[Debatte-Grundeinkommen] Transatlantische Besserwisser

Dr. Gero Jenner info at gerojenner.com
Do Jun 14 09:35:13 CEST 2012


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Transatlantische Besserwisser

von Gero Jenner (14. 6. 2012; Original unter: http://gerojenner.blogspot.co.at/2012/06/transatlantische-besserwisser.html#more)

Irving Fisher gehörte in den zwanziger Jahren zu den gefeierten Wirtschaftswissenschaftlern, zu vergleichen nur einem Paul Samuelson oder Joseph Stiglitz in unserer Zeit. Wie nahezu alle Wirtschaftswissenschaftler von internationalem Renommee neigte auch er dazu, sich zu irren – und zwar fundamental zu irren. Noch im Oktober 1929 beruhigte er die Investoren mit der Prophezeiung, dass ihr Geld in Wall Street absolut sicher wäre. Wenige Tage danach stürzten die Kurse ab. (1)

Mit Irving Fishers Renommee war es danach vorbei. Der Wissenschaftler selbst zog für seine Person den durchaus richtigen Schluss, dass Expertentum offenbar nicht vor Irrtümern schützt. Aus heutiger Sicht muss hinzugefügt werden, dass Experten sogar brandgefährlich sind, dann nämlich, wenn durch ihre Ratschläge überhaupt erst eine Entwicklung ermöglicht wird, die dann in die Krise führt. Fisher grübelte übrigens danach im Stillen – denn es war sehr still um ihn geworden - über das eigene Versagen nach und veröffentlichte in dieser Zeit eine höchst bemerkenswerte Schrift: The debt-deflation theory of great depressions. Sie wurde zwar kaum mehr beachtet, doch ist sie vermutlich wichtiger als alles, was er vorher geschrieben hatte.

Ferguson und Roubini im Spiegel

Angesichts der Tatsache, dass amerikanische Ökonomen – vor allem solche in führender Position – die Zukunft fast immer falsch einschätzen (2), drängt sich die Frage auf, woher die heutigen transatlantischen Experten ihr erstaunliches Selbstbewusstsein schöpfen? Da wenden sich Niall Ferguson und Nouriel Roubini in einem kürzlich veröffentlichten Spiegelartikel (2012, Nr. 24) mit einer erstaunlichen Versicherung an die Deutschen. „Der Weg, der aus dieser Krise führt, scheint klar.“ Man habe doch aus der Great Depression der dreißiger Jahre gelernt. Damals hätte Reichskanzler Brüning durch seine Spar- und restriktive Geldpolitik den wirtschaftlichen Zusammenbuch, den Aufstieg der Nazis und den darauffolgenden Krieg erst in Gang gebracht. Deutschland, das sich als europäischer Sparkommissar gebärde, würde mit seinem heutigen Kurs die Weichen in eine ähnliche Richtung stellen.

Der Weg aus der Krise „scheint klar“. Schulden wollen die transatlantischen Gurus mit weiteren Schulden bekämpfen. So der Kern ihrer Aussage.

Schon damals lag der Infektionsherd in den Vereinigten Staaten

Ihr Rückblick auf die Ereignisse vom Ende der zwanziger Jahre ist leider lückenhaft. Zunächst ist festzustellen, dass der Herd der weltweiten Infektion und der anschließenden Selbstzerfleischung Europas schon damals in den Vereinigten Staaten lag. Aufgrund von Schulden: nämlich einer gigantischen Binnenverschuldung, welche die arbeitende Bevölkerung nicht länger zu bedienen vermochte, wurden die Märkte, sprich das obere ein Prozent, plötzlich von Misstrauen gegenüber der eigenen Bevölkerung erfasst. Die reichen Vermögensbesitzer fielen in Panik, als sie plötzlich begriffen, dass ihre Kredite (unter anderem auch eine gewaltige Masse Konsumkredite) sich größtenteils in Luft auflösten. Das Ergebnis war ein Wirtschaftkollaps in Friedenszeiten und eine starke soziale Polarisierung in Bitterarm und sehr Reich. (3) Es herrschte Geldknappheit (Deflation), da die großen Gläubiger ihre Mittel nicht länger in der kollabierenden Realwirtschaft anlegen wollten. Damit der Warenverkehr überhaupt noch aufrecht blieb, wurde das ans Ausland entliehene Geld schleunig zurückgeholt. So auch die an Deutschland vergebenen Kredite.

Goldrückfluss und die Demontage der deutschen Wirtschaft

Dadurch kam es zu einem Aderlass in den deutschen Goldreserven, der nicht ohne Auswirkung auf die deutsche Währung blieb, da das Papiergeld im Verhältnis von etwa drei zu eins an Gold gebunden war. Wurde eine Werteinheit Gold abgezogen, dann bedeutete dies, dass drei Werteinheiten Papiergeld ihre Deckung einbüßten. Da man die auf Betreiben der Vereinigten Staaten 1924 neuerlich eingeführte Golddeckung der deutschen Währung nicht aufgeben wollte, mussten zwei Drittel der Geldmenge aus dem Verkehr gezogen werden, wenn sie ihre Deckung nicht einbüßen sollten. Auf diese Weise griff der Kollaps der amerikanischen Wirtschaft auch auf die deutsche über. Deutschland, das sich bereits auf dem Weg der wirtschaftlichen Erholung befand, wurde dem Diktat eisernen Sparens ausgesetzt.

Im Nachhinein wissen alle und natürlich auch die Herren Roubini und Ferguson, dass das nicht gut gehen konnte. Ihrer Meinung nach hätte Brüning auf keinen Fall sparen dürfen, sondern die Inflation in Kauf nehmen sollen. Vielleicht würden sie ihm sogar die Politik von Bernanke empfehlen, also die Notenpresse anzuwerfen, um Deutschland mit einem Regen aus Papiergeld zu versorgen.

Wissen die transatlantischen Experten wirklich, was sie da sagen?

Eine solche Politik hätte Inflation und dasselbe Misstrauen ausländischer Gläubiger in deutsche Staats- und Privatschulden bewirkt, wie es den Griechen und Spaniern heute entgegenschlägt. Hitler ließ zwar, kaum an die Macht gelangt, die Notenpresse wirklich anwerfen, und zwar zunächst mit unbestreitbarem Erfolg, aber dieser Erfolg war nur deshalb möglich, weil Deutschland sich da bereits weitgehend von den „Märkten“, sprich vom Ausland, losgelöst hatte. In einer Situation der Abhängigkeit von mächtigen Gläubigern ist das Totsparen ebenso gefährlich wie ihr Gegenteil: die Politik des lockeren Geldes. Ferguson und Roubini sehen schlicht über die Tatsache hinweg, dass für bestimmte Situationen keine konventionelle Therapie existiert. (4) Zu diesen konventionell nicht beherrschbaren Situationen gehört eine übermäßige oder auch nur gleichmäßig anwachsende Verschuldung. Deutschland hatte sich vom Wohlwollen ausländischer (damals überwiegend amerikanischer) Gläubiger abhängig gemacht.

Manchmal geht so etwas gut, aber eben nicht immer. Denn übermäßige oder auch gleichmäßig wachsende Verschuldung ist stets ein Spiel mit dem Feuer, weil die Gläubiger meist den ökonomisch und politisch tonangebenden Teil der Gesellschaft bilden und als solcher nicht mit sich spaßen lassen. (5) Die beiden amerikanischen Wirtschaftsgurus blenden aus, dass beide Maßnahmen, das Totsparen wie die Flutung mit frischem Geld, am eigentlichen Übel nichts ändern, nämlich an der Konzentration der Vermögen in wenigen Händen und einer untragbaren Schuldenlast auf den Schultern der Bevölkerungsmehrheit. Die Blindheit der beiden Experten ist umso merkwürdiger, als sie aus der eigenen Geschichte die Lösung kennen sollten. Im New Deal ist es Roosevelt unter größten Mühen gelungen, die soziale Kluft wieder einzuebnen. Der Aufschwung fand zwar nicht mehr zu seiner Regierungszeit statt, sondern erst mit Beginn des Krieges. Ohne den sozialen Reset wäre er allerdings unmöglich gewesen. Der demokratische Präsident hat die Macht der großen Vermögen gebrochen und so den Schuldendruck von der Bevölkerungsmehrheit genommen. Das hätten die beiden Experten eigentlich aus der Vorgeschichte der Great Depression lernen können.

Was haben die Experten aus ihrem eigenen Land gemacht!

