesen, weil 
sie dazu keine Zeit hätten. Und die neuen Schmalspur-Abschlüsse bringen 
Absolventen hervor, die schlicht zu nichts zu gebrauchen sind. Aber 
diese Ausbildung ist effizient, weil sie weniger kostet.
Sowohl zum Bildungs- wie auch zum Gesundheitswesen (was ich lieber als 
Krankheitswesen bezeichne), könnte ich noch viel mehr schreiben, müßte 
dazu aber meine gespeicherten Materialien sichten, wozu ich mir jetzt 
nicht die Zeit nehmen will. Falls Dir diese Andeutungen nicht 
ausreichen, werde ich mir aber irgendwann die Mühe machen.
Du sagst, es wären die Politiker, die falsche Prioritäten setzen, und 
das stimmt ja auch. Aber daß Politik heute so völlig an den Interessen 
der Menschen vorbeigeht und immer mehr Chaos erzeugt, liegt doch daran, 
daß Politik vollständig unter dem Diktat der Weltwirtschaft, ergo der 
Weltfinanzordnung steht.
Deine Analysen und Lösungsansätze zum Gesundheitswesen habe ich noch 
nicht gelesen; ich nehme es mir für die nächste Zeit vor.
Zu Markt, Gewinn und Konkurrenz
Die wundersamen Wirkungen der Konkurrenz, die immer wieder beschworen 
werden und die angeblich für ausgleichende Gerechtigkeit sorgen, sind 
doch nur die halbe Wahrheit. Diese Ausgleichswirkung existiert nur, 
solange auch gleiche Ausgangsbedingungen existieren. Aber die Konkurrenz 
sorgt selbst auch für die Zerstörung dieser Gleichheit und führt 
schließlich zur Konzentration der Vermögen. Daß z.B. lediglich sechs 
große Konzerne den Weltgetreidemarkt beherrschen, ist ein Ergebnis der 
Marktkonkurrenz. Daß diese Konzerne sich untereinander durch Konkurrenz 
Schwierigkeiten machen werden, ist zwar nicht ausgeschlossen; 
wahrscheinlicher ist aber eine Absprache zur Aufteilung des Weltmarktes. 
Auch das ist nur ein Beispiel zur Illustration der heutigen Situation. 
Für jeden andren Bereich der Weltwirtschaft kann man gleiches 
beobachten. Das sind die zwangsläufigen Folgen Marktwirtschaftlicher 
Organisation, die Marx schon vor 150 Jahren erkannt und beschrieben hat. 
Und es sind auch die Folgen einer Unterwerfung der Politik unter die 
Marktgesetze. Wenn Du selbst schreibst: "Das funktioniert aber nur, weil 
die Politik da massiv schützt und unterstützt. Also Verflechtung von 
Interessen auch hier.", fragst Du Dich dann nicht, warum die Politik so 
handelt und in wessen Interesse?
Es interessiert mich durchaus, was Du dazu noch zu sagen hast; ebenso 
zum Thema Geld und Zins. Meine Abneigung bezieht sich nur auf 
Mathematisierungen und Modellrechnungen, die schon auf falschen 
Voraussetzungen aufbauen und deshalb etwas errechnen, was mit der 
Realität nichts mehr zu tun hat. Aber es ist klar, daß auch darüber wohl 
noch zu streiten ist.
Herzlichen Gruß an Dich und Mitlesende.
Jochen



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