[atp-news] Arundhati Roy - Wie tief sollen wir graben?

Petra Bursee (Adivasi-Tee-Projekt) petra.bursee at adivasi-tee-projekt.org
Mit Jul 14 14:25:46 CEST 2004



Wie tief sollen wir graben?

Am 6. April 2004 hielt die bedeutende indische Schriftstellerin
und Aktivistin Arundhati Roy einen großen Vortrag an der Aligarh
Muslim University. Obwohl in Indien inzwischen Wahlen
stattgefunden haben und eine neue Regierung gebildet wurde (siehe
hierzu von Arundhati Roy: "Die Dunkelheit weicht.") hat dieser
Text nichts von seiner Brisanz und Aktualität eingebüßt. Roy
zeigt ausführlich staatliche Gewalttaten auf und geht der Frage
nach, wie einfache Menschen auf den Angriff eines zunehmend
gewalttätigeren Staat reagieren können. Obwohl sie sieht, dass
der Boden, auf welchem gewaltfreier Widerstand fruchtbar sein
kann, ziemlich ausgetrocknet worden ist, setzt sie sich
nachhaltig für gewaltfreien Widerstand durch
Graswurzel-Widerstandsbewegungen ein.

Von Arundhati Roy - ZNet 01.05.2004

Kürzlich erzählte mir ein junger Freund aus Kashmir über das
Leben dort. Über den Morast politischer Käuflichkeit und über
Opportunismus; über die metallische Gewalt der Sicherheitskräfte,
den sich formenden scharfen Kanten, die sich schärfen, unter dem
Druck einer von Gewalt übersättigten Gesellschaft, in welcher
Militante, PolizistInnen, BeamtInnen des Geheimdienstes,
Regierungsangestellte, Geschäftsleute, und sogar JournalistInnen,
aufeindandertreffen, und sich langsam, im laufe der Zeit, immer
ähnlicher werden. Er sprach davon, dass er mit diesen niemals
endenden Ermordungen leben muss, den immer mehr werdenden
"Vermissten", dem Flüstern, der Furcht, den unaufgeklärten
Gerüchten, der wahnsinnigen Kluft zwischen dem was wirklich
passiert, von dem, was die Menschen in Kashmir selbst vor Augen
haben, und dem, was dem Rest von uns über die Ereignisse in
Kashmir erzählt wird. Er sagte: "Kashmir war einmal ein Geschäft.
Jetzt ist es ein Irrenhaus".

Je öfters ich über diese Bemerkung nachdenke, umso passender
scheint mir diese Beschreibung für ganz Indien. Man muss zugeben,
dass Kashmir und der Nordosten separate Flügel sind, welche den
gefährlicheren Trakt der Anstalt beherbergen. Aber auch im Herzen
des Landes ist die Spaltung zwischen Wissen und Information,
zwischen dem was wir wissen, und dem was uns gesagt wird,
zwischen dem was man nicht weiß, und dem was behauptet wird,
zwischen dem was verborgen ist, und dem was ans Licht kommt,
zwischen Fakt und Dichtung, zwischen der "echten" Welt und der
angeblichen Welt, zu einem Ort nie endender Spekulation und
potentiellem Wahnsinn geworden. Es ist ein gefährliches Gemisch,
das hier gebraut wird, das umgerührt und am sieden gehalten wird,
und welches einem ekelerregenden, zerstörerischen politischen
Ziel dient.

Jedesmal wenn es einen sogenannten "Terroranschlag" gibt, eilt
die Regierung herbei, um eifrig schuldzusprechen, mit wenig oder
gar keinen Untersuchungen. Der Brandanschlag auf den Sabarmati
Express in Godhra, der Angriff auf das Parlamentsgebäude am 13.
Dezember, oder die Massaker an Sikhs, welche von so genannten
"Terroristen" in Chittisinghpura begangen worden sein sollen,
sind nur einige Beispiele, welchen große Aufmerksamkeit geschenkt
worden ist. (Die sogenannten Terroristen, welche später von den
Sicherheitskräften ermordet worden sind, stellten sich als
unschuldige Dorfbewohner heraus. Die Regierung dieses
Bundesstaates hat anschließend zugegeben, dass gefälschte
Blutproben zur Durchführung von DNA-Tests abgegeben worden sind).

In jedem dieser Fälle führte das Faktenmaterial das langsam an
die Oberfläche kam zu unangenehmen Fragen, und so wurde dieses
sofort unter Verschluss genommen. Man betrachte den Fall Godhras:
gleich nachdem es passiert ist, verkündete der Innenminister,
dass dies ein Komplott des [pakistanischen Geheimdienstes] ISI
war. Die VHP [Hindi-Abkürzung für "Weltrat der Hindus", eine
nationalistische Partei] sagt, dass dies das Werk eines
muslimischen Mobs war, welcher Brandbomben warf. Wichtige Fragen
bleiben unbeantwortet. Die ununtermauerten Behauptungen hören nie
auf. Jeder glaubt, was er oder sie glauben will, aber der Vorfall
wird zynisch und systematisch dazu benutzt kommunale Raserei
anzustacheln.

Die US Regierung nutzt die Lügen und Desinformation, welche sie
um die Angriffe am 11. September herum schuf, nicht nur für die
Invasion eines Landes, sondern von zweien - und wer kann sagen,
was noch auf uns zukommt.

Die indische Regierung nutzt die gleiche Strategie nicht nur im
Umgang mit anderen Ländern, sondern auch gegen ihre eigene
Bevölkerung.

Im letzten Jahrzehnt ist die Zahl der Menschen, welche von den
Polizei- und Sicherheitskräften getötet worden sind, im Bereich
der Zehntausende gewesen. Kürzlich sprachen mehrere Polizisten
aus Bombay offen mit der Presse darüber, wieviele "Gangster" sie
auf "Befehl" von führenden Beamten eliminieren mussten. Andhra
Pradesh kommt auf ungefähr 200 "ExtremistInnen", welche im
Durchschnitt jedes Jahr bei "Zusammenstößen" sterben. In Kashmir,
in einer Situation, welche beinahe einem Krieg gleichkommt, wird
geschätzt, dass 1989 ungefähr 80.000 Menschen getötet worden
sind. Tausende sind einfach "verschwunden". Laut Aufzeichnungen
der Vereinigung von Eltern verschwundener Menschen sind 2003 in
Kashmir mehr als 3.000 Menschen getötet worden, von denen 468
Soldaten waren. Seit die Regierung Mufti Mohammed Sayeeds im
Oktober 2002 mit dem Versprechen an die Macht kam, "eine Heilende
Wirkung" mitzubringen, gab es laut dieser Vereinigung 54 Tote in
den Gefängnissen.

In diesem Zeitalter des Hyper-Nationalismus können die Mordenden,
solange die Menschen, welche getötet werden, als Verbrecher,
Terroristen, Aufständische oder Extremisten bezeichnet werden,
als Krieger in einem Kreuzzug für das nationale Interesse
herumstolzieren, und sind niemandem Rechenschaft schuldig. Auch
wenn es wahr wäre (was es sicherlich nicht ist), dass jede
Person, welche ermordet worden ist, tatsächlich ein Gangster,
Terrorist, Aufständischer oder Extremist war - so sagt uns dies
lediglich, dass mit einer Gesellschaft in welcher so viele
Menschen zu so verzweifelten Maßnahmen gezwungen werden etwas
ganz falsch laufen muss.