Noch bessere Lehren hätte ihnen die Geschichte ihres Landes nach 1945 erteilen können. Die ökonomischen Experten – jene zumindest, die genügend Renommee erwarben, um als Regierungsberater eine Rolle zu spielen – haben es fertig gebracht, die größte Industrienation des 19. und 20. Jahrhunderts in den Niedergang zu manövrieren. An kunstvollen Floskeln, womit dieser Prozess wissenschaftlich beschönigt wurde, hat es dabei in keinem Moment gefehlt. Robert Reich sprach von einer künftigen US-Gesellschaft der „Symbolanalytiker“. Die Amerikaner würden nicht mehr mit so schmutzigen Dingen wie Maschinen hantieren, sondern nur noch mit Bits und Bytes, Hollywoodphantasien und anderen Symbolen umgehen. Die Drecksarbeit würden die anderen machen (China zum Beispiel und der Rest der weniger entwickelten Welt). Robert Reich, ein Wirtschaftsexperte und Regierungsberater, sprach damals ein Credo aus, das seine europäischen Kollegen nur zu gern übernahmen.

Die Prophezeiung sollte sich voll und ganz erfüllen - wenn auch ganz anders als Robert Reich sich vorgestellt hatte. Die Amerikaner sind auf dem Wege, nur noch Dienstleistungen zu erbringen, z.B. Flugtickets auszustellen. Die Flugzeuge selbst – ihre Boeings – werden jetzt schon in China hergestellt. Das gilt allgemein für einen wachsenden Teil der industriellen Gesamtproduktion. Es bewahrheitet sich so, was ein anderer Amerikaner – bezeichnenderweise kein Ökonom, sondern Historiker - viel besser wusste als seine Kollegen vom Fach. „Die industrielle Basis ist... entscheidend: Sie trägt praktisch alle Forschung und Entwicklung, welche von der amerikanischen Industrie bezahlt wird, und eine blühende und konkurrenzfähige industrielle Basis ist noch immer unverzichtbar für die nationale Sicherheit“ (Paul Kennedy. In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert, Frankfurt 1997; S. 380).

Die transatlantischen Experten – jedenfalls die bedeutenden Regierungsberater unter ihnen – haben diese elementare Wahrheit schlicht übersehen. Man darf es ihnen daher in aller Schärfe zum Vorwurf machen: Sie, die „Experten“, tragen die Hauptverantwortung für den Niedergang ihres Land. Dieser Niedergang spielt sich inzwischen vor den Augen der ganzen Welt und der Amerikaner ab. Den letzteren wird schmerzlich bewusst, dass sie immer weniger an ihren Symbolen verdienen, während jene, welche in Riesenschritten ihre industrielle Substanz ausbauen, zu kommenden Weltmächten aufrücken.

Der Weg in den Niedergang ist der Weg in die Abhängigkeit

Doch die transatlantischen Experten haben gleich doppelt versagt. Am „American Way of Life“ wagt nämlich niemand von ihnen zu rütteln, auch wenn er immer noch darin besteht, dass 5% der Erdbevölkerung auf 25% der Erdressourcen zugreifen. Wenn die eigene Wirtschaft nicht mehr in der Lage ist, diesen unerhörten Luxus zu finanzieren, dann wird eben nach anderen Finanzquellen gesucht. Womit wir wieder bei der Verschuldung wären! Die Neuverschuldung des amerikanischen Staates wird seit Jahren zur Hauptsache von China finanziert – oder anders gesagt: Einen Großteil der für den täglichen industriellen Bedarf aus China bezogenen Waren beschafft Amerika sich auf Kredit.

Haben die führenden US-amerikanischen Ökonomen vor dieser Abhängigkeit gewarnt? Das ist mir nicht bekannt. Ganz im Gegenteil wurde der Anschein erweckt, als wäre beiden Partnern damit auf beste Weise gedient. Die Chinesen möchten gern ihre Waren absetzen, und in Amerika liebt man eben den American Way of Life. Die Rechnung müssen ja erst Kinder und Enkel bezahlen.

