[Debatte-Grundeinkommen] Taz vom 10.09.2005

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Sa Sep 10 14:07:09 CEST 2005


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Das Ende der Arbeitsreligion



von WOLFGANG ENGLER

Die Orientierungsnöte der (europäischen) Linken erwachsen unmittelbar aus
ihrer historischen Leistung. Den von ihr inspirierten und organisierten
Kämpfen ist es wesentlich zu danken, dass die Lohnarbeit nach und nach
aufhörte, ein kollektiver Fluch zu sein, dass sie auskömmlich und
respektabel wurde. Es war vornehmlich die Linke, die um Löhne stritt, die
Wachstums- und Produktivitätsgewinne zumindest anteilig realisierten, die
den Kampf um die Verkürzung des Arbeitstages anführte und das
Arbeitsverhältnis mit sozialen Garantien versah. Der Bruch mit der
Proletarisierung und Pauperisierung der arbeitenden Massen sowie die Geburt
der "bürgerlichen Form" der Lohnarbeit (Robert Castel) sind unbestreitbar
ihr Verdienst.

Dass dieses Jahrzehnte währende und letztlich erfolgreiche Ringen um eine
Zivilisierung der Arbeits- und Lebensweise der werktätigen Mehrheit ein
positives, mitunter geradezu überschwängliches Verhältnis zur Arbeit, zum
Lohnarbeit leistenden Menschen begründete, ist nur allzu verständlich.
Bislang hat noch jede große historische Bewegung ihre Erfolge glorifiziert,
verklärt. Arbeit ist nicht alles, aber ohne Arbeit kein gelungenes Leben,
keine wirkliche und aktive Einbeziehung des Menschen in die Gesellschaft -
das ist das A und O der linken Welterzählung.

Zwar anerkannte die politische Linke, würdigten insbesondere deren
theoretische Wegbegleiter, ein Leben und eine Freiheit nach der Arbeit,
jenseits des Dienstes am Notwendigen, aber der hauptsächliche Akzent lag
(und liegt) auf der Befreiung des Menschen in der Arbeit, durch Arbeit. Die
historische Linke hatte die Emanzipation des Menschen der Unterschicht durch
eine Aufwertung der Arbeit bewerkstelligt, und zwar in jeder Hinsicht,
moralisch, materiell, sozial, und dieses Fazit halten ihre heutigen Erben
fest. Alle, die das wollen oder nötig haben, sollen ihr Leben durch Arbeit
begründen können; durch eine Arbeit, die das Leben ökonomisch trägt und das
Individuum langfristig in die Gesellschaft eingliedert; durch "gute" Arbeit
statt durch bloße Jobs.

Genau hier liegt das gegenwärtige Problem. Die programmatische Fixierung der
Linken auf die "gute" Arbeit als gesellschaftliches Entree wird durch die
Verhältnisse nicht länger unterstützt. Die noch immer voranschreitende
Differenzierung und Segmentierung der Arbeitsverhältnisse verriegeln diese
uniforme Eingliederungspolitik. In einer ganzen Reihe von Professionen und
Sektoren gelangte die "bürgerliche Form" der Lohnarbeit zu neuer Blüte,
dominieren gut ausgebildete und anständig bezahlte Mitarbeiter. Parallel
dazu vollzog sich eine Trivialisierung ganzer Beschäftigungsfelder, man
denke nur an das altehrwürdige Bäckerhandwerk. Vollzeitstellen, obzwar noch
immer vorherrschend, weichen mehr und mehr Teilzeitarbeitsplätzen, die, der
trivialisierten Arbeit darin gleich, an Löhnen sparen. Einschneidender noch
als diese der Arbeitswelt immanenten Unterscheidungen ist die Grenzlinie
zwischen Insidern und Outsidern, zwischen ökonomisch als nützlich
anerkannten und für überflüssig erachteten Personen. Jenseits dieser Grenze
siedelt das Leben in seiner alltäglichen Misere und Verwundbarkeit; das
Leben derer, die Erwerbsarbeit als Episode registrieren oder ganz abseits
stehen.

Die Parole der historischen Linken - "der Mensch wird durch Arbeit zum
Menschen" - verhallt in einem verzerrten Echo: Für alle reicht die "gute"
Arbeit nicht. Weder besorgt die Einbeziehung ins Erwerbssystem gleichsam
automatisch die gesellschaftliche Integration, wie jede(r) working poor
schmerzlich erfährt, noch scheint der Arbeitsmarkt perspektivisch imstande,
all jene aufzunehmen, die derzeit von ihm ausgeschlossen sind.
Wahrscheinlich ist das glatte Gegenteil. Der technisch-technologische
Fortschritt wird künftig ebenso wenig erlahmen wie die durch Konkurrenz
angespornten betrieblichen Rationalisierungsprozesse, und der
Konkurrenzkreis selbst dürfte an Umfang im Zukunft noch gewinnen.

Zu Beginn des Industrialisierungszeitalters war England der unumstrittene
Werkmeister der Welt, zu Zeiten der Hochindustrialisierung beanspruchte
bereits ein Dutzend so genannter entwickelter Nationen diesen Titel,
gegenwärtig sind es ihrer Dutzende. Sie alle "wildern" zunehmend in
denselben Revieren, drängen auf dieselben Märkte, mit desto größerer
Erfolgschance, je qualifizierter und einstweilen anspruchsloser die
jeweiligen Bevölkerungen sind. Wer in den klassischen Industrienationen
wollte da ernstlich eine Garantieerklärung zugunsten "ordentlicher" Arbeit
für jede und für jeden, jetzt und immerdar, riskieren?

Was also tun? Die Fixierung auf die "gute" Arbeit fahren lassen, Wasser
predigen statt Wein, Arbeitsverschnitt im Umlauf setzen nach der Maxime:
"Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit!"? - Das wäre das Ende linker
Politik und eine neuerliche Probe auf die alte Weisheit, dass links just
dort ist, wo der Daumen rechts sitzt.

Oder vielleicht doch besser festhalten an erprobten und einst erfolgreichen
Rezepten in Form einer Neuauflage des Kampfes um die Verkürzung des
Arbeitstages? - Man sollte diese Strategie nicht von vornherein verloren
geben, aber die veränderten Kräfteverhältnisse nüchtern in Rechnung stellen.
Die vor allem großen Unternehmen durch die Globalisierung gleichsam in den
Schoß gefallene Exit-Option macht weite Teile der Arbeitnehmerschaft gefügig
und erlaubt dem Kapital, sich Mehrarbeit zu seinen Konditionen anzueignen,
durch die flexible Ausnutzung einer gegebenen Belegschaft.

Ließe sich die "gute" Arbeit womöglich durch eine Verknappung des
Arbeitsangebots retten, durch steuerfinanzierte Frühverrentung, Vorruhestand
in großem Stil? - Das schien noch kürzlich eine (wenn auch defensive)
Lösung. Derweil ist sie aus Kosten- wie aus anderen Gründen in Verruf
geraten, in England, den Niederlanden und auch in Deutschland.

Die derzeit klügste Lösung kommt aus Skandinavien, in Gestalt von
sabbaticals, periodischen Wechseln zwischen Arbeits- und Freizeiten, welche
Letztere bis zu drei Jahren währen können und aktuell Außenstehenden eine
befristeten, aber doch lohnenden Wiedereinstieg ins Erwerbsleben eröffnen.
Unter den Bedingungen der Lohnarbeitsgesellschaft ist das der humanste
Umgang mit schwindendem Gesamtarbeitsvolumen.

Er setzt allerdings einen großen gesellschaftlichen Konsens voraus, der dem
arbeitsfreien Dasein (auf Zeit) wieder Würde zuerkennt und Perspektive gibt,
und exakt daran fehlt es im Deutschland dieser Tage. "Vorfahrt für Arbeit!",
"Sozial ist, was Arbeit schafft!", "Arbeit soll das Land regieren!" blökt es
aus allen Lagern, auch den linken - als verkörperte Arbeit, selbst minder
abgefundene und anspruchslose, das schlechthin Gute!

Wie wäre es, stattdessen, mit einer subversiven Offensive? Wenn man
Stellungen, die nicht zu halten sind, geordnet räumte, und sich zugleich um
die Einrichtung neuer Widerstandslinien bemühte? Wenn man mit aller
Entschiedenheit für eine Vorverlagerung des Grabensystems sozialer Garantien
kämpfte? Staatlicher Schutz und staatliche Regulierung konzentrierten sich
dann weniger auf die Arbeit, die Arbeitsverhältnisse (durch Mindestlöhne,
Kündigungsschutz etc.) und in weit höherem Maße als heute auf das, was der
Arbeit vorausgeht, auf das "Leben", die Subsistenzverhältnisse.

Eine auskömmliches, nicht wiederum an Arbeit gebundenes Grundeinkommen, ein
Bürgergeld, bedeutete einen wirklichen Bruch mit dem Einheitsdenken im Bann
der Arbeitsreligion. Sie definierte ein historisch variables menschliches
Maß, das alle anderen Maßverhältnisse regierte. Von hieraus ergäben sich die
Mindestsätze für das Ruhegeld sowie für die Bezüge der unteren Lohngruppen,
nicht umgekehrt. 

Gesetzt, das menschliche Maß wäre gesetzlich dekretiert, käme der Markt gar
nicht umhin, Arbeitsverhältnisse und Arbeitsentgelte so zu regulieren, dass
sie tatsächlich zur Arbeit motivieren. Die ideologische Keule der
Liberal-Konservativen, die so viele Kritiker in die Knie gezwungen hat
("Arbeit muss sich endlich wieder lohnen!") könnte nun auf deren Häupter
niederfahren. Auch gibt es keine Grund zur Scham, weder bei denen, die sich
für Transfereinkommen ohne Arbeit einsetzen noch bei den Empfängern. Sofern
die "Finanziers" keine einschneidende Verluste erleiden und das Geld denen
zugute kommt, die es ausgeben müssen, ist Umverteilung makroökonomisch sogar
geboten. Geld, das ansonsten schliefe, fließt in die Konsumtion und spornt
den Werkfleiß an.

Der Emanzipation des Arbeiters zum Bürger die Emanzipation des Bürgers vom
Arbeiter folgen zu lassen, ist das der neuen Linken aufgetragene Projekt.
Das bedeutet zweierlei: materielle Sicherung und kulturelle Befähigung zu
einem Leben ohne Arbeit. Arbeitsfreies Dasein auf gesichertem Grund zeugt
das sozial aktive Leben nämlich nicht aus sich heraus. Nur Menschen, die
gelernt haben, sich selbst zu orientieren, mit anderen etwas zu unternehmen,
auch ohne Stelle im Erwerbssystem, sind reif genug, um Neuland zu betreten.
Wenn der "Beruf" das Leben in seinen Abläufen nicht länger organisiert, dann
wird das Leben zum Beruf, und dafür braucht es Übung.

Wer das grundsätzlich für unmöglich hält, weil er im Menschen eine von Natur
aus träge Masse sieht, die nur der Arbeitszwang ins Laufen bringt, ist
entweder ein Snob oder ein unverbesserlicher Calvinist.

taz Nr. 7765 vom 10.9.2005, Seite 3, 321 Kommentar WOLFGANG
ENGLER, Gastkommentar




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