Die Neigung des indischen Staates Menschen zu verfolgen und zu
beleidigen ist durch das Gesetz zur Verhinderung von Terrorismus
(GVT, engl.: Prevention of Terrorism Act, POTA)
institutionalisiert und heilig gesprochen worden. Es ist bereits
in 10 Bundesstaaten ratifiziert worden. Man sieht schon nach
einmaligem durchblättern des GVT, dass dieses Gesetz drakonisch
ist und alles betrifft. Es ist ein für viele Zwecke einsetzbares
Gesetz, welches jeden anvisieren könnte - vom Al Kaida Anführer,
der mit einem Vorrat an Sprengstoff ertappt wird, bis zu einem
Adivasi, der unter einem Neem-Baum Flöte spielt, auch dich, auch
mich. Die Genialität des GVT ist, dass alles sein kann, was die
Regierung gern hätte. Wir sind von der Gunst jener abhängig, die
uns regieren. In Tamil Nadu ist es dafür benutzt worden um Kritik
an der Regierung dieses Bundesstaats zum Schweigen zu bringen. In
Jharkhand wurden im Rahmen des GVT 3200 Personen angeklagt,
hauptsächlich arme Adivasis, denen vorgeworfen wird, Maoisten zu
sein. Im Osten Uttar Pradeshs wird das Gesetz dafür benutzt, jene
zu bestrafen, welche es wagen gegen die Entfremdung ihres Landes
zu protestieren und gegen die Zunichtemachung ihres Rechts auf
ein würdiges Leben. In Gujrat und Mumbai wird es fast
ausschließlich gegen Muslime eingesetzt. In Gujarat wurden nach
dem staatlich unterstützten Pogrom des Jahres 2002, in welchem
schätzungsweise 2000 Muslime getötet und an die 150.000 aus ihren
Heimen verjagt worden sind, im Rahmen des GVT 287 Personen
angeklagt. Von diesen sind 286 Muslime und einer ist ein Sikh!

Das GVT gestattet es Geständnisse, welche in
Polizeigefangenschaft erzwungen worden sind, als juristischen
Beweis gelten zu lassen. Das GVT hat somit den Effekt, dass
polizeiliche Folter die polizeiliche Untersuchung ablösen wird.
Das ist schneller, billiger, und garantiert Ergebnisse. Das fällt
wohl unter Sparmaßnahmen bei öffentlichen Ausgaben.

Letzten Monat war ich ein Mitglied eines Volkstribunales, das
sich mit dem GVT befasste. In einem Zeitraum von zwei Tagen
hörten wir grauenhafte Zeugenaussagen darüber, was in unserer
wunderschönen Demokratie vor sich geht. Ich kann versichern, dass
es auf unseren Polizeistationen alles gibt: Menschen werden
gezwungen Urin zu trinken, sich ausziehen zu lassen, sie werden
gedemütigt, sie bekommen Elektroschocks, werden mit
Zigarettenenden verbrannt, Eisenstäbe werden in ihren After
geschoben, sie werden geschlagen und zu Tode getreten.

Als Konsequenz des GVT wurden überall im Land Menschen, auch
einige sehr junge Kinder, angeklagt und eingesperrt; es kann
keine Kaution gestellt werden, und sie erwarten eine Verhandlung
in einem speziellen GVT-Gericht, welches keiner öffentlichen
Kontrolle untersteht. Eine Mehrheit von jenen, welche aufgrund
des GVT eingesperrt wurden, sind an einem dieser beiden
Verbrechen schuldig: Entweder sie sind arm - und meistens
kastenlos oder Adivasis. Oder sie sind Muslime. Das GVT dreht das
akzeptierte Diktum des Strafgesetzes um - dass nämlich eine
Person solange unschuldig ist bis ihre Schuld bewiesen ist. Unter
dem GVT, kommst du nicht auf Kaution frei, wenn du nicht beweisen
kannst, dass du unschuldig bist - unschuldig eines Verbrechen,
dessen man gar nicht formell angeklagt worden ist. Im Endeffekt
musst du beweisen, dass du unschuldig bist, auch wenn du dir
nicht denken kannst, was für eines Verbrechen du bezichtigt
wirst. Und das betrifft uns alle. Technisch gesehen sind wir eine
Nation, welche darauf wartet, angeklagt zu werden.

Es wäre naiv anzunehmen, dass das GVT "missbraucht" wird. Ganz im
Gegenteil. Es wird genau für jene Zwecke verwendet, für welche es
erlassen worden ist. Natürlich wird das GVT bald überflüssig
sein, wenn die Vorschläge des Malimath Komitees umgesetzt werden.
Das Malimath Komitee schlägt vor, dass in gewissen Bereichen das
gewöhnliche Strafgesetz mit den Bestimmungen des GVT in
Übereinstimmung gebracht werden soll. Es wird dann keine
Kriminellen mehr geben. Nur noch Terroristen. Das ist ziemlich
schick.