Hauptsache schien dabei zu sein, dass die heute lebende Generation – jedenfalls bis zum Beginn der Krise – noch in Saus und Braus weiterprasst. 99% der Amerikaner haben sich gern der Illusion hingegeben, dass alles stimmt, weil alles so billig ist. Über das Leben auf Pump haben sie sich wenig Gedanken gemacht. Warum auch, wenn die Regierung und ihre Berater eine solche Politik ausdrücklich für richtig halten? Die wirtschaftlich mächtigsten ein Prozent des Landes, etwa 3 Millionen US-Amerikaner, aber haben diese Abhängigkeit mit Klauen und Zähnen verteidigt. Sie waren und sind die entschiedensten Verteidiger des neoliberalen Regimes. Denn sie durften ihr Geld ja nun überall dort anlegen, wo es die größte Rendite bringt – gleichgültig wie groß der Schaden für das eigene Land. Das wurde ihnen im Namen der ökonomischen Rationalität von den Experten ausdrücklich empfohlen. Heute müssen wir uns allerdings fragen: Waren diese Leute wirklich so blauäugig, sich in aller Naivität an dem schrecklichen Wort Lenins zu orientieren, wonach Kapitalisten ihren Gegnern auch noch den Strick verkaufen, an dem diese sie aufhängen werden?

Zwischen Gläubigern und Schuldnern herrscht selten Harmonie

Inzwischen lässt sich nicht mehr übersehen, dass Amerika – einst ein Vorbild an Wohlstand und demokratischer Selbstbestimmung – falsche und verantwortungslose ökonomische Ratgeber hatte. Das Verhältnis zwischen den USA und China weist gefährliche Risse und wachsende Spannungen auf. Man hätte es eigentlich wissen müssen: Schuldner und Gläubiger harmonieren selten langfristig miteinander – schon gar nicht, wenn es sich um übermäßige oder um gleichmäßig anwachsende Schulden handelt. Allein in diesem Jahr geben die USA etwa die Hälfte des deutschen Sozialprodukts, 1300 Mrd. US Dollar, mehr aus als sie an Einnahmen erwirtschaften. Das erweckt Befürchtungen bei ihren Gläubigern. China rüstet in beängstigendem Tempo auf – ganz nach dem Vorbild der aufsteigenden Industriemacht Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Und Amerika, die im Abstieg befindliche Weltmacht, reagiert ähnlich gereizt wie die damals im Abstieg befindliche Großmacht Britannien. Seit Beginn 2012 verlagert das Pentagon den Großteil seiner immer noch weltweit mächtigsten Militärmaschinerie aus Europa und den übrigen Teilen der Welt in den pazifischen Raum. Zusammen mit seinen Verbündeten (Japan, Südkorea, Philippinen, Taiwan) umzingelt es den ostasiatischen Drachen. Es ist klar, wo US-Amerika inzwischen den eigentlichen und gefährlichsten Feind lokalisiert. Da beruhigt es keinesfalls, dass die Chinesen inzwischen in den Weltraum vorstoßen, sodass die NASA die fernöstliche Konkurrenz seit neuestem zähneknirschend als gleichrangig akzeptieren muss. Bei anhaltendem Entwicklungstempo werden die Chinesen in Kürze die ersten sein.

Beschädigte Glaubwürdigkeit

Wer wird da noch die Frage nach der Glaubwürdigkeit transatlantischer Experten zurückweisen können? Haben sie den Verfall der amerikanischen Wirtschaft und die Verschärfung der Spannungen mit dem Gläubiger China vorausgesehen oder gar davor gewarnt? Das ist mir nicht bekannt.

Bekannt ist mir dagegen, dass sie gerade jetzt und im Hinblick auf andere Länder weiterhin mit dem unerschütterlichen Habitus von Gurus auftreten, die ganz genau wissen, wie alles richtig zu machen wäre: „Der Weg… aus dieser Krise… scheint klar.“ Dagegen scheint mir nur eines klar: Man ist gut beraten, ihre Ratschläge mit größter Vorsicht, wenn nicht mit Argwohn aufzunehmen. Denn es kommt ja noch anderes hinzu. Transatlantische Experten sind nicht nur am Abstieg ihres eigenen Landes schuldig, auch im Ausland haben einige von ihnen nachhaltigen Schaden angerichtet. Das sehen manche selbstkritischen Amerikaner genauso. Joseph Stiglitz, ein eher besonnener Repräsentant seiner Zunft, hat auf das Unheil hingewiesen, für welches die ökonomischen Experten des IWF in jenen Entwicklungsländern verantwortlich waren, die man leichtfertig in die Verschuldung trieb.

Jeffrey Sachs

Als besonders unselig sollte sich die Tätigkeit eines anderen transatlantischen Experten auswirken, die des einstmals hoch gerühmten Wirtschaftsgurus Jeffrey Sachs im Russland kurz nach der Wende. Ohne Rücksicht auf russische Eigenart und Mentalität hat der Wirtschaftsprofessor in den zehn Jahren nach der Wende ein Privatisierungsprogramm durchgepeitscht, das den Reichtum des Landes innerhalb kürzester Zeit in wenige (Raubtier-)Hände verteilte und den Russen als nationaler Niedergang und Demütigung bis heute in traumatischer Erinnerung ist. Da sich der Westen von der Privatisierung auch noch den Zugriff auf die russischen Ölreserven versprach, wurde das amerikanische Rezept außerdem noch als kaschierte Enteignung wahrgenommen und daher als Bedrohung der nationalen Interessen empfunden. Putin, der neue nationalistische Zar, der Russland immer stärker in eine antiwestliche Richtung treibt, war Russlands Antwort auf das unbedachte bis rücksichtslose Vorgehen eines amerikanischen Experten.

Daraus sollte man, wie ich meine, die Lehre ziehen,

dass gegenüber ökonomischen Experten, seien sie nun amerikanischer oder anderer Herkunft, Vorsicht geboten ist. Und zwar gerade, wenn sie es zu Ruhm und Ansehen bringen, denn dann treten sie in der Regel als Sprachrohr einer Regierung hervor, deren Handeln sie legitimieren sollen. Der Druck, der auf diese Weise auf der wissenschaftlichen Wahrheit lastet, ist so groß, dass von dieser Wahrheit oft nicht allzu viel übrig bleibt.

Niemand darf daraus die abwegige Folgerung ziehen, dass solche Bemerkungen sich gegen amerikanische Wissenschaftler richten. Viele der besten Bücher auch über Ökonomie kommen heute aus den Vereinigten Staaten. Nur sollte sich, wer über wirtschaftliches Handeln Bescheid wissen möchte, besser an jenen Wissenschaftlern orientieren, die eine Regierung so gut wie nie zu ihren Ratgebern macht. Unter Nicht-Ökonomen, vor allem Historikern, gibt es bewundernswerte Autoritäten, z.B. den Engländer Eric Hobsbawm, den schon genannten amerikanischen Geschichtswissenschafter Paul Kennedy oder auch den Franzosen Fernand Braudel. Auch das jüngste Buch des US-Anthropologen David Graeber erteilt bessere Aufschlüsse über das Schicksal verschuldeter Staaten als die auf den Nahhorizont fixierten Aussagen der Fachökonomen. Ein Außenseiter wie der ehemalige US-amerikanische Linguist Noam Chomsky redet über die verborgenen Motive und Interessen im Hintergrund wirtschaftlichen Handelns – ein Gegenstand, der bei professionellen Ökonomen meist völlig im Dunkeln bleibt.

Es erscheint mir wenig verwunderlich, dass Außenseiter oft so viel mehr Relevantes über Wirtschaft zu sagen wissen. Wenn sie Historiker, Anthropologen oder gar Linguisten sind, genießen sie einen bedeutenden Vorteil: Sie bewegen sich so gut wie nie im Umfeld der Macht und streben eine solche Nähe nicht einmal an. Für die Wissenschaft ist das ein Glücksfall. Denn Macht korrumpiert, ihr erstes Opfer pflegt immer die Wahrheit zu sein. (6)

1 Siehe Steve Fraser, Wall Street: A cultural History.
2 Nouriel Roubini hat die Immobilienblase richtig vorausgesehen, aber von Boom und Bust weiß man schon seit hundert Jahren.
3 Hierzu Zitate von Roosevelt und seinem Notenbankchef Marriner Eccles in: Jenner, Freihandelsdoktrin und ökonomischer Niedergang. unter:
http://gerojenner.blogspot.co.at/2012/05/freihandelsdoktrin-und-okonomischer.html
4 Ausgeführt in „Stiglitz contra Merkel“ unter: http://gerojenner.blogspot.co.at/2012/05/stiglitz-contra-merkel-profil-die-von.html.
5 Eine gleichmäßig wachsende Verschuldung setzt ewiges Wirtschaftswachstum in ausreichender Höhe voraus – eine phantastische Annahme. Dazu mein „Pyramidenspiel“.
6 Über die fortgeschrittene Verfilzung von Ökonomie und Politik vgl. Harald Schumann, Der globale Countdown. S. 121 und „Die Absahner“ von Geoffrey Geuens in Le Monde Diplomatique vom 8.6. 2012 (http://www.monde-diplomatique.de/pm/2012/06/08.mondeText.artikel,a0010.idx,0)

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