[Debatte-Grundeinkommen] zur Dezemberdebatte
Debattenliste des Netzwerks Grundeinkommen
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Mo Dez 22 11:15:33 CET 2014
Liebe Debattenteilnehmer,
in den vergangenen zwei Wochen sind hier auf der Plattform so viele
Themen angesprochen worden, die auch mir wichtig erscheinen, daß ich
dazu etwas sagen möchte, mir aber nicht sicher bin, ob ich das alles in
einer Mail zusammnkriege. Ich versuche es einfach mal.
Du, lieber Peter, hast die Frage aufgeworfen, welche Rolle die Angst in
unserer Gesellschaft spielt. Das war für mich auch eine zentrale Frage
in meiner "Geschichte eines Irrtums". Die Angst vor einer als bedrohlich
wahrgenommenen Welt ist das Hauptmotiv zur Errichtung des
Herrschaftssystems und sie ist bis heute die zentrale Triebkraft, die
dieses System aufrecht erhält. Deshalb ist es auch aussichtslos, die
Herrschaft dadurch zu beenden, daß man sie bekämpft und mit Vernichtung
bedroht, denn das schürt die Angst und macht das System nur noch
stärker. Es mag platt oder esoterisch klingen (in den Ohren vieler
"Normalmenschen"), aber die einzige Kraft, die uns aus diesem Marsch ins
Verderben heraushelfen kann, ist die Liebe. Aus Liebe zu handeln,
bedeutet nicht, daß wir nicht auch sehr kämpferisch auftreten können.
Aber aus Liebe zu kämpfen, bedeutet, niemals gegen Menschen oder "die
Natur" zu kämpfen, sondern immer nur gegen falsche Vorstellungen,
Handlungen und daraus entstandene Strukturen. Die Befreiung von der
Angst, davon bin auch ich überzeugt, wird ungeahnte Kräfte in uns
freisetzen die allerdings wohl nicht in € oder $ zu beziffern sind. Denn
die Angst hindert uns nicht nur an unserer Produktivität, sie treibt uns
auch zu unsinniger Produktivität, die ständig in Zerstörung umschlägt.
Das ist unser Herrschaftsstreben, welches uns zu einem Krebsgeschwür auf
diesem Planeten macht.
Das fatale am Herrschaftssystem ist der Umstand, daß es scheinbar die
Rechtfertigung für seine Existenz selbst produziert. Durch den Raubbau
an allen Ressourcen erzeugt es immer neuen Mangel und je größer unsere
Fähigkeiten auf dem Wege des wissenschaftlich-technischen Fortschritts
werden, desto größer wird der Schaden, den wir anrichten. Vielleicht
können wir ewig so weitermachen und als Angstgetriebene nach der Erde
auch noch andere Planeten und kosmische Welten zerstören; das könnte man
als eine erfolgreiche Zukunftsvision betrachten, aber sicher keine
glückliche.
Zum Verhältnis von Einkommensteuer und Konsumsteuer usw.
Im klassischen Kapitalismus beruht die gesamte Wertschöpfung auf der
Verwertung der Arbeitskraft und deshalb war die Besteuerung der
Arbeitseinkünfte auch das naheliegende Mittel, den Staat zu finanzieren.
Die konkrete Geschichte der Erfindung von Steuern bietet übrigens einige
überraschende Fakten. Welche Probleme da im Detail des Wertbegriffs
stecken, lasse ich hier außen vor und komme später darauf zurück. Ich
denke, wir sind uns hier darüber einig, daß mit der enormen Entwicklung
der Produktivität die Menge der verwertbaren Arbeitskraft immer geringer
wird, und daraus leiten wir die Notwendigkeit eines Grundeinkommens ab,
wenn wir uns nicht der Verwertungslogik unterwerfen und die nicht mehr
für die Produktion gebrauchten Menschen einfach verhungern lassen wollen.
Eine Steuer auf Arbeitseinkommen ist also in mancher Hinsicht
kontraproduktiv, das bedeutet aber nicht, daß andere Einkommensformen
auch nicht besteuert werden sollten.
Der andere Ansatz, den Verbrauch zu besteuern, bietet viele Vorteile.
Dabei sehe ich zwei Ansatzmöglichkeiten, die sich wahrscheinlich gut
kombinieren lassen. Das ist einmal die Konsumsteuer auf den Verbrauch
der Endprodukte des Produktionszyklus. Zum anderen die Steuer auf den
Verbrauch der Ausgangsstoffe der Produktion, also alle Rohstoffe und
Energie. Und an dieser Stelle findet sich auch die natürliche Verbindung
zu der von Pius schon mehrfach angesprochenen Lenkungsabgabe. Bisher
habe ich auf Pius´ Anregung nicht reagiert, weil ich das für eine
Selbstverständlichkeit hielt, über die wir nicht grundsätzlich zu
diskutieren brauchten. Aber aus anderen Beiträgen in dieser
Debattenliste habe ich den Eindruck gewonnen, daß das doch noch nicht so
selbstverständlich zu sein scheint.
Bei allen weiteren Punkten, die ich ansprechen will, beziehe ich mich
auf Anstöße oder Ansätze, die Bert in seinen letzten beiden Mails
geliefert hat, deshalb hier zunächst ein extra Vorwort an ihn.
Lieber Bert,
Du schreibst, Du glaubst, mir mit irgendeiner Äußerung "gehörig gegen
den Strich gegangen" zu sein. Nun frage ich mich, welche Äußerung
meinerseits diesen Eindruck bei Dir ausgelöst hat. Ich kann Dir
versichern, daß ich mich immer über Deine Beiträge freue und sie als
willkommene Herausforderungen annehme, auch für mich selbst mehr
Klarheit in den besprochenen Themen zu finden. Höchstens stöhne ich
gelegentlich, wenn es schon wieder gleich fünf Seiten sind, oder noch
mehr. Aber das heißt nicht, daß ich Dich auffordern wöllte, Dich kurz zu
fassen; ich weiß, daß es so, wie es ist, eben gerade richtig ist.
In Deiner Antwort an Andreas schreibst Du:
"Was ich ernstlich bekümmerlich finde, ist die Dummheit der Mittelschicht."
Ein Thema, das ja auch schon wenigstens 150 Jahre diskutiert wird. Ich
habe zwar jetzt kein Zitat griffbereit, aber erinnere mich an Äußerungen
von Marx und Engels über das Kleinbürgertum. In den Medien wurde lange
Zeit (wenn es speziell um Deutschland geht), das Bild vom deutschen
Michel benutzt, mit seiner Schlafmütze auf dem Kopf. Wenn man sich die
Frage stellt, wie es zu diesem deutschen Michel kommen konnte, sollte
man sich zunächst darüber klar sein, daß er wesentlich ein Produkt des
deutschen Bildungssystems und der deutschen Schulpflicht ist. In
modifizierter Form trifft das natürlich auch auf die Bevölkerungen
anderer Länder zu. Ich sage bewußt Bildungssystem und Schulpflicht, weil
letzteres natürlich nur ein Teil des Ganzen ist, wenn auch ein
wichtiger. Der Ungeist der geistigen Dressur ist ja leider inzwischen so
tief verwurzelt in unserer Gesellschaft daß er bis in die Familien
hinein wirkt. So ist heute die Reaktion von Eltern auf Schulkritik in
der Regel die, zu behaupten: "Uns hat das auch nicht geschadet. ..."
Dennoch, diese Unterwerfung ist noch immer nicht perfekt (und kann nie
perfekt werden, es sei denn, die Menschheit stirbt einfach ab), und so
führt das selbstherrliche Über-die-Köpfe-der-Menschen-Hinwegregieren
seit einer Ewigkeit doch hin und wieder zu einem Aufbegehren der
Regierten und Eingeschläferten. Im deutschsprachigen Raum gab es solche
Momente kurzen Aufwachens etwa 1524 bis 1526, 1848 und 1918, zuletzt
1998 im Osten. Und vielleicht beginnt gerade jetzt wieder so ein
Erwachen. Schlaftrunken, wie der deutsche Michel noch ist, ist er
desorientiert und verwirrt, aber das kann sich ändern und es liegt an
uns, was daraus wird. Die Friedens-Mahnwachen und Montagsdemos und die
PEGIDA in Dresden und anderswo sind ein solches Beginnen. Und alle die,
die sich für Politiker halten und jetzt alles daran setzen, diese
Bewegung in irgendeines ihrer alten Schubfächer einzuordnen, sind nicht
schlauer als die Leute auf der Straße. Ich habe selbst einige solche
Veranstaltungen beobachtet bzw. daran teilgenommen und ich bin Mitglied
einer kleinen Gruppe der Freiberger "Mahnwache für den Frieden". Obwohl
selbst in diesem kleinen Kreis die Zahl der für den "Normalbürger"
absonderlichen Theorien und Ansichten größer ist als die Zahl der
Teilnehmer, ist doch eines uns gemeinsam: wir wollen eine Politik, die
auf Frieden und nicht auf Krieg abzielt und wir wollen keine Politiker
und Bürokraten mehr dulden, die über unsere Köpfe hinweg entscheiden im
Interesse einer globalen kapitalistischen Elite. Und soweit ich das
einschätzen kann, ist das auch die Gemeinsamkeit bei all diesen
Demonstrationen. Der zur Schau getragene Antiislamismus ist eine
oberflächliche und populistische Verirrung die ihre Bedeutung verlieren
wird, wenn wir uns um Klarheit der Situation bemühen statt weiter in
Feindbildern zu denken. Natürlich ist nicht auszuschließen, daß die
"Eliten" versuchen, diese Bewegung zu manipulieren und für ihre
Interessen zu instrumentalisieren; diesbezügliche Vermutungen zu den
Dresdner PEGIDA-Organisatoren sind wohl nicht aus der Luft gegriffen.
Aber wie ich schon sagte, es liegt an uns, wohin sich das bewegt.
Wer sich Jahrzehnte lang, wie ich, gewünscht hat, daß "das Volk" endlich
aufwachen möge, der sollte jetzt nicht aus Angst vor der Verwirrtheit,
die sich da zeigt, wieder mit Schlafmitteln kommen.
Insbesondere halte ich diese Entwicklungen für eine Gelegenheit, den
Grundeinkommensgedanken bei Menschen bekannt zu machen, die auf der
Suche nach Alternativen oft ganz am Anfang stehen und herzlich wenig
politische Erfahrungen bisher gemacht haben. Aber auch hier ist zuhören
zunächst wichtiger als agitieren.
Was die Entwicklungen europaweit oder weltweit betrifft, so ist das
Erstarken "rechter" politischer Bewegungen ein klares Zeichen dafür, daß
es jetzt die bürgerliche Mitte ist, die in ihrer Existenz bedroht ist
von der kapitalistischen Werteverwertung. Bei den wirklich Armen ist ja
nichts mehr zu holen und aus welchen Gründen auch immer, läßt man sie
noch nicht ganz verhungern. Die Kosten für diese notdürftige
Durchfütterung werden den Kleinbürgern auferlegt. Das spüren sie, wenn
sie auch noch nicht richtig wissen, wie das kommt. Wenn deutsche
Kleinbürger die Bedrohung dann bei Ausländern oder dem Islam sehen, ist
das genauso dumm, wie die Behauptung, ihr Aufbegehren sei eine rechte
Bewegung und müsse bekämpft werden. In beiden Fällen bleibt die
wirkliche Ursache unerkannt. Die Lösung des Problems kann aber nicht in
der Organisation von Gegendemos liegen, wo dann die Entscheidung über
Recht oder Unrecht danach fällt, wer lauter brüllen kann. Ebenso sinnlos
finde ich Parolen wie: "Nazis raus". Selbst wenn es sich in manchen
Fällen wirklich um Nazis handelt; was soll diese Forderung? Wo ist
Draußen, und was soll dann mit denen werden? Sollen sie auf den Mond
oder den Mars geschossen werden? Solange wir uns den Planeten, auf dem
wir leben und die Mitlebewesen darauf nicht aussuchen können, müssen wir
doch irgendwie miteinander hier auf der Erde leben. Wenn wir diejenigen,
die uns nicht gefallen, nicht einfach totschlagen wollen - dann wären
wir selber Nazis - dann ist es ein Gebot der schlichtesten Vernunft, daß
wir uns um ein möglichst friedliches und freundliches Miteinander
bemühen. Also muß man mit allen reden, die mit sich reden lassen. Nur im
Falle wirklicher Gewalt ist Gegengewalt eine mögliche und sinnvolle Option.
Was den Krisendruck auch auf die Kapitalisten und ihre Funktionseliten
betrifft, bin ich überzeugt, daß auch sie nur Menschen sind und deshalb
auch menschlich reagieren; was auch immer "menschlich" bedeuten mag. Es
gibt eine ganze Reihe Beispiele von Aussteigern aus dem Hamsterrad, die
darin durchaus erfolgreich waren, schließlich aber erkannt haben, daß
das nicht alles sein kann. Natürlich sind das bis jetzt immer noch
Einzelfälle, aber ich habe den Eindruck, daß sie häufiger werden. Auch
da wächst ein Potential für Alternativen heran.
In Deiner Antwort an Arfst zum Begriff des Innerseelischen kommst Du auf
" die kleinen Leute, die nicht mehr ans Miteinander füreinander glauben
können, welt-, fremd- oder autoaggressiv werden." zu sprechen. Mir fällt
dazu eine Passage in Hannah Arends "Vita activa" ein, weil ich das
kürzlich gelesen habe. Sie argumentiert sinngemäß etwa so (das ist jetzt
meine Interpretation), daß die Zerstörung der zwischenmenschlichen
Beziehungen durch die Unterwerfung aller Beziehungen unter die Geldlogik
und Geldvermittlung, auch die Fähigkeit zur Kommunikation untergräbt,
weil Kommunikation nur auf dem Boden gemeinsamer Beziehungen wachsen
kann. Menschen, die durch die Geldvermittlung voneinander getrennt sind,
können sich nicht mehr auf ein gemeinsames Weltbild beziehen und haben
folglich immer weniger Verständnis füreinander. Gerade die oben erwähnte
Vielfalt "absonderlicher" Welttheorien, denen wir heute (z.B. im
Internet) begegnen, ist ein Anzeichen für die Richtigkeit von Hannah
Arends Vermutung. Aus dieser Beziehungslosigkeit entsteht dann auch das
Weltaggressive Verhalten.
" ... dass die bGE-Idee eine ist, die alle Humanisten zu einigen fähig
sein mag."
Deine Folgerung, daß bGE-Gegner Menschenfeinde sind, erscheint mir etwas
zu krass; ich würde formulieren: sie haben ein pessimistisches
Menschenbild. Allerdings ergeben sich daraus Schlußfolgerungen für den
Umgang mit Menschen, die schon auf Menschenfeindlichkeit hinauslaufen.
Dieses pessimistische Menschenbild ist übrigens symptomatisch für alle
Herrschaftsverfechter. Was ich mich immer wieder Frage, wenn ich
Menschen so argumentieren höre, das ist erstens: Beziehen sie sich
selbst mit in dieses Bild ein oder halten sie sich für eine Ausnahme?
Und zweitens: Wenn sie sich auch selbst für so unvollkommene Mängelwesen
halten, warum machen sie dann ihrem Dasein kein Ende und quälen gar
andere Menschen mit unsinnigen Vorschlägen oder Forderungen? Oder wenn
sie sich selbst als Ausnahme von dieser Mangelhaftigkeit betrachten,
womit begründen sie das? Es läuft dann zwangsläufig auf irgendeine Art
Rassismus hinaus.
Zu Deinen Gedanken zur persönlichen Rechtssouveränität und der Geltung
des Grundgesetzes fällt mir auch gleich einiges ein, was im Kreise der
Montags-Demo-Leute diskutiert wird und wo noch einige unbeantwortete
Fragen auch zum Status der BRD offen sind. Ebenfalls in diesem
Zusammenhang gebe ich hier als Anregung zum Weiterdenken einen
Ausschnitt aus meiner kürzlichen Lektüre:
" ... Nirgends, mit anderen Worten, weder im Arbeiten, wiewohl dies doch
der Lebensnotwendigkeit unterwirft, noch im Herstellen, wiewohl es doch
von Material in seiner Gegebenheit abhängig bleibt, scheint es weniger
Freiheit für den Menschen zu geben als in den Fähigkeiten, die doch
andererseits allein seine Freiheit garantieren, und in dem Bereich, der
ausschließlich durch den Menschen selbst erzeugt ist.
Diese Gedankengänge liegen durchaus in der Linie der großen Tradition
abendländischen Denkens: sobald wir beginnen, uns über diese Dinge
Rechenschaft zu geben, sind wir versucht, der Freiheit zu mißtrauen, die
uns in die Falle einer Notwendigkeit lockt; der Spontaneität des
Handelns vorzuwerfen, daß sein Neuanfang ein Schein ist, der sich sofort
in dem prädeterminierten Bezugsgewebe verliert, in dem sich gerade der
Handelnde verstrickt; die Weltordnung anzuklagen, in der Menschen die
Freiheit unweigerlich verlieren, sobald sie anfangen, von ihr Gebrauch
zu machen. Freiheit, so scheint es, kann nur der bewahren, der sich des
Handelns enthält, und die einzige Rettung für die Souveränität der
Person scheint in dem Abstand zu liegen, den die >>Weisen<< zwischen
sich und den zwischenmenschlichen Bereich legen und erhalten. Sehen wir
einmal ab von den verhängnisvollen Folgen solcher Ratschläge (die im
Abendland nur der Stoizismus in eine konsequente Moral ausbildete), so
scheint ihr grundsätzlicher Irrtum in der Gleichsetzung von Souveränität
und Freiheit zu liegen, die in der Tat mehr oder weniger ausdrücklich
von nahezu dem gesamten politischen und philosophischen Denken der
Überlieferung vorausgesetzt wird. Wären Souveränität und Freiheit
wirklich dasselbe, so könnten Menschen tatsächlich nicht frei sein, weil
Souveränität, nämlich unbedingte Autonomie und Herrschaft über sich
selbst, der menschlichen Bedingtheit der Pluralität widerspricht. Kein
Mensch ist souverän, weil Menschen, und nicht der Mensch, die Erde
bewohnen, und dieses Faktum der Pluralität hat nichts damit zu tun, daß
der Einzelne, auf Grund seiner nur begrenzten Kraft, abhängig ist von
Anderen, die ihm gewissermaßen helfen müssen, überhaupt am Leben zu
bleiben. Alle Ratschläge, welche die Tradition uns anzubieten hat, uns
in souveräner Freiheit von anderen zu halten, laufen darauf hinaus, eine
>>Schwäche<< der menschlichen Natur zu überwinden und zu kompensieren,
und diese Schwäche ist im Grunde nichts anderes als die Pluralität
selbst. Folgt man diesen Ratschlägen und versucht im Ernst, die Folgen
der Pluralität zu >>überwinden<<, so wird dabei nicht so sehr eine
souveräne Herrschaft über sich selbst als eine willkürliche Herrschaft
über andere herauskommen, es sei denn, man entschließt sich mit den
Stoikern, die wirkliche Welt für eine eingebildete einzutauschen, in der
man sich einrichtet, als existierten andere Menschen schlechterdings
nicht" (Hannah Arendt: "Vita Activa oder vom tätigen Leben" Piper 2006,
4. Auflage S. 298 f)
Die Sehnsucht nach Freiheit kann durchaus zu eine Falle werden, wenn wir
sie, ganz im Rahmen bürgerlicher Ideologie, als isolierte Individuen
erreichen wollen.
