[Debatte-Grundeinkommen] Wg: [freiwirte] Fw: [Gr-Linke] Hartz IV - Der Missbrauch ist ein Mythos

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Mo Jul 31 09:58:04 CEST 2006


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Ciao Peter Scharl

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| ----- Ursprüngliche Nachricht -----
| Von:         musil at onlinehome.de (Michael Musil)
| Gesendet am: Montag, 31. Juli 2006 08:35
| An:          freiwirte at kbx7.de (Geldreform im Sinne Silvio Gesells)
| Betreff:     [freiwirte] Fw: [Gr-Linke] Hartz IV - Der Missbrauch ist ein Mythos
| | URL: http://www.frankfurter-rundschau.de/in_und_ausland/dokumentation/?em_cnt=936760
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| Der Missbrauch ist ein Mythos
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| 1. Der Kostenanstieg bei Hartz IV ergibt sich aus der steigenden
| Anzahl der Bedarfsgemeinschaften
| 
| Die Gesamtausgaben für die Grundsicherung für Arbeitslose sind seit
| ihrer Einführung von 38,6 Milliarden Euro (2004) über 44,4 Milliarden
| Euro (2005) auf 47,8 Milliarden Euro (Prognose 2006) gestiegen. Der
| Kostenanstieg seit 2004 ist vor allem durch die steigende Zahl der
| Bedarfsgemeinschaften im Leistungsbezug zu erklären.
| 
| Dafür sind drei Faktoren verantwortlich. Erstens hat die
| Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zur Reduzierung der
| verdeckten Armut beigetragen (Dunkelziffereffekt). Insbesondere
| Personengruppen, die früher nur Arbeitslosenhilfe erhielten und ihr
| Recht auf ergänzende Sozialhilfeleistungen nicht wahrgenommen haben,
| realisieren nun als Bedarfsgemeinschaften im Rahmen der neuen
| Grundsicherung für Arbeitslose häufiger ihre Anrechte.
| 
| Zweitens stieg die Anzahl der Langzeitarbeitslosen weiter an - von
| 1,3 Millionen im Jahr 2003 und 1,4 Millionen 2004 auf 1,5 Millionen
| im Jahr 2005 (Arbeitsmarkteffekt).
| 
| Drittens werden Arbeitslose zunehmend über Arbeitslosengeld II (ALG
| II) und weniger über Arbeitslosengeld I (ALG I) abgesichert. Die
| Anzahl der EmpfängerInnen von ALG I sank von 1,9 Millionen im Jahr
| 2003 über 1,8 Millionen im Jahr 2004 auf 1,7 Millionen im Jahr 2005.
| Vermutlich zeigen hier die Verkürzung der Rahmenfrist für die
| Berechnung des Arbeitslosengeldes auf zwei Jahre und die Verkürzung
| der Bezugsdauer des ALG I auf einheitlich 12 Monate ihre Wirkungen.
| Dieser Verschiebeeffekt wird durch die neue Kunden-Segmentierung der
| Bundesagentur für Arbeit (BA) gestützt: Arbeitslose mit nur geringen
| Vermittlungschancen gehen mit höherer Wahrscheinlichkeit in den
| Rechtskreis Sozialgesetzbuchs (SGB) II über.
| 
| 
| 2. Die Einsparungen im Rechtskreis Sozialgesetzbuch (SGB) III
| übertreffen den Kostenanstieg bei Hartz IV
| 
| In der regulären Arbeitsförderung nach SGB III ist eher eine
| Kostenimplosion zu beobachten. Gleichzeitig mit dem Anstieg der
| Gesamtausgaben für Langzeitarbeitslose sanken die Ausgaben der BA
| beim Arbeitslosen- und Insolvenzgeld um 2,3 Milliarden Euro und bei
| Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik um weitere 5,5 Milliarden
| Euro. Der BA war es 2005 sogar möglich, einen um 3,8 Milliarden Euro
| geringeren Bundeszuschuss zu beanspruchen und 4,6 Milliarden Euro für
| den neu geschaffenen Aussteuerungsbetrag an den Bund abzuführen.
| Trotzdem fielen 2005 im Vergleich zum Vorjahr die Gesamtausgaben der
| BA um 1,4 Milliarden Euro. Auch im SGB II reduzierten Bund, Länder
| und Kommunen die Ausgaben für Eingliederungsleistungen von 5,8
| Milliarden Euro auf 3,6 Milliarden Euro. Von einer Kostenexplosion
| durch die Einführung der Grundsicherung für Arbeitslose kann daher
| keine Rede sein.
