[Debatte-Grundeinkommen] FR: Wider die Existenzangst

Wolfgang Strengmann strengmann at wiwi.uni-frankfurt.de
Sa Apr 9 10:28:12 CEST 2005


Aus der Frankfurter Rundschau von heute (9.4.):

URL:
http://www.fr-aktuell.de/ressorts/nachrichten_und_politik/standpunkte/?cnt=658473

Wider die Existenzangst
Man muss auch ohne Arbeit leben können / Plädoyer für ein Grundeinkommen
VON WERNER RÄTZ

"In den neuen Bundesländern können wir leider vielen Menschen in der derzeitigen
Wirtschaftslage kaum etwas bieten." Mit diesen Worten kommentierte der Präsident
der Bundesagentur für Arbeit (BA), Frank Weise, jüngst die
Arbeitslosenstatistik. Für seinen Vorschlag, ältere Arbeitslose in
Ostdeutschland aus der Arbeitsvermittlung herauszunehmen, erntete er Kritik von
allen Seiten. Die meisten Kommentatoren warfen ihm zu Recht Zynismus vor - und
gingen dabei dennoch in die Irre, indem sie unterstellen, dass es darauf
ankomme, weiterhin allen Menschen ein Arbeitsangebot zu machen.

Mit seiner zentralen Aussage hat Weise Recht: Die Arbeitsvermittlung hat heute
tatsächlich vielen Menschen "kaum etwas zu bieten". Das betrifft nicht nur
ältere Ostdeutsche mit angeblich veralteten oder geringen Qualifikationen. Das
betrifft einen Großteil der fast zwei Millionen Langzeitarbeitslosen
deutschlandweit. Das betrifft viele Jugendliche, die keine Ausbildungsstelle
finden. Das betrifft Millionen, die gar nicht mehr in den Statistiken
auftauchen, weil sie sich ohnehin keine Chancen ausrechnen.

Und auch für eine zweistellige Millionenzahl von Arbeitenden bedeutet ihre
Beschäftigung keineswegs, dass die ihnen "etwas zu bieten" hat: Sie sitzen in
Minijobs, überschuldeten Ich-AGs, befristeten Verträgen, Zeitarbeitsfirmen,
unter der Armutsgrenze bezahlten Tätigkeiten, Scheinselbstständigkeit und
zukünftig in Ein-Euro-Jobs. Die Hartz-Gesetze haben keine neuen Jobs geschaffen,
sondern nur den Druck auf die noch Beschäftigten erhöht: Arbeitskräfte, die sich
vor allem um ihre Zukunft sorgen, sind offen für Lohnsenkungen, unbezahlte
Mehrarbeit, Arbeitsverdichtungen und was dergleichen Strategien mehr sind, mit
denen die Konzerne sich fit machen für unbeschränkte Kapitalverwertung. Auch die
tariflich abgesicherten Dauerarbeitsverhältnisse sind zunehmend bedroht, wie
immer neue Entlassungen belegen.

Seit Jahrzehnten sind Wirtschaft und Gesellschaft nicht mehr in der Lage, dieser
Entwicklung mit einem auch nur annähernd ausreichenden Angebot an bezahlter
Arbeit entgegenzutreten. Das Problem lässt sich nicht durch mehr Wachstum lösen.
Wenn - wie im Fall der Deutschen Bank - 16 Prozent Rendite nicht ausreichen, um
im internationalen Standortwettbewerb zu bestehen und Arbeitsplätze zu erhalten,
dann kann ein Unternehmen systematisch keine Beschäftigten gebrauchen, die so
etwas wie Arbeitsplatzsicherheit einfordern.

Der BA-Chef benennt den Regelfall: Die Arbeitsvermittlung hat den Menschen "kaum
etwas zu bieten". Und deshalb sollten seine Äußerungen zum Anlass genommen
werden, darüber nachzudenken, welche Konsequenzen jetzt notwendig sind. Es ist
Zeit für eine gesellschaftliche Debatte, die die Wirklichkeit auf dem
Arbeitsmarkt zur Kenntnis nimmt.

Wir können keine Gesellschaft wollen, in der Menschen trotz wachsenden
gesellschaftlichen Reichtums dauerhaft von der Teilhabe ausgeschlossen sind.
Verunsicherung, flexible Verfügbarkeit für die Verwertungsanforderungen der
Konzerne werden zum weltweit gemeinsamen Merkmal von Beschäftigung wie von
Arbeitslosigkeit. Dagegen müssen wir den Anspruch auf soziale Sicherung setzen.

Ohne Existenzangst leben zu können ist ein Menschenrecht, das nicht
kurzfristigen Gewinnerwartungen oder staatlichen Haushaltsproblemen geopfert
werden darf. Dieses Recht kann in den modernen Gesellschaften nur wahrnehmen,
wer über ein Einkommen verfügt. Und wenn Arbeitsverhältnisse heute zum einen
fehlen und zum anderen das Überleben nicht mehr sichern, dann brauchen wir neue
Instrumente. Ein gesetzlicher Mindestlohn und ein bedingungslos zu zahlendes
Grundeinkommen wären solche Instrumente, mit denen gewährleistet würde, dass man
von Arbeit leben kann - und ohne Arbeit auch.

Ein solches Grundeinkommen sollte jedem Menschen als individueller
Rechtsanspruch zustehen und darf nicht an einen Arbeitszwang gebunden sein. Es
würde bisherige Sozialtransfers ersetzen und müsste in der Höhe ausreichend sein
um die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Es gibt eine
Vielzahl von durchgerechneten Modellen eines solche Grundeinkommens
(www.archiv-grundeinkommen.de). Sie alle zeigen, dass seine Finanzierung möglich
wäre.

Die Auseinandersetzung darum wird erst einmal in jedem Land zu führen sein und
das geschieht heute auch schon weltweit in vielen Ländern, von Namibia über
Brasilien (wo es ein Gesetz zu seiner Einführung gibt) bis Spanien und
Deutschland. Dabei ist der internationale Aspekt unverzichtbar. Nicht nur müssen
Menschenrechte aus ihrem eigenen Charakter heraus international gelten und
eingefordert werden. Es wird auch ökonomisch keine nationalen Schutzzonen geben
können angesichts eines real existierenden Weltmarktes. Und politisch muss die
Perspektive auf weltbürgerliche Solidarität einer falschen
Volksgemeinschaftsideologie entgegengestellt werden. Deshalb darf ein
Grundeinkommen auch nicht an Aufenthaltsstatus oder Wohlverhalten gebunden
werden: Das Recht zum Leben und zur Teilhabe ist universell.



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Copyright © Frankfurter Rundschau online 2005
Dokument erstellt am 08.04.2005 um 15:48:15 Uhr
Erscheinungsdatum 09.04.2005




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