Hat das Patriarchat irgendeinen historischen Sinn, bzw. gibt es
irgendeine Rechtfertigung dafür?
Meine Antwort darauf ist: grundsätzlich Nein. Aber ...
Es ist nicht ausgemacht, daß wir Fehler machen müssen, um daraus etwas
zu lernen; oder andersherum: Wir können auch lernen, ohne Fehler zu
machen. Falls das aber eine zu starke Behauptung sein sollte, so gilt
zumindest, daß wir auch aus weniger verhängnisvollen und weniger
beharrlich gemachten Fehlern lernen können. Etwa Deine Vermutung, lieber
Bert, daß wir dem Patriarchat unsere Wissenschaften verdanken stimmt zur
Hälfte sicherlich, soweit sie eben patriarchale Produkte sind. Aber wenn
das das heißen soll, daß wir ohne Patriarchat gar keine Wissenschaft
hätten, dann ist das doch das gleiche, wie die vor gut hundert Jahren
gängige Behauptung, der Krieg sei der Vater aller Dinge. Ich bin
überzeugt, daß wir ohne Patriarchat und ohne Herrschaft (was ich hier
einfach identifiziere) eine ganz andere Wissenschaft entwickelt hätten.
Und es ist nicht ausgemacht, daß die schlechter oder schwächer wäre, als
das was wir jetzt haben. So gesehen gibt es keine Rechtfertigung für das
Patriarchat. Da es aber nunmal ein wesentlicher Teil unserer Geschichte
ist, ist es wohl unsere Aufgabe, ihm so weit als möglich nachträglich
einen Sinn zu geben, indem wir aus dieser Geschichte so viel lernen wie
nur möglich. Im übrigen ist die Möglichkeit, Fehler zu machen, der Preis
der Freiheit, insofern hat das also auch einen Sinn. Das in Deiner Mail
erwähnte Turgenjew-Zitat wird dadurch natürlich nicht entkräftet.
"Verena wies auf die Vermutung hin, dass unsere Ego-Probleme mit unseren
Familienseelen verstrickt bleiben."
Ich habe da offensichtlich etwas von Verenas Beiträgen nicht mitbekommen
und nur Deinen Bezug darauf, Bert. Was ich von den Ego-Vorstellungen
halte, habe ich ja schon mitgeteilt; andere Seelenkonstruktionen haben
für mich das gleiche Recht, wie die Einzelseele. Aus dieser Haltung
heraus und aus vielen beeindruckenden Erfahrungen und Erlebnissen mit
systemischen Aufstellungen habe ich vor zwei oder drei Jahren in der
Dresdner BGE-Initiative mal eine systemische Aufstellung zum Thema BGE
organisiert. Aufgrund vieler Vorbehalte der Leute gegen das
"Psycho-Zeug" war die Teilnahme geringer, als ich es mir gewünscht hatte
und ich war auch mit dem Ergebnis nicht so zufrieden. Deshalb habe ich
das bisher nicht wiederholt. Dennoch waren alle Teilnehmer doch von den
Prozessen, die sich da gezeigt haben, irgendwie positiv beeindruckt. Ich
kann also nur empfehlen, an so einer Aufstellung mal selbst
teilzunehmen, sonst weiß man nicht, wovon da die Rede ist. Für mich ist
eine Essenz aus zahlreichen Familienaufstellungen, daß mir klar geworden
ist, wie viel von den letzten beiden Weltkriegen in uns drin steckt und
unser gegenwärtiges Handeln beeinflußt.
zu Deinem Adorno-Zitat: " ... Die Abschaffung des Leidens, oder dessen
Milderung hin bis zu einem Grad, der theoretisch nicht vorwegzunehmen,
dem keine Grenze anzubefehlen ist, steht nicht bei dem Einzelnen, der
das Leid empfindet, sondern allein bei der Gattung, der er dort noch
zugehört, ..."
Wie ich Dir, lieber Bert, schon vorher einmal schrieb, bin ich mir bei
Adorno oft nicht sicher, wie ich ihn verstehen soll. Wenn er mit obigem
Spruch die Verantwortung vom Einzelnen auf die Gattung übertragen will,
bestreite ich ihm das. Nur als Einzelner kann ich entscheiden und nur,
was ich entschieden habe, kann und muß ich verantworten. Die Gattung ist
eine hole Konstruktion in diesem Zusammenhang. Ich denke, gerade darin
liegt der Sinn unseres Erscheinens als Individuen in dieser Welt. Wir
können als Einzelne die Welt nicht vom Leiden erlösen, aber nur, indem
wir als Einzelne Entscheidungen treffen, können wir dazu beitragen.
Vielleicht habe ich Adorno mißverstanden, wenn ich bei ihm diesen
Gedanken nicht erkennen kann, wer weiß?
Zur Urlaubsregelung in Hartz4
Arbeit in der Wertverwertung ist eine Form von Herrschaft. Wenn die
Verwertung stockt, geht die Herrschaft dennoch weiter. In der
Hartz4-Verwaltung geht es also einfach nur um Herrschaft und
Unterwerfung ohne weiteren Inhalt. An dieser Stelle will ich noch auf
einen anderen Zusammenhang hinweisen, der die Wertverwertung betrifft.
Die Verwertungslogik schafft sich tatsächlich selbst eine unendliche
offene Perspektive indem sie mit der Zerstörung natürlicher
Lebensgrundlagen immer neue Notwendigkeiten erzeugt, die profitabel
bedient werden können. Als kleine Illustration hier ein Textausschnitt
aus "Anders arbeiten - anders wirtschaften" (Hrg.Joseph Huber 1979): S.
187: " ... Man denke hier nur einmal an jenen Wirtschaftsmechanismus,
der zur Errichtung von künstlichen Schwimmbädern entlang der
verschmutzten Meeresstrände und Seeufer führt. Zur Zeit, als die
Wirtschaft noch weniger >>reich<< war, waren die Meere und Seen in
Europa sauber, und es kostete nichts, darin zu baden. Der Gebrauchswert
dieser Strände war offensichtlich, während ihr Tauschwert gleich null
war. Ab dem Moment, wo die Seen und Meere verschmutzt sind, baut man
extra Schwimmbäder: wer baden will, muß jetzt dafür bezahlen (am Eingang
oder durch die Steuern, falls der Eintritt frei ist). Für einen
geringeren Gebrauchswert (ein Schwimmbad kommt dem Meer nicht gleich)
hat man nun einen Tauschwert geschaffen. ..."
An einem vergleichsweise undramatischen Beispiel wird hier sehr
anschaulich, was unser Wirtschaftswunder wirklich ist.
Du, lieber Bert, bezeichnest Dich als Grenzgänger der Kultur und kommst
auf den Psychosebegriff zu sprechen. Ich denke, ich gehöre auch zu den
Grenzgängern auf verschiedene Weise. Die Frage, was Normalität bedeutet,
hat mich schon in den siebziger und achtziger Jahren intensiv
beschäftigt und als ich die Unterbrechung meines Physikstudiums 1980 mit
einer Bescheinigung eines psychologischen Gutachters begründen konnte,
daß ich schizoide Persönlichkeitsmerkmale hätte, war ich sogar ein
bisschen stolz darauf. Heute sehe ich das nüchterner, aber nach wie vor
halte ich die Klassifizierung der Menschen in Normale und Unnormale für
unnormal. Die Bewertung der Individuen nach den Kriterien der
Wertverwertung (und das steckt letztlich immer dahinter), ist schlicht
unmenschlich bzw. menschenunwürdig und das fatale dabei ist, daß wir uns
auf diese Weise langsam und unmerklich ausrotten (was man unter
bestimmten Aspekten positiv bewerten könnte). Durch die Abgrenzung eines
Normalbereiches wird der Spielraum der Variationen eingeschränkt. Dann
gelten wieder die Variationen im Randbereich als extreme Abweichungen
... Auf diese Weise wird ein Einheitstyp erreicht, und wie wir aus der
Evolutionsforschung wissen, haben solche erstarrten Typen auf Dauer
keine Chance in einer veränderlichen Welt. Ich plädiere also für große
Vielfalt in jeder denkbaren Hinsicht. Dieser Prozeß der Normalisierung
ist in beängstigender Weise in der Gesellschaft im Gange; ich sage als
Stichwort nur: Ritalin!
Was früher die schwarze Pädagogik mit der Prügelstrafe versucht und
nicht vollständig erreicht hat, das schaffen wir jetzt ganz "human" mit
medizinischen Mitteln.
Schlechte oder auch gute Witze über Buddha und alle anderen sind sicher
kein Problem.
zur Ökologie
Ich gehe ganz mit denen, die fordern, sofort alles zu unterlassen, was
an menschlichen Aktivitäten zur Erderwärmung beiträgt. Es gibt
allerdings auch da Grenzen des Möglichen; würden wir alle aufhören zu
Atmen, würde der menschliche CO2-Ausstoß erst direkt und dann indirekt
völlig aufhören, das ist aber nicht mein Ziel. Andererseits ist auch
nicht garantiert, daß die Erderwärmung ausbleiben würde, wenn wir kein
CO2 mehr ausstoßen. Man braucht sich nur mal die Klimageschichte der
Erde (soweit wir sie jetzt zu kennen glauben) ansehen, um zu erkennen
daß das Erdklima keine konstante Größe ist. Was wir im Falle einer
größeren Klimaänderung - unabhängig davon, wodurch sie zustande kommt -
denn tun wollen, um das Leiden möglichst klein zu halten, darüber denkt
kaum jemand nach. dafür sind wir doch zu sehr mit der Wertverwertung
beschäftigt.
zur toten Arbeit
Du schreibst: "Kapital ist tote Arbeit, ..." und das stimmt natürlich
irgendwie, aber tote Arbeit ist nicht umgekehrt zwangsläufig Kapital.
Ich bin mir nicht sicher, ob Dir das klar ist. Zuerst dachte ich nur,
tote Arbeit ist mehr als Kapital, dann kam mir der Gedanke, daß der Wert
und damit auch das Kapital doch abstrakte Arbeit sind, während tote
Arbeit eigentlich konkrete Arbeit ist. Die Beziehung verkompliziert sich
also. Das mag ein Hinweis darauf sein, warum ich mit Äußerungen über
Wert und Kapital bisher eher zurückhaltend bin, weil ich einige
Unklarheiten erst noch aufklären will (und das schon seit ... Jahren).
Bourdieus Begriffsschöpfung finde ich auch unangebracht, leider haben
sich selbst Autoren darauf eingelassen, die ich sonst sehr schätze, wie
etwa Charles Eisenstein, dessen Buch "Die Renaissance der Menschheit"
(im Internet verfügbar) ich hier schon zur Lektüre empfohlen habe.
Eisenstein verwendet diese Begriffe aber in gewissem Sinne wertkritisch.
nochmal zum Nirvana ...
Den Ausspruch von Huang-Bo nennst Du Bilderverbot. Mir ist klar, wie Du
das meinst, ich habe aber den Eindruck, daß es den buddhistischen Gehalt
etwas verfehlt. Ein buddhistischer Meister verbietet Dir nichts, er sagt
nur: wenn Du das und das tust, verfehlst Du das Ziel. Das ist kein
Verbot, sondern eine Empfehlung. Dann schreibst Du: "Aber auch das "Man
kann es sich nicht vorstellen" ist eine Vorstellung. Sonst wüssten wir
ja nun wirklich nicht, worüber wir reden." Genau so ist es, wenn wir
über das, was wir hier Nirvana nennen (ein Wort, welches Buddha wie ich
glaube niemals benutzt hat), dann wissen wir wirklich nicht, worüber wir
reden. Unter anderem reden Zen-Meister deshalb über alles mögliche, nur
nicht darüber. Ob wir die Vorstellungskraft zu einer Vorstellung ohne
alle Kontur haben, da bin ich mir nicht so sicher, habe eher Zweifel.
Aber wenn es stimmt, dann ist es doch nicht Nirvana. Du verwendest in
dem Zusammenhang das Wort "Fingerzeig". Da gibt es auch eine
Zen-Geschichte, die passt dazu: Ein Meister will seinem Schüler
erläutern, was er als Lehrer tut und wie der Schüler darauf reagiert. Er
sagt: Wenn ich dir am Abendhimmel den Neumond zeigen will, dann strecke
ich meinen Finger so in den Himmel. Er streckt den Arm und zeigt dem
Schüler so die Geste und fährt dann fort: Wenn du jetzt nur auf meinen
Finger schaust, hast du mich nicht verstanden.
Ich interpretiere für mich diesen Sachverhalt so, daß man durchaus
versuchen sollte, sich das Unvorstellbare vorzustellen, weil dabei eine
ganze Menge interessanter Erfindungen herauskommen können. Nur darf man
eben nicht glauben, daß man wirklich eine Vorstellung vom
Unvorstellbaren erreichen könnte. Das Adorno-Zitat, welches Du hier
bringst, ist für mich wieder so eine unklare Aussage (wobei ich durchaus
in Betracht ziehe, daß die Unklarheit vielleicht nur bei mir
stattfindet). "Bewußtsein, das zwischen sich und das, was es denkt, ein
Drittes, Bilder schöbe, ..." Im weiteren Sinne sind doch Bilder und
Gedanken dasselbe?
"ein Corpus von Vorstellungen substituierte den Gegenstand der
Erkenntnis,..." Was ist der Gegenstand der Erkenntnis, wenn es keine
Vorstellungen sind?
Ich war ja selbst 40 Jahre lang Materialist oder wollte es sein, und ich
versuche so viel wie möglich davon zu retten, was als Erkenntniswerkzeug
taugt. Aber der Glaube, daß hinter unseren Bewußtseinsinhalten
(Vorstellungen und Sinneseindrücke fasse ich da zusammen) noch irgend
etwas anderes ist, was wir "Welt" nennen mögen oder auch anders, ist für
mich völlig grundlos.
Zu Spinozas "omni determinatio est negatio" gibt es in der
buddhistischen Philosophie eine Parallele, die Apoha-Theorie, die
allerdings einige Jahrhunderte älter ist als das europäische Pendant. Da
geht es um die Zirkularität der Begriffsbestimmungen. Näheres dazu ist
z.B. bei Brodbeck zu finden, den ich immer wieder gern zur Lektüre
empfehle. Ich gehe darauf aber jetzt nicht weiter ein, weil meine Mail
jetzt auch schon erhebliche Ausmaße erreicht.
Was Du zur Ringparabel schreibst, kann ich alles ganz akzeptieren. Meine
Ansicht, in diesem Bild formuliert ist etwa so: Wenn alle drei (oder
auch mehr) Ringe echt sind, so ist die entsprechende Wirksamkeit das
Wesentliche und die Unterscheidung das Nebensächliche, das aber durchaus
sein darf und in anderer Hinsicht bereichernd sein kann.
Was Du über die Guten und die Bösen schreibst, ist wieder ganz auf
meiner Linie. Die Frage ist wohl, wie wir das Geflecht von
Determiniertheit und Freiheit entwirren und den Punkt im Geschehen
erkennen können, an dem es wirklich nur um unsere Entscheidung geht. Die
Fähigkeit oder Unfähigkeit, das im richtigen Moment zu erkennen, ist
wohl etwas, was nicht allein in unserer Macht liegt. Ich möchte es
Schicksal nennen. Und deshalb sollten wir mit unserem Urteil über andere
Menschen (aber auch über uns selbst) vorsichtig sein; das ist, denke ich
eine Form von Demut.
Was genau Römer 12, 15 ist, habe ich nicht herausgefunden. Ich wollte
aber auch meine Internet-Recherche nicht zu lang ausdehnen. Wenn es
wichtig ist, kannst Du mich bitte aufklären.
Ich denke aber, daß meine Konstitution mich auch eher auf die dunklen
Seiten dieses Daseins fokussiert und ich bewußte Anstrengungen
unternehmen muß, um das zu kompensieren oder zu korrigieren. Das Tanzen
der Verhältnisse ist wirklich eine wunderbare Metapher! Der Weg ins
Licht, der so wünschenswert ist, führt vielleicht bei dem Einen oder
Anderen mitten durch die Dunkelheit. Ich glaube, daß mein Weg aus dem
Schmerz, mit dem ich lebe, fast solange ich lebe, nur mitten durch ihn
hindurch führt. Vielleicht ist das aber auch mein größter Irrtum, aber
das kann mir niemand bisher glaubhaft machen. Den anderen Zustand, in
dem alles klar und licht und gut ist, habe ich auch schon kosten dürfen.
Normale Menschen, die mich dabei hätten beobachten können, hätten mich
vielleicht für wahnsinnig erklärt, aber ich wußte in dem Moment, daß das
andere der Wahnsinn ist und ich eine Wirklichkeit erkennen durfte, die
aus dem gewöhnlichen Alltag heraus nicht beschreibbar ist. Was aber auch
unbegreiflich ist (mir jedenfalls), daß dieser Zustand aufhören konnte.
Und es ist unmöglich, ihn zurückzuholen. Nocheinmal so Etwas kann nur
ganz neu und anders sein.
"Wenn das Licht in deiner Seele ist, mach es mit Licht. Wenn die
Düsternis in deiner Seele ist, mach es mit Düsternis. Aber folg deinem
Impuls."
Noch ein paar Aspekte, auf die ich eingehen wollte, verkneife ich mir
bis später. Ich hoffe, daß unser Dialog (zwischen Bert und mir) für die
eventuellen MitleserInnen nicht nur eine ärgerliche Abschweifung
bedeutet, sondern die eine oder andere Anregung enthält und wünsche
bezüglich der herannahenden Feiertage allen das Beste (was auch immer
das sein mag).
Jochen
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