Schon heute erlaubt es das Militärische
Sonderermächtigungsgesetz, dass nicht nur Offiziere, sondern auch
niedrigrangigeres Armeepersonal, gegenüber jeder Person die sie
verdächtigen, die öffentliche Ordnung zu stören oder eine Waffe
zu tragen, Gewalt anzuwenden, und sie sogar zu töten. Auf
Verdacht! Niemand der in Indien lebt kann sich darüber
hinwegtäuschen, wozu das führen wird. Die Berichte von
Folterungen, Leute die verschwinden, Tode in Gefangenschaft,
Vergewaltigung und Gruppen-Vergewaltigung (durch
Sicherheitskräfte), reichen aus, um einem das Blut in den Adern
kalt werden zu lassen. Die Tatsache, dass Indien trotz all diesem
in der internationalen Gemeinschaft und unter seiner
Mittelschicht einen Ruf als legitime Demokratie beibehalten kann,
ist ein Triumph.

Das Militärische Sonderermächtigungsgesetz ist eine verschärfte
Version der Verordnung, die Lord Linlithgow 1942 erlassen hat, um
mit der Quit India-Bewegung fertig zu werden. 1958 wurde sie in
Gebieten in Manipur in Kraft gesetzt, welche mit "disturbed"
bezeichnet wurden. 1964 wurde das ganze Mizoram, damals noch teil
von Assam, als "disturbed" deklariert. 1972 wurde der Akt auf
Tripura ausgeweitet. Bis 1980 ist ganz Manipur für "disturbed"
erklärt worden. Was für weitere Beweise sollte irgendjemand noch
verlangen, bevor es klar ist, dass repressive Maßnahmen das
Gegenteil von dem bewirken, wozu sie gedacht sind, und das
Problem verschlimmern?

Einher mit dieser verkommenen Bereitwilligkeit, Menschen zu
unterdrücken und auszulöschen, geht die kaum verborgene
Abgeneigtheit des indischen Staates, Fälle, in welchen es jede
Menge Beweise gibt, zu untersuchen und vor ein Gericht zu
bringen: das Massaker an 3000 Siksh in Delhi, im Jahr 1984; die
Massaker an Muslimen in Bombay 1993 und in Gujarat 2002 (es gab
bis heute keine einzige Verurteilung!); der Mord der vor wenigen
Jahren an Chandrashekhar, dem früheren Präsidenten der JNU
Studentenvereinigung, verübt worden ist; der Mord vor zwölf
Jahren an Shankar Guha Nyogi von den Chattisgarh Mukti Morcha;
das sind nur einige wenige Bespiele. Berichte von AugenzeugInnen
und eine Menge beschuldigender Beweise sind nicht genug, wenn die
ganze Maschinerie des Staates gegen dich steht.

Inzwischen informieren uns jubelnde Ökonomen von den Seiten der
Wirtschaftszeitungen aus, dass die Wachstumsrate des BIPs
phänomenal ist, so etwas hat es noch nicht gegeben. Die Geschäfte
sind mit Konsumgütern überfüllt. Die Regierungswarenhäuser sind
mit Getreide überfüllt. Außerhalb dieses Kreises des Lichts
bringen sich Bauern zu Hunderten um, weil sie so stark
verschuldet sind. Berichte von Hungertoten und Unterernährung
kommen aus dem ganzen Land. In der gleichen Zeit lässt die
Regierung zu, dass 63 Millionen Tonnen Getreide in ihren
Speichern verrotten. 12 Millionen Tonnen wurden exportiert und zu
einem subventionierten Preis verkauft, den die indische Regierung
den Armen in Indien nicht anbieten wollte.

Utsa Patnaik, der bekannte Agrarökonom, hat für einen Zeitraum
von fast einem Jahrhundert die Verfügbarkeit und den Verbrauch
von Nahrungsgetreide (foodgrain) in Indien aus offiziellen
Statistiken heraus berechnet. In der Zeit zwischen den frühen
Neunzigern und 2001 ist die Aufnahme von Nahrungsgetreide auf ein
niedrigeres Niveau als in der Zeit des Zweiten Weltkrieges
gefallen, niedriger als während der Hungersnot in Bengalen, in
welcher 3 Millionen Menschen verhungerten. Wie wir von den
Arbeiten Professors Amartya Sen wissen, sehen Demokratien
Hungertote nicht gern. Sie ziehen zuviel ungewollte
Aufmerksamkeit der "Freien Presse" auf sich.

Also ist heute gefährliche Unterernährung und permanenter Hunger
das bevorzugte Modell. 47% der unter drei-jährigen Kinder in
Indien leiden an Unterernährung, 46% wurden so in ihrer
Entwicklung gehemmt. Utsa Ptanaiks Studie zeigte, dass 40% der
ländlichen Bevölkerung Indiens den gleichen Verbrauch von
Nahrungsgetreide hat wie das Afrika südlich der Sahara. Heute
isst eine durchschnittliche ländliche Familie im Jahr ungefähr
100 kg weniger Nahrung als Anfang der 90er. In den letzten fünf
Jahren gab es den stärksten Anstieg der Ungleichheit zwischen
Land und Stadt seit der Unabhängigkeit.

Aber im städtischen Indien siehst du, wo auch immer du hingehst,
ob in Geschäfte, Restaurants, Bahnhöfe, Flughäfen, Gymnasien oder
in Krankenhäuser, überall Fernsehschirme, in welchen
Wahlversprechen bereits wahr geworden sind. Indien glänzt,
Feeling Good. Und wenn der Stiefel eines Polizisten auf die
Rippen eines Menschen tritt, musst du nur deine Ohren
verschließen, um das Übelkeit erregende Brechen nicht zu hören;
du musst nur deine Augen vom Schmutz, den Slums, den zerlumpten
gebrochenen Leuten auf der Straße wegheben und einen freundlichen
Fernsehschirm suchen, und du wirst in dieser wunderschönen Welt
sein. Die singende, tanzende Welt von Bollywoods nie endendem
Hüftschwung, von immer privilegierten, immer glücklichen
InderInnen, welche die indische Tricolore halten, Feeling Good.
Es wird immer schwieriger und schwieriger zu sagen, was die echte
Welt und was die gefälschte ist. Gesetze wie das GVT sind wie
Knöpfe auf dem Fernseher. Man kann sie benutzen um die Armen
auszuschalten, die Störenden, die Ungewollten.

In Indien findet eine neue Art von Abspaltungsbewegung statt.
Werden wir das Neuen Sezessionismus nennen? Es ist eine Umkehrung
des Alten Sezessionismus. Wenn Menschen die in Wirklichkeit Teil
einer ganz anderen Wirtschaft, eines ganz anderen Landes, eines
ganz anderen Planeten sind, vorgeben, dass sie von hier sind. Es
ist jene Art von Sezessionismus, in welchem eine relativ kleine
Gruppe von Leuten unglaublich reich wird, indem sie alles für
sich beansprucht - Land, Flüsse, Wasser, Freiheit, Sicherheit,
Würde, fundamentale Rechte, wie das Recht zu protestieren - und
das alles einer großen Gruppe von Menschen wegnimmt. Es ist eine
vertikale Abspaltung, nicht eine horizontale, bzw. eine
territoriale. Es ist die wirkliche strukturelle Anpassung - jene
Art, welche das glänzende Indien von Indien trennt. Das Indien,
die GmbH von Indien, dem öffentlichen Unternehmen.

Es ist eine Art von Abspaltung, in welcher die öffentliche
Infrastruktur, der produktive öffentliche Besitz - Wasser,
Elektrizität, Transport, Telekommunikation, Gesundheitsdienste,
Bildung, natürliche Ressourcen - Besitz, den der indische Staat
als Verwalter für