| 
| 3. Der Regelsatz sichert sozio-kulturelles Existenzminimum nicht
| 
| Die Leistungen im Rahmen des ALG II sind keineswegs generös. Die
| Leistungssätze haben sich im Vergleich zur früheren Sozialhilfe nur
| geringfügig verändert. Der Eckregelsatz (heute 345 Euro im Monat)
| stieg zwar an, gleichzeitig werden die Kosten für einmalige
| Leistungen (z. B. für Kleidung oder Haushaltsgegenstände) nicht mehr
| übernommen.
| 
| Bezugsgröße für den Regelsatz ist nicht der mittlere Lebensstandard
| der Bevölkerung, sondern sind die Konsumausgaben des unteren Fünftels
| der Bevölkerung, die auf der Basis der Einkommens- und
| Verbrauchsstatistik des Statistischen Bundesamtes (EVS) erhoben
| werden. Dabei werden, auf Basis politischer und nicht sachlicher
| Erwägungen weitere Abzüge vorgenommen (beispielsweise für Uhren,
| Schmuck, Musikunterricht). Zudem bleiben Preissteigerungen
| unberücksichtigt. Nach den Berechnungen des Paritätischen
| Wohlfahrtsverbands müssten die Regelsätze daher dringend um 19
| Prozent auf 412 Euro angehoben - und nicht etwa gesenkt - werden, um
| den täglichen Bedarf abzudecken und ein Minimum an gesellschaftlicher
| Teilhabe sicherzustellen.
| 
| 4. Hartz IV macht mehr Menschen arm
| 
| Die Mehrzahl der BezieherInnen von Arbeitslosenhilfe (insgesamt ca.
| 60 Prozent) hat durch die Reform weniger Geld zur Verfügung, wie eine
| aktuelle Simulationsanalyse von Irene Becker und Richard Hauser
| zeigt. Eine Verschlechterung erleben vor allem die ehemaligen
| ArbeitslosenhilfeempfängerInnen mit in Vollzeit beschäftigtem Partner
| (89 Prozent Schlechterstellung), von denen viele (meist Frauen) auf
| Grund der verschärften Einkommensanrechnung des Partners den Anspruch
| auf Unterstützung ganz verlieren. Aber auch vormalige
| ArbeitslosenhilfebezieherInnen mit arbeitslosem Partner sind davon
| überdurchschnittlich betroffen (73,2 Prozent Schlechterstellung).
| 
| In den Arbeitslosenhilfe-Haushalten ist die Armutsquote um mehr als
| zehn Prozentpunkte - von etwa 50 Prozent vor der Reform auf ca. 63
| Prozent im Jahr 2005 angestiegen. Da die Bewilligung der
| Unterstützungsleistung auf Basis einer strengen Bedarfsprüfung
| erfolgt, müssen ALG-II-EmpfängerInnen für ihren Lebensunterhalt zudem
| auf privates Spar-Vermögen zugreifen. Da die Rentenanwartschaften,
| die ALG-II-EmpfängerInnen in der Gesetzlichen Rentenversicherung
| erwerben können, äußerst gering sind, ist Altersarmut
| vorprogrammiert. Dennoch wird ihr Beitrag zur Rentenversicherung
| derzeit halbiert, um Einsparungen in Höhe von zwei Milliarden Euro zu
| realisieren. Für ehemalige Sozialhilfebeziehende stellt die
| Einbeziehung in die Renten- und Krankenversicherung eine Verbesserung
| dar. Im Leistungsbezug sind keine Verbesserungen zu erwarten,
| wenngleich Evaluierungsstudien noch ausstehen. Auf Grund der
| bisherigen Datenlage deutet daher vieles darauf hin: Durch Hartz IV
| geraten mehr Menschen zusätzlich unter die Armutsgrenze.
| 
| 
| 5. Arbeit lohnt sich trotz Hartz IV
| 
| Sozialleistungen liegen zu nahe an den Löhnen und bieten keinen
| ausreichenden Anreiz zur Arbeitsaufnahme - so ein häufig
| formuliertes, aber nicht haltbares Argument. Denn: Für einen
| verheirateten Langzeitarbeitslosen, seine nichterwerbstätige Ehefrau
| und seine zwei Kinder ist inklusive Miet- und Heizkosten in
| Westdeutschland ein maximaler Bedarfssatz von 1597 Euro vorgesehen.
| 
| Nimmt derselbe Familienvater eine Erwerbstätigkeit an, bei der er
| 1009 Euro verdient, erhält er zusätzlich zu seinem Gehalt noch 154
| Euro Kindergeld pro Kind sowie den Kinderzuschlag von 140 Euro, und
| erzielt damit ein Haushaltseinkommen über der Bedarfsgrenze. Für eine
| vierköpfige Familie reicht ein Nettoarbeitseinkommen von ca. 1000
| Euro aus, um ein Haushaltseinkommen in Höhe des maximalen
| Bedarfssatzes zu erzielen. Allerdings beziehen nur wenige
| Bedarfsgemeinschaften die Höchstsätze der Grundsicherung. Im
| Durchschnitt zahlt die Arbeitsagentur einer vierköpfigen Familie 919
| Euro aus, also fast 700 Euro weniger als der maximale Bedarfssatz
| ermöglicht. Grund dafür ist, dass jedes zusätzliche Einkommen den
| Bedarfssatz reduziert und für viele Arbeit wichtiger als der
| Verdienst ist: Gerade die Erfahrung mit den Ein-Euro-Jobs
| verdeutlicht, dass die meisten Arbeitslosen sehr wohl bereit zur
| Aufnahme einer noch so gering entlohnten Beschäftigung sind.
| Arbeitsgelegenheiten stehen jedoch nicht in ausreichender Zahl zur
| Verfügung.
| 
| 6. Niedriglohn wird bereits jetzt subventioniert
| 
| Im Jahr 2005 wurde in 844 000 Bedarfsgemeinschaften Einkommen aus
| Erwerbstätigkeit auf das ALG II angerechnet. Zu 95 Prozent wird das
| im Rahmen der Grundsicherung anzurechnende Einkommen in abhängiger,
| davon zur Hälfte in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung
| verdient. Der im Vergleich zum ehemaligen Arbeits- und
| Sozialhilfesystem gestiegene Anteil der so genannten AufstockerInnen
| von 12 Prozent im Jahr 2004 auf 18 Prozent im Jahr 2005 verdeutlicht:
| Bei der Grundsicherung für Arbeitssuchende handelt es sich keineswegs
| nur um ein Leistungssystem, das sich ausschließlich auf die
| Absicherung erwerbsloser Personen und ihrer Familien beschränkt.
| Vielmehr erweist es sich als ein System, das faktisch die gewünschte
| und sozialrechtlich konstruierte Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt
| und die damit einhergehenden Versorgungslücken "sozialverträglich"
| abfedert. Insofern wird nicht nur der Anteil von Personen, die trotz
| Arbeit unter der Armutsschwelle leben, anwachsen, sondern
| gleichzeitig wird der Lohndruck im unteren Einkommensbereich umso
| stärker ausfallen, je geringer das gesetzliche Existenzminimum ist.
| Ein sinkendes Niveau im Niedriglohnsegment drückt wiederum auf das
| sozio-kulturelle Existenzminimum.
| 
| Nur ein gesetzlicher Mindestlohn könnte diese Negativspirale und die
| dauerhafte Subvention regulärer Arbeitsverhältnisse verhindern.
| 
| 7. Missbrauchs- und Mitnahmefälle sind statistisch betrachtet nicht
| relevant
| 
| Der aktuell konstatierte Anstieg der Ausgaben für die Grundsicherung
| kann nicht mit massivem Missbrauch erklärt werden. Über den
| tatsächlichen Missbrauch von Leistungen nach dem SGB II gibt es keine
| repräsentativen Statistiken. Als einzig zuverlässige Erhebungsmethode
| hat der automatisierte Datenabgleich vom Oktober 2005 einen
| vorläufigen Fehlbetrag bei ALG-II-Zahlungen von 27 Millionen Euro
| ergeben, das würde hochgerechnet einem Anteil von 0,2 Prozent der
| Summe, die 2005 für das ALG II ausbezahlt wurde (rund 25 Milliarden
| Euro), entsprechen. Die Berichte einzelner Kommunen über den
| Leistungsmissbrauch stützen die Annahme, dass Missbrauchsfälle eher
| selten vorkommen. Massiver Missbrauch von Leistungen aus der
| Grundsicherung ist also ein Mythos und kein Faktum.
| 
| Hinter der Debatte um Leistungsmissbrauch steht oftmals ein falsches
| Verständnis des Missbrauchbegriffs. Denn Missbrauch im eigentlichen
| Sinne bedeutet die rechtswidrige Inanspruchnahme von Leistungen, z.
| B. auf der Grundlage von unvollständigen oder Falschangaben zur
| Hilfebedürftigkeit. Rechtmäßiger Anspruch auf Leistungen der
| Grundsicherung besteht immer dann, wenn die formalen Voraussetzungen
| erfüllt sind. Dementsprechend ist das Geltendmachen rechtmäßiger
| Ansprüche legitim. Die Anzahl der Personen, die ihren Anspruch auf
| Sozialhilfe nicht geltend gemacht hatte, jetzt aber durch die
| Bedarfsgemeinschaft mit ALG-II-EmpfängerInnen sichtbar wird, werden
| von Becker und Hauser auf 1,8 Millionen geschätzt: Diese
| Inanspruchnahme im Rahmen von Missbrauchsdebatten zu
| instrumentalisieren ist unzulässig und stellt das Sicherungssystem
| grundsätzlich in Frage.
| 
| Fazit
| 
| Die ansteigende Langzeitarbeitslosigkeit wird zunehmend von einer
| ökonomischen zu einer moralischen Herausforderung stilisiert. Die
| Stimmen werden lauter, die die Gewährung von Hilfe überhaupt in Frage
| stellen und die rigorose Durchsetzung von weiteren Leistungskürzungen
| fordern.
| 
| Der aktuelle Reformdiskurs, der sich - unter Ausblendung der massiven
| Reduzierung der für aktive Arbeitsmarktpolitik eingesetzten Mittel -
| ausschließlich an der konstruierten Notwendigkeit des Sparens
| orientiert, widerspricht der Absicht, Sozialpolitik zur Aktivierung
| von individuellen Handlungspotenzialen und als Investition in das
| Sozialkapital zu nutzen. Erreicht wird durch die aktuelle Politik der
| Daumenschrauben und des Spardiktats lediglich, dass - bei
| ausbleibender Arbeitsnachfrage - die Menge der zwangsläufig in
| Passivität verharrenden, stigmatisierten und unter Generalverdacht
| gestellten Personen wächst und Vertrauen und Zufriedenheit als
| Fundament eines demokratischen Sozialstaats schwinden.
| 
| Will man Langzeitarbeitslosigkeit wirksam bekämpfen und das Anwachsen
| von Armut verhindern, ist es notwendig, anstelle einer weiteren
| Reduzierung der Leistungen das Existenzminimum neu zu definieren und
| Eingliederungsmittel tatsächlich zu verwenden. Nur dann kann das
| eigentliche Ziel der Reform eingelöst werden: Die Stärkung der
| individuellen Autonomie der Arbeitslosen durch Bereitstellung
| existenzsichernder sozialer Leistungen und die aktive Förderung der
| Wiedereingliederung.
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| Die Autoren
| Am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der
| gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung haben sich mit dem Thema
| beschäftigt: Judith Aust und Till Müller-Schoell (wissenschaftliche
| Mitarbeiter), Silke Bothfeld und Simone Leiber (wissenschaftliche
| Referatsleiterinnen für den Bereich Arbeitsmarktpolitik und den
| Bereich Sozialpolitik) und die Praktikantin Britta Seine.
| 
| Bothfeld und Müller-Schoell arbeiten außerdem in dem Projekt:
| MonAPoli - Monitor Arbeitsmarktpolitik mit, das die
| Arbeitsmarktreformen kritisch begleitet. Ziel des Projektes ist die
| Bereitstellung von Orientierungswissen zum Verständnis der Hartz-
| Reformen und die zeitnahe Aufbereitung und Kommentierung von Daten
| und Berichten.
| 
| MonAPoli wird gemeinsam von der Hans-Böckler-Stiftung und der Otto-
| Brenner- Stiftung der IG Metall finanziert. Weitere Informationen zu
| den Arbeitsmarktreformen unter: www.monapoli.de ber
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| [ document info ]
| Copyright © FR online 2006
| Dokument erstellt am 27.07.2006 um 16:52:23 Uhr
| Letzte Änderung am 27.07.2006 um 16:59:55 Uhr
| Erscheinungsdatum 28.07.2006
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