From info at gerojenner.com Thu Jun 14 09:35:13 2012 From: info at gerojenner.com (Dr. Gero Jenner) Date: Thu, 14 Jun 2012 09:35:13 +0200 Subject: [Debatte-Grundeinkommen] Transatlantische Besserwisser Message-ID: To whom it may concern Transatlantische Besserwisser von Gero Jenner (14. 6. 2012; Original unter: http://gerojenner.blogspot.co.at/2012/06/transatlantische-besserwisser.html#more) Irving Fisher gehörte in den zwanziger Jahren zu den gefeierten Wirtschaftswissenschaftlern, zu vergleichen nur einem Paul Samuelson oder Joseph Stiglitz in unserer Zeit. Wie nahezu alle Wirtschaftswissenschaftler von internationalem Renommee neigte auch er dazu, sich zu irren ? und zwar fundamental zu irren. Noch im Oktober 1929 beruhigte er die Investoren mit der Prophezeiung, dass ihr Geld in Wall Street absolut sicher wäre. Wenige Tage danach stürzten die Kurse ab. (1) Mit Irving Fishers Renommee war es danach vorbei. Der Wissenschaftler selbst zog für seine Person den durchaus richtigen Schluss, dass Expertentum offenbar nicht vor Irrtümern schützt. Aus heutiger Sicht muss hinzugefügt werden, dass Experten sogar brandgefährlich sind, dann nämlich, wenn durch ihre Ratschläge überhaupt erst eine Entwicklung ermöglicht wird, die dann in die Krise führt. Fisher grübelte übrigens danach im Stillen ? denn es war sehr still um ihn geworden - über das eigene Versagen nach und veröffentlichte in dieser Zeit eine höchst bemerkenswerte Schrift: The debt-deflation theory of great depressions. Sie wurde zwar kaum mehr beachtet, doch ist sie vermutlich wichtiger als alles, was er vorher geschrieben hatte. Ferguson und Roubini im Spiegel Angesichts der Tatsache, dass amerikanische Ökonomen ? vor allem solche in führender Position ? die Zukunft fast immer falsch einschätzen (2), drängt sich die Frage auf, woher die heutigen transatlantischen Experten ihr erstaunliches Selbstbewusstsein schöpfen? Da wenden sich Niall Ferguson und Nouriel Roubini in einem kürzlich veröffentlichten Spiegelartikel (2012, Nr. 24) mit einer erstaunlichen Versicherung an die Deutschen. ?Der Weg, der aus dieser Krise führt, scheint klar.? Man habe doch aus der Great Depression der dreißiger Jahre gelernt. Damals hätte Reichskanzler Brüning durch seine Spar- und restriktive Geldpolitik den wirtschaftlichen Zusammenbuch, den Aufstieg der Nazis und den darauffolgenden Krieg erst in Gang gebracht. Deutschland, das sich als europäischer Sparkommissar gebärde, würde mit seinem heutigen Kurs die Weichen in eine ähnliche Richtung stellen. Der Weg aus der Krise ?scheint klar?. Schulden wollen die transatlantischen Gurus mit weiteren Schulden bekämpfen. So der Kern ihrer Aussage. Schon damals lag der Infektionsherd in den Vereinigten Staaten Ihr Rückblick auf die Ereignisse vom Ende der zwanziger Jahre ist leider lückenhaft. Zunächst ist festzustellen, dass der Herd der weltweiten Infektion und der anschließenden Selbstzerfleischung Europas schon damals in den Vereinigten Staaten lag. Aufgrund von Schulden: nämlich einer gigantischen Binnenverschuldung, welche die arbeitende Bevölkerung nicht länger zu bedienen vermochte, wurden die Märkte, sprich das obere ein Prozent, plötzlich von Misstrauen gegenüber der eigenen Bevölkerung erfasst. Die reichen Vermögensbesitzer fielen in Panik, als sie plötzlich begriffen, dass ihre Kredite (unter anderem auch eine gewaltige Masse Konsumkredite) sich größtenteils in Luft auflösten. Das Ergebnis war ein Wirtschaftkollaps in Friedenszeiten und eine starke soziale Polarisierung in Bitterarm und sehr Reich. (3) Es herrschte Geldknappheit (Deflation), da die großen Gläubiger ihre Mittel nicht länger in der kollabierenden Realwirtschaft anlegen wollten. Damit der Warenverkehr überhaupt noch aufrecht blieb, wurde das ans Ausland entliehene Geld schleunig zurückgeholt. So auch die an Deutschland vergebenen Kredite. Goldrückfluss und die Demontage der deutschen Wirtschaft Dadurch kam es zu einem Aderlass in den deutschen Goldreserven, der nicht ohne Auswirkung auf die deutsche Währung blieb, da das Papiergeld im Verhältnis von etwa drei zu eins an Gold gebunden war. Wurde eine Werteinheit Gold abgezogen, dann bedeutete dies, dass drei Werteinheiten Papiergeld ihre Deckung einbüßten. Da man die auf Betreiben der Vereinigten Staaten 1924 neuerlich eingeführte Golddeckung der deutschen Währung nicht aufgeben wollte, mussten zwei Drittel der Geldmenge aus dem Verkehr gezogen werden, wenn sie ihre Deckung nicht einbüßen sollten. Auf diese Weise griff der Kollaps der amerikanischen Wirtschaft auch auf die deutsche über. Deutschland, das sich bereits auf dem Weg der wirtschaftlichen Erholung befand, wurde dem Diktat eisernen Sparens ausgesetzt. Im Nachhinein wissen alle und natürlich auch die Herren Roubini und Ferguson, dass das nicht gut gehen konnte. Ihrer Meinung nach hätte Brüning auf keinen Fall sparen dürfen, sondern die Inflation in Kauf nehmen sollen. Vielleicht würden sie ihm sogar die Politik von Bernanke empfehlen, also die Notenpresse anzuwerfen, um Deutschland mit einem Regen aus Papiergeld zu versorgen. Wissen die transatlantischen Experten wirklich, was sie da sagen? Eine solche Politik hätte Inflation und dasselbe Misstrauen ausländischer Gläubiger in deutsche Staats- und Privatschulden bewirkt, wie es den Griechen und Spaniern heute entgegenschlägt. Hitler ließ zwar, kaum an die Macht gelangt, die Notenpresse wirklich anwerfen, und zwar zunächst mit unbestreitbarem Erfolg, aber dieser Erfolg war nur deshalb möglich, weil Deutschland sich da bereits weitgehend von den ?Märkten?, sprich vom Ausland, losgelöst hatte. In einer Situation der Abhängigkeit von mächtigen Gläubigern ist das Totsparen ebenso gefährlich wie ihr Gegenteil: die Politik des lockeren Geldes. Ferguson und Roubini sehen schlicht über die Tatsache hinweg, dass für bestimmte Situationen keine konventionelle Therapie existiert. (4) Zu diesen konventionell nicht beherrschbaren Situationen gehört eine übermäßige oder auch nur gleichmäßig anwachsende Verschuldung. Deutschland hatte sich vom Wohlwollen ausländischer (damals überwiegend amerikanischer) Gläubiger abhängig gemacht. Manchmal geht so etwas gut, aber eben nicht immer. Denn übermäßige oder auch gleichmäßig wachsende Verschuldung ist stets ein Spiel mit dem Feuer, weil die Gläubiger meist den ökonomisch und politisch tonangebenden Teil der Gesellschaft bilden und als solcher nicht mit sich spaßen lassen. (5) Die beiden amerikanischen Wirtschaftsgurus blenden aus, dass beide Maßnahmen, das Totsparen wie die Flutung mit frischem Geld, am eigentlichen Übel nichts ändern, nämlich an der Konzentration der Vermögen in wenigen Händen und einer untragbaren Schuldenlast auf den Schultern der Bevölkerungsmehrheit. Die Blindheit der beiden Experten ist umso merkwürdiger, als sie aus der eigenen Geschichte die Lösung kennen sollten. Im New Deal ist es Roosevelt unter größten Mühen gelungen, die soziale Kluft wieder einzuebnen. Der Aufschwung fand zwar nicht mehr zu seiner Regierungszeit statt, sondern erst mit Beginn des Krieges. Ohne den sozialen Reset wäre er allerdings unmöglich gewesen. Der demokratische Präsident hat die Macht der großen Vermögen gebrochen und so den Schuldendruck von der Bevölkerungsmehrheit genommen. Das hätten die beiden Experten eigentlich aus der Vorgeschichte der Great Depression lernen können. Was haben die Experten aus ihrem eigenen Land gemacht! Noch bessere Lehren hätte ihnen die Geschichte ihres Landes nach 1945 erteilen können. Die ökonomischen Experten ? jene zumindest, die genügend Renommee erwarben, um als Regierungsberater eine Rolle zu spielen ? haben es fertig gebracht, die größte Industrienation des 19. und 20. Jahrhunderts in den Niedergang zu manövrieren. An kunstvollen Floskeln, womit dieser Prozess wissenschaftlich beschönigt wurde, hat es dabei in keinem Moment gefehlt. Robert Reich sprach von einer künftigen US-Gesellschaft der ?Symbolanalytiker?. Die Amerikaner würden nicht mehr mit so schmutzigen Dingen wie Maschinen hantieren, sondern nur noch mit Bits und Bytes, Hollywoodphantasien und anderen Symbolen umgehen. Die Drecksarbeit würden die anderen machen (China zum Beispiel und der Rest der weniger entwickelten Welt). Robert Reich, ein Wirtschaftsexperte und Regierungsberater, sprach damals ein Credo aus, das seine europäischen Kollegen nur zu gern übernahmen. Die Prophezeiung sollte sich voll und ganz erfüllen - wenn auch ganz anders als Robert Reich sich vorgestellt hatte. Die Amerikaner sind auf dem Wege, nur noch Dienstleistungen zu erbringen, z.B. Flugtickets auszustellen. Die Flugzeuge selbst ? ihre Boeings ? werden jetzt schon in China hergestellt. Das gilt allgemein für einen wachsenden Teil der industriellen Gesamtproduktion. Es bewahrheitet sich so, was ein anderer Amerikaner ? bezeichnenderweise kein Ökonom, sondern Historiker - viel besser wusste als seine Kollegen vom Fach. ?Die industrielle Basis ist... entscheidend: Sie trägt praktisch alle Forschung und Entwicklung, welche von der amerikanischen Industrie bezahlt wird, und eine blühende und konkurrenzfähige industrielle Basis ist noch immer unverzichtbar für die nationale Sicherheit? (Paul Kennedy. In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert, Frankfurt 1997; S. 380). Die transatlantischen Experten ? jedenfalls die bedeutenden Regierungsberater unter ihnen ? haben diese elementare Wahrheit schlicht übersehen. Man darf es ihnen daher in aller Schärfe zum Vorwurf machen: Sie, die ?Experten?, tragen die Hauptverantwortung für den Niedergang ihres Land. Dieser Niedergang spielt sich inzwischen vor den Augen der ganzen Welt und der Amerikaner ab. Den letzteren wird schmerzlich bewusst, dass sie immer weniger an ihren Symbolen verdienen, während jene, welche in Riesenschritten ihre industrielle Substanz ausbauen, zu kommenden Weltmächten aufrücken. Der Weg in den Niedergang ist der Weg in die Abhängigkeit Doch die transatlantischen Experten haben gleich doppelt versagt. Am ?American Way of Life? wagt nämlich niemand von ihnen zu rütteln, auch wenn er immer noch darin besteht, dass 5% der Erdbevölkerung auf 25% der Erdressourcen zugreifen. Wenn die eigene Wirtschaft nicht mehr in der Lage ist, diesen unerhörten Luxus zu finanzieren, dann wird eben nach anderen Finanzquellen gesucht. Womit wir wieder bei der Verschuldung wären! Die Neuverschuldung des amerikanischen Staates wird seit Jahren zur Hauptsache von China finanziert ? oder anders gesagt: Einen Großteil der für den täglichen industriellen Bedarf aus China bezogenen Waren beschafft Amerika sich auf Kredit. Haben die führenden US-amerikanischen Ökonomen vor dieser Abhängigkeit gewarnt? Das ist mir nicht bekannt. Ganz im Gegenteil wurde der Anschein erweckt, als wäre beiden Partnern damit auf beste Weise gedient. Die Chinesen möchten gern ihre Waren absetzen, und in Amerika liebt man eben den American Way of Life. Die Rechnung müssen ja erst Kinder und Enkel bezahlen. Hauptsache schien dabei zu sein, dass die heute lebende Generation ? jedenfalls bis zum Beginn der Krise ? noch in Saus und Braus weiterprasst. 99% der Amerikaner haben sich gern der Illusion hingegeben, dass alles stimmt, weil alles so billig ist. Über das Leben auf Pump haben sie sich wenig Gedanken gemacht. Warum auch, wenn die Regierung und ihre Berater eine solche Politik ausdrücklich für richtig halten? Die wirtschaftlich mächtigsten ein Prozent des Landes, etwa 3 Millionen US-Amerikaner, aber haben diese Abhängigkeit mit Klauen und Zähnen verteidigt. Sie waren und sind die entschiedensten Verteidiger des neoliberalen Regimes. Denn sie durften ihr Geld ja nun überall dort anlegen, wo es die größte Rendite bringt ? gleichgültig wie groß der Schaden für das eigene Land. Das wurde ihnen im Namen der ökonomischen Rationalität von den Experten ausdrücklich empfohlen. Heute müssen wir uns allerdings fragen: Waren diese Leute wirklich so blauäugig, sich in aller Naivität an dem schrecklichen Wort Lenins zu orientieren, wonach Kapitalisten ihren Gegnern auch noch den Strick verkaufen, an dem diese sie aufhängen werden? Zwischen Gläubigern und Schuldnern herrscht selten Harmonie Inzwischen lässt sich nicht mehr übersehen, dass Amerika ? einst ein Vorbild an Wohlstand und demokratischer Selbstbestimmung ? falsche und verantwortungslose ökonomische Ratgeber hatte. Das Verhältnis zwischen den USA und China weist gefährliche Risse und wachsende Spannungen auf. Man hätte es eigentlich wissen müssen: Schuldner und Gläubiger harmonieren selten langfristig miteinander ? schon gar nicht, wenn es sich um übermäßige oder um gleichmäßig anwachsende Schulden handelt. Allein in diesem Jahr geben die USA etwa die Hälfte des deutschen Sozialprodukts, 1300 Mrd. US Dollar, mehr aus als sie an Einnahmen erwirtschaften. Das erweckt Befürchtungen bei ihren Gläubigern. China rüstet in beängstigendem Tempo auf ? ganz nach dem Vorbild der aufsteigenden Industriemacht Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Und Amerika, die im Abstieg befindliche Weltmacht, reagiert ähnlich gereizt wie die damals im Abstieg befindliche Großmacht Britannien. Seit Beginn 2012 verlagert das Pentagon den Großteil seiner immer noch weltweit mächtigsten Militärmaschinerie aus Europa und den übrigen Teilen der Welt in den pazifischen Raum. Zusammen mit seinen Verbündeten (Japan, Südkorea, Philippinen, Taiwan) umzingelt es den ostasiatischen Drachen. Es ist klar, wo US-Amerika inzwischen den eigentlichen und gefährlichsten Feind lokalisiert. Da beruhigt es keinesfalls, dass die Chinesen inzwischen in den Weltraum vorstoßen, sodass die NASA die fernöstliche Konkurrenz seit neuestem zähneknirschend als gleichrangig akzeptieren muss. Bei anhaltendem Entwicklungstempo werden die Chinesen in Kürze die ersten sein. Beschädigte Glaubwürdigkeit Wer wird da noch die Frage nach der Glaubwürdigkeit transatlantischer Experten zurückweisen können? Haben sie den Verfall der amerikanischen Wirtschaft und die Verschärfung der Spannungen mit dem Gläubiger China vorausgesehen oder gar davor gewarnt? Das ist mir nicht bekannt. Bekannt ist mir dagegen, dass sie gerade jetzt und im Hinblick auf andere Länder weiterhin mit dem unerschütterlichen Habitus von Gurus auftreten, die ganz genau wissen, wie alles richtig zu machen wäre: ?Der Weg? aus dieser Krise? scheint klar.? Dagegen scheint mir nur eines klar: Man ist gut beraten, ihre Ratschläge mit größter Vorsicht, wenn nicht mit Argwohn aufzunehmen. Denn es kommt ja noch anderes hinzu. Transatlantische Experten sind nicht nur am Abstieg ihres eigenen Landes schuldig, auch im Ausland haben einige von ihnen nachhaltigen Schaden angerichtet. Das sehen manche selbstkritischen Amerikaner genauso. Joseph Stiglitz, ein eher besonnener Repräsentant seiner Zunft, hat auf das Unheil hingewiesen, für welches die ökonomischen Experten des IWF in jenen Entwicklungsländern verantwortlich waren, die man leichtfertig in die Verschuldung trieb. Jeffrey Sachs Als besonders unselig sollte sich die Tätigkeit eines anderen transatlantischen Experten auswirken, die des einstmals hoch gerühmten Wirtschaftsgurus Jeffrey Sachs im Russland kurz nach der Wende. Ohne Rücksicht auf russische Eigenart und Mentalität hat der Wirtschaftsprofessor in den zehn Jahren nach der Wende ein Privatisierungsprogramm durchgepeitscht, das den Reichtum des Landes innerhalb kürzester Zeit in wenige (Raubtier-)Hände verteilte und den Russen als nationaler Niedergang und Demütigung bis heute in traumatischer Erinnerung ist. Da sich der Westen von der Privatisierung auch noch den Zugriff auf die russischen Ölreserven versprach, wurde das amerikanische Rezept außerdem noch als kaschierte Enteignung wahrgenommen und daher als Bedrohung der nationalen Interessen empfunden. Putin, der neue nationalistische Zar, der Russland immer stärker in eine antiwestliche Richtung treibt, war Russlands Antwort auf das unbedachte bis rücksichtslose Vorgehen eines amerikanischen Experten. Daraus sollte man, wie ich meine, die Lehre ziehen, dass gegenüber ökonomischen Experten, seien sie nun amerikanischer oder anderer Herkunft, Vorsicht geboten ist. Und zwar gerade, wenn sie es zu Ruhm und Ansehen bringen, denn dann treten sie in der Regel als Sprachrohr einer Regierung hervor, deren Handeln sie legitimieren sollen. Der Druck, der auf diese Weise auf der wissenschaftlichen Wahrheit lastet, ist so groß, dass von dieser Wahrheit oft nicht allzu viel übrig bleibt. Niemand darf daraus die abwegige Folgerung ziehen, dass solche Bemerkungen sich gegen amerikanische Wissenschaftler richten. Viele der besten Bücher auch über Ökonomie kommen heute aus den Vereinigten Staaten. Nur sollte sich, wer über wirtschaftliches Handeln Bescheid wissen möchte, besser an jenen Wissenschaftlern orientieren, die eine Regierung so gut wie nie zu ihren Ratgebern macht. Unter Nicht-Ökonomen, vor allem Historikern, gibt es bewundernswerte Autoritäten, z.B. den Engländer Eric Hobsbawm, den schon genannten amerikanischen Geschichtswissenschafter Paul Kennedy oder auch den Franzosen Fernand Braudel. Auch das jüngste Buch des US-Anthropologen David Graeber erteilt bessere Aufschlüsse über das Schicksal verschuldeter Staaten als die auf den Nahhorizont fixierten Aussagen der Fachökonomen. Ein Außenseiter wie der ehemalige US-amerikanische Linguist Noam Chomsky redet über die verborgenen Motive und Interessen im Hintergrund wirtschaftlichen Handelns ? ein Gegenstand, der bei professionellen Ökonomen meist völlig im Dunkeln bleibt. Es erscheint mir wenig verwunderlich, dass Außenseiter oft so viel mehr Relevantes über Wirtschaft zu sagen wissen. Wenn sie Historiker, Anthropologen oder gar Linguisten sind, genießen sie einen bedeutenden Vorteil: Sie bewegen sich so gut wie nie im Umfeld der Macht und streben eine solche Nähe nicht einmal an. Für die Wissenschaft ist das ein Glücksfall. Denn Macht korrumpiert, ihr erstes Opfer pflegt immer die Wahrheit zu sein. (6) 1 Siehe Steve Fraser, Wall Street: A cultural History. 2 Nouriel Roubini hat die Immobilienblase richtig vorausgesehen, aber von Boom und Bust weiß man schon seit hundert Jahren. 3 Hierzu Zitate von Roosevelt und seinem Notenbankchef Marriner Eccles in: Jenner, Freihandelsdoktrin und ökonomischer Niedergang. unter: http://gerojenner.blogspot.co.at/2012/05/freihandelsdoktrin-und-okonomischer.html 4 Ausgeführt in ?Stiglitz contra Merkel? unter: http://gerojenner.blogspot.co.at/2012/05/stiglitz-contra-merkel-profil-die-von.html. 5 Eine gleichmäßig wachsende Verschuldung setzt ewiges Wirtschaftswachstum in ausreichender Höhe voraus ? eine phantastische Annahme. Dazu mein ?Pyramidenspiel?. 6 Über die fortgeschrittene Verfilzung von Ökonomie und Politik vgl. Harald Schumann, Der globale Countdown. S. 121 und ?Die Absahner? von Geoffrey Geuens in Le Monde Diplomatique vom 8.6. 2012 (http://www.monde-diplomatique.de/pm/2012/06/08.mondeText.artikel,a0010.idx,0) -------------- nächster Teil -------------- Ein Dateianhang mit HTML-Daten wurde abgetrennt... URL: From info at gerojenner.com Thu Jun 21 11:27:27 2012 From: info at gerojenner.com (Dr. Gero Jenner) Date: Thu, 21 Jun 2012 11:27:27 +0200 Subject: [Debatte-Grundeinkommen] Der Teufelspakt Message-ID: <45D772E9-01FD-4491-89F3-E9519765C3AF@gerojenner.com> To whom it may concern! Fiskalpakt ? oder wie man einen Pakt mit dem Teufel schließt von Gero Jenner (22.6.2012; Original unter: http://gerojenner.blogspot.co.at/2012/06/fiskalpakt-oder-wie-man-den-pakt-mit.html) Der Euroraum ringt ums Überleben. Das ist deutlich an den inzwischen weit weniger selbstbewussten, weit weniger apodiktischen Verlautbarungen führender Vertreter aus Politik und Wirtschaft abzulesen. Auf dem Gipfel in Los Cabos hat José Manuel Barroso sogar die Contenance verloren! ?Der Euro sei nicht in Gefahr!? Wie oft hat Innenminister Schäuble, wie oft haben die Gurus aus Politik, Wirtschaft und Finanz mit diesen Worten unerschütterliche Gewissheit vorgetäuscht. Doch pure Angst hat sich mittlerweile bis in die Europäische Kommission und ins Parlament durchgefressen. Wenn der Euro zerfällt, wird nicht nur die Europäische Idee beschädigt - der babylonische Turm der Brüsseler Eurokratie gerät ins Wanken und - nicht zu vergessen - mit ihm auch Tausende üppig dotierter Posten. Die Wahl zwischen Teufel und Beelzebub Aber es steht noch weit mehr auf dem Spiel. So teuer die Rettung des Euro kommt, so teuer ist auch der Abschied von ihm. In beiden Fällen wird Deutschland Zahlmeister sein, denn eine Rückkehr zur DM lässt deren Kurs so sehr in die Höhe schnellen, dass ein guter Teil der deutschen Exporte zunächst einmal unverkäuflich wird. So rächt sich nach Jahren der Euphorie ein elementarer ökonomischer Fehler. Mit der Einführung des Euro haben Deutschland und Frankreich eine Maßnahme gegen die wirtschaftliche Vernunft und Erfahrung gesetzt. Jetzt bekommt vor allem Deutschland die Rechnung präsentiert, die sich bei einem Austritt bis auf 1,5 Billionen Euro belaufen könnte ? nahezu die Hälfte des deutschen BIP. Uns bleibt nur die Wahl zwischen Teufel und Beelzebub. Auf dem Weg zum Europäischen Bundesstaat? Das Pferd wurde vom Schwanz her aufgezäumt: Erst die gemeinsame Währung, dann ein gemeinsamer Staat - so die Idee, die Helmut Kohl auch ausdrücklich formulierte. Leider hält die Geschichte eine eindeutige Lehre bereit: Die umgekehrte Reihenfolge hat noch nie funktioniert. Allerdings ist Geschichte nur Lehrmeister, kein unwiderrufliches Schicksal. Theoretisch könnte das Projekt immer noch funktionieren, wenn man im Eiltempo den europäischen Flickenteppich zu einem gemeinsamen Bundesstaat transformiert. ?Wir brauchen vor allen Dingen auch eine politische Union. Das heißt wir müssen Schritt für Schritt auch Kompetenzen an Europa abgeben?, ließ Angela Merkel vor kurzem verlauten. Der Fiskalpakt, den vier Spitzenpolitiker der Union (Barroso, van Rompuy, Draghi und Juncker) jetzt planen, soll genau dies bewirken: die Verschmelzung souveräner Staaten zu einem durch gemeinsame politische Institutionen vereinten Bundesstaat. Sollte dieser Versuch tatsächlich gelingen, dann hätte man nachträglich auch die Voraussetzungen für eine gemeinsame Währung geschaffen. Denn eines bleibt ja unbestritten. Eine gemeinsame Währung stellt den ökonomisch logischen und sinnvollen Abschluss der politischen Vereinigung dar. Der Fiskalpakt: wieder eine unausgegorene Idee aus Brüssel Nach dem Entwurf der Brüsseler Vier sollen die Mitgliedsstaaten künftig nur noch über eigene Einnahmen frei verfügen. Neuverschuldung, also alles, was sie über die eigenen Einnahmen hinaus für ihren Haushalt anfordern, muss von einem Gremium aus Euro-Finanzministern bewilligt werden, und wird dann in Form von gemeinsamen Euro-Anleihen gewährt. Selbst ein Laie kann einen solchen Vorschlag nur mit Kopfschütteln quittieren, denn seine Folgen sind auf den ersten Blick absehbar. Die Majorität der wirtschaftlich schwachen Staaten wird die Minorität der starken im Gremium überstimmen. Das wäre natürlich auch dann der Fall, wenn nicht Finanzminister, sondern das Europäische Parlament auf demokratische Art zu entscheiden hätte. Denn natürlich werden die Staaten des Südens nicht gegen ihre eigenen Interessen votieren. Zu zahlen hat dafür der stimmenmäßig schwächere Norden, da er die Anleihen garantiert. Dagegen ist nichts einzuwenden, sofern die wirtschaftliche Vernunft auf Seiten der Mehrheit wäre. Doch gerade das ist nicht der Fall. Wird dieser Vorschlag umgesetzt, so hat man ein wirksames Instrument geschaffen, um jeden Anreiz für ein ausgeglichenes Budget ein für alle Mal zu beseitigen. Im Süden würde ein Mezzogiorno entstehen, der von Griechenland bis nach Portugal reicht und sehr bald auch die gesunde Wirtschaft des Nordens zerfrisst. Den Süden macht ein solcher Pakt langfristig nicht stärker, während er den Norden zerstört. Warum lernt Brüssel nicht aus der Geschichte? Warum blickt man nicht auf gelungene Beispiele einer zugleich politischen wie ökonomischen Vereinigung? Sowohl die Schweiz wie auch Nordamerika haben sich nie zu Haftungsgemeinschaften für die sie konstituierenden Bundesstaaten gemacht. Nach dem Unabhängigkeitskrieg haben die wirtschaftlich starken US-amerikanischen Bundesländer auf Initiative des damaligen Finanzministers Hamilton (1755 - 1804) in einem einmaligen Akt die Schuldenlast der schwachen Mitglieder übernommen. Danach musste jeder Bundesstaat in eigener Verantwortung für einen ausgeglichenen Haushalt sorgen. Geht man von diesen beiden historischen Vorbildern aus, dann stellt sich der vorgeschlagene Fiskalpakt als ein unausgegorenes Gedankenprodukt Brüsseler Bürokraten dar ? was er auch dann noch bleibt, wenn man seine Version light, die Eurobill-Variante, ins Auge fasst. Eine erfolgreiche politische Vereinigung Europas kann nicht in bloßen Transfers bestehen, denen langfristig kein absehbarer Nutzen entspricht. Transfers nur bei verfassungsmäßig garantiertem Mitspracherecht! Natürlich kann es sinnvoll und manchmal sogar notwendig sein, dass Mitgliedsstaaten sich verschulden. Doch in diesem Fall müssen die Geber ein in der Verfassung festgeschriebenes Mitsprache- und Vetorecht bei der Verwendung der von ihnen gewährten Mittel erhalten, andernfalls wird nur die bisherige Praxis fortgesetzt, dass ein Großteil der Schulden in Wahlgeschenken versickert. Wer Geld bereitstellt, muss auch kontrollieren können, was damit geschieht. Bloßes Verschenken ist in Notsituationen geboten, sonst aber schädlich, weil man damit keine Hilfe zur Selbsthilfe bietet, sondern finanziell verantwortungsloses Gebaren geradezu honoriert (moral hazard). Warum soll der Süden sich überhaupt bei den Ländern des Nordens verschulden? Mitsprache- und Vetorechte implizieren Kontrolle. Damit aber kommen wir zu einem zentralen Problem der Europäischen Union in Zeiten der Globalisierung. Warum sollen sich Spanier oder Griechen, falls die Not sie noch ärmer macht, überhaupt bei Ländern der Europäischen Union verschulden? Warum nicht z.B. bei China, wenn diesem im Gegenzug die Gründung von Hafenanlagen und Niederlassungen gestattet wird, womit es einen noch besseren Zugang zum europäischen Markt erhält? In diesem Sinne nutzt China schon jetzt die Schwäche und den Zerfall Europas für eigene Zwecke. Eine weitere Frage drängt sich deshalb auf: Warum soll der Süden gerade von den Ländern des Nordens seine Produkte beziehen? Das ist alles andere als eine bloß rhetorische Frage. In den Vereinigten Staaten stand sie während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Vordergrund. Die Südstaaten hatten sich damals ökonomisch immer mehr aus der Union ausgeklinkt. An den ursprünglich gemeinsamen Feind England verkauften sie Baumwolle und bezogen statt der im Norden produzierten Industrieprodukte die entsprechenden Güter aus England. Diese Spaltung bedeutete einen ökonomischen Aderlass für den Norden, der sie aus diesem Grund auch nicht hinnehmen wollte. Die Aufkündigung der Solidarität durch den Süden führte zum blutigsten Krieg des 19. Jahrhunderts, zum amerikanischen Sezessionskrieg (1861 - 1865). Das edle Motiv der Befreiung der schwarzen Bevölkerung wurde nur deswegen in den Vordergrund gerückt, weil handfeste ökonomische Motive weniger Idealismus erwecken. Deutschlands Absatz innerhalb der EU ist keinesfalls gesichert Wer kann verhindern, dass eine zunehmend verschuldete und verarmte südliche Peripherie einen ähnlichen Weg beschreitet und statt deutscher Industrieprodukte solche aus dem fernen Osten bezieht, die qualitativ immer weniger Unterschiede aufweisen, aber teilweise wesentlich billiger sind? Die vorherrschende neoliberale Wirtschaftsdoktrin würde dazu begeistert Beifall klatschen, wie sie auch damals das Vorgehen der Südstaaten als wirtschaftlich rational billigen musste. Sie geht von dem Dogma aus, dass der private Käufer in jedem Fall König ist, auch wenn er dem eigenen Land ? in diesem Fall der Union - dabei schadet. Die Vereinigten Staaten haben diese für ihren Bestand zerstörerische Freiheit nicht akzeptiert und das Problem durch den Krieg entschieden. Gewalt ? das uralte historische Instrument, um Staaten zu größeren Einheiten zu verschweißen ? wurde zum gleichen Zweck auch von Napoleon und Hitler angewendet. Wie wir wissen mit Hekatomben nutzlos geopferter Toter. Eine solche Politik der Gewalt kommt im heutigen Europa nicht länger in Frage. Die Alternative: ein elementares Interesse Doch wenn Europa den amerikanischem Weg der Gewalt nicht gehen kann, wie können wir dann verhindern, dass ein in die Not getriebener und vom Norden im Stich gelassener Süden die deutsche Wirtschaft schlicht boykottiert, in Asien einkauft und mehr als die Hälfte des deutschen Exports in der Union keinen Absatz mehr findet? Man glaube nicht, dass eine solche Drohung rein theoretisch sei. Sie ergibt sich vielmehr aus der Logik der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Vor kurzem hat man sie auch ausdrücklich aus dem Mund eines Franzosen gehört. (1) Ich sehe nur eine einzige Alternative, um dieses Szenarium abzuwenden. Die Staaten der EU ? alle Mitgliedsländer - müssen ein elementares Interesse daran besitzen, dass es nicht dazu kommt. Den Staaten des Südens muss der Handel mit dem Norden so großen Vorteil verschaffen, dass sie jede andere Lösung verschmähen! Mehr symbolische Kompetenz für Brüssel? Ein erster Schritt auf diesem Weg scheint eine Steuer zu sein, welche die Brüsseler Zentrale entsprechend der Wirtschaftsleistung der einzelnen Mitgliedsstaaten erhebt und über die sie frei verfügen darf. Da eine Brüsseler Bundesregierung vom Europäischen Parlament eingesetzt und das Parlament von der Gesamtheit der Bürger Europas gewählt werden würde ? ich nehme hier einmal die künftige Entwicklung vorweg ? wird sie diese Mittel so verwenden, dass sie nicht einseitig bestimmte Bevölkerungsschichten oder geographische Teile der Union vor anderen bevorzugt. Doch eine solche Steuerhoheit hätte, selbst wenn sie zehn oder mehr Prozent aller Steuereinnahmen umfasst, nur symbolischen Charakter. Gegen den ökonomischen (und damit auch politischen) Zerfall der Union bliebe sie wirkungslos. Diese Maßnahme allein schafft kein elementares Interesse der ärmeren Mitgliedsstaaten an einer Fortsetzung des Handels mit dem Norden. Sie schafft kein elementares Interesse am Fortbestand der Union. Im Gegenteil könnte sie sogar dazu führen, den Unmut noch weiter zu schüren, da sich die zentrale Bürokratie noch stärker aufblähen würde und noch mehr Gelder in dunklen Kanälen verschwinden. I. Der Handelspakt Wieder sollten wir einen Blick auf den Einigungsprozess der Vereinigten Staaten werfen. Das elementare Interesse der Länder Europas an dem Fortbestand der Union wird erst dadurch geweckt und aufrecht erhalten, dass die innerhalb ihrer Grenzen produzierten Waren den Vorrang gegenüber allen ausländischen Waren besitzen ? genau das hat der amerikanische Bürgerkrieg damals gewaltsam erzwungen. Wenn griechische, italienische, spanische und portugiesische Produkte nur gegeneinander aber nicht gegen die Produkte vom Rest der Welt konkurrieren, erzielen sie schlagartig bessere Preise. Die Staatseinkünfte südlicher Länder werden dadurch vermehrt. Es steht Geld für die Förderung der Industrien, des Bildungswesens etc. zur Verfügung. Der Norden bezahlt zwar höhere Preise, aber er kann sich seinerseits darauf verlassen, dass die eigenen Produkte stets Vorrang gegenüber ausländischen genießen. Damit ist nicht weniger als zwei Dritteln des deutschen Exports ? das entspricht der deutschen Ausfuhr in die Staaten der Union ? ein sicherer Absatz garantiert. Außerdem kommt es durch den Handelspakt zu einer Angleichung des Lebensstandards innerhalb der Union. War dies nicht das Versprechen, womit man die Union und ihre Erweiterung stets begründet hatte? Und droht die Union nicht darum zu scheitern, weil dieses Versprechen auf eklatante Weise gebrochen wird? Was die Länder des Südens heute erleben, ist das genaue Gegenteil. Sie durchlaufen einen Prozess fortschreitender Verarmung. Deutschlands Interesse liegen in Europa, nicht in Asien Ein Handelspakt wäre der erste und wichtigste Schritt auf dem Weg zu einer politischen Vereinigung, so wie die amerikanische sie vorgezeichnet hat. Seine Vorteile sind auch für die Länder des Nordens nicht von der Hand zu weisen, denn im ?Race to the bottom? mit den asiatischen Billiganbietern ist es mit einer einzigen Agenda 2010 nicht getan. Weitere Agenden werden folgen, um die Produktionskosten des Standorts Deutschlands auch dann noch konkurrenzfähig zu halten, wenn die Asiaten auf noch mehr Sektoren technologisch aufgeholt haben. Dieses Spiel mit den Billiganbietern ist auch von Deutschland nicht dauerhaft durchzuhalten, geschweige denn zu gewinnen. Deutschland sollte sich rechtzeitig darauf besinnen, dass seine eigentlichen und dauerhaften Interessen nicht in Asien liegen. Sie liegen in Europa. Der von der Kommission vorgeschlagene Fiskalpakt trägt nichts zur politischen Vereinigung bei. Im Gegenteil, er schafft so große Ungleichgewichte, dass er zerstörerisch wirkt. Es ist ein Pakt mit dem Teufel. Ein Handelspakt, der alle Mitgliedsländer verpflichtet, ihre Einfuhren vorrangig in Europa zu decken, stellt dagegen ein elementares Interesse her und schafft damit eine tragfähige Basis für die Union. Die europäischen Söldner der Rating-Agenturen Ein solcher Pakt, der von einem gemeinsamen europäischen Handelsministerium überwacht werden müsste, ist für sich allein jedoch ungenügend. Solange in Europa erwirtschaftetes Geld sich außerhalb Europas nach Belieben jene Zielorte suchen darf, wo ihm die größten Renditen winken, ist dem Diktat der Finanzmärkte nicht zu entkommen. Rating-Agenturen entscheiden souverän über Wohl und Wehe der Mitgliedsstaaten. Erbarmungslos wird die Union von außen zerrissen, wenn das den finanziellen Interessen ihrer Akteure entspricht ? und wäre es nur, weil diese darauf gewettet haben. Diese Fremdmanipulation hält auch dann noch an, wenn das außereuropäische Ausland gar nicht länger betroffen ist, weil es die entsprechenden Schuldtitel längst nicht mehr besitzt. Die Staatsobligationen Griechenlands, Spaniens und Italiens sind zum weitaus größten Teil repatriiert. (2) Sie wurden von europäischen Banken mit billigem EZB-Geld erworben. Obwohl das Ausland also gar nicht mehr involviert ist, bleibt die Macht der Rating-Agenturen ungebrochen. Dieses Paradox ist einfach zu erklären. Sie Agenturen können nämlich fest darauf rechnen, die europäischen Anleger am Nasenring mit sich zu führen. In der neoliberalen Wirtschaftsordnung sind Anleger transnational. Sie brauchen sich weder ihren Heimatländern noch der EU verpflichtet zu fühlen. In Wahrheit droht die EU nicht an den Verdikten der Rating-Agenturen zu scheitern, sondern an ihren eigenen Bürgern. Eine Minorität vermögender Anleger aus der EU sind ihre beflissene Gefolgschaft. Die Transaktionssteuer vermag die Gefahr nicht abzuwehren Daran ändert auch eine Finanztransaktionssteuer nichts, die von einigen ihrer Befürworter seit Jahren als Wunderwaffe gepriesen wird. Die destabilisierenden Kräfte der Finanzmärkte vermag sie - so wünschenswert sie auch ist ? nur leicht zu mäßigen, aber keineswegs einzudämmen. Eine Transaktionssteuer schüttet etwas Sand ins Getriebe, aber sie ebnet weder die großen Renditegefälle ein, noch kann und soll sie verhindern, dass große Fonds ihr Geld langfristig außer Landes bringen. Wer sich von dieser Steuer einen Weg aus der Krise erhofft, reiht sich in den Kreis der Fantasten ein. II. Der Kapitalpakt Wer Europa erhalten will, der braucht Kapitalverkehrskontrollen, wie sie nach dem Kriege bestanden, damit das im Übermaß vorhandene Geld seiner reichsten Bürger dem europäischen Inland zugute kommt. Neben einem Handels- braucht die Union einen Kapitalpakt und damit ein gemeinsames Finanzministerium, das darüber wacht, dass die reichsten Bürger der Union ihr Geld nicht ausschließlich zum eigenen Wohl, sondern zugleich auch zum Wohl der Gemeinschaft verwenden. Dadurch wird abermals ein elementares Interesse angesprochen: diesmal eines der Mehrheit im Gegensatz zu dem einer Minderheit. Sind Handels- und Kapitalpakt unrealisierbar? Wem diese Vorschläge für eine Grundlegung der politischen Union fantastisch erscheinen, obwohl sie immerhin historische Vorbilder haben, der sollte sich bewusst sein, dass der von der Kommission vorgeschlagene Fiskalpakt noch viel fantastischer ist, denn er spricht das Hauptproblem nicht einmal an: die schon bestehenden Schulden. Nach ausdrücklicher Meinung der Kommission soll jedes Mitgliedsland in eigener Verantwortung dafür sorgen, dass es seinen Schuldenberg reduziert. Wie das geschehen soll, bleibt entweder im Dunkeln oder man schlägt Rezepte vor, deren Wirkung auf bloßes Totsparen hinausläuft. (3) Tatsache ist, dass die bestehenden Schulden nur mit Wachstumsraten abgebaut werden können, die denen in Indien, China oder Brasilien entsprechen. (4) Oder aber die Zinsen zur Bedienung der Schulden müssen in ganz Europa gegen Null absinken, wie derzeit in Deutschland der Fall. Für beides besteht unter den gegebenen Umständen nicht die geringste Aussicht Der Fiskalpakt ändert nichts an dem grundlegenden Übel Anders gesagt, der ganze Fiskalpakt ist nutzlos, da er an dem grundlegenden Übel einer erdrückenden Schuldenlast nichts ändert und nicht einmal ändern kann. Erst der Handels- und vor allem der Kapitalpakt würde die Voraussetzung für eine Überwindung des Schuldenproblems herstellen. In Europa wäre eine Kapitalschwemme die Folge ? all das derzeit ins Ausland strömende Geld stände ja nun für Investitionen innerhalb der Union zur Verfügung. Die Zinsen würden gegen Null tendieren und jedes irgendwie auf Wachstum angelegte Projekt, auch in den Ländern der südlichen Peripherie, käme für Investitionen in Frage, zumal aufgrund des Handelspaktes die Produkte des Südens deutlich höhere Preise erzielen! Umsonst ist allerdings auch eine derartige Lösung nicht zu haben. Eine Reihe internationaler Verträge müsste Europa einseitig kündigen und sähe sich heftiger Kritik durch die Protagonisten des Neoliberalismus ausgesetzt. Mir scheint dies ein geringes Opfer im Vergleich zu all dem Unheil zu sein, welches dem alten Kontinent sonst noch bevorsteht. 1 ?Der Teufel sitzt mit am Tisch? Interview mit dem französischen Sozialwissenschaftler Emmanuel Todd in: DER SPIEGEL, 2012/20; S. 92. 2 Hierzu die Festrede von George Soros in Trient am 2. Juni 2012 (http://www.businessinsider.com/full-text-of-george-soros-speech-2012-6#ixzz1wvCn2qGn) 3 Hierzu Stephan Schulmeister, Fiskalpakt: Die große Selbstbeschädigung Europas (http://diepresse.com/home/meinung/gastkommentar/763200/Fiskalpakt_Die-grosse-Selbstbeschaedigung-Europas) 4 http://gerojenner.blogspot.co.at/2012/05/wirtschaft-ohne-wachstum-warum-das.html. -------------- nächster Teil -------------- Ein Dateianhang mit HTML-Daten wurde abgetrennt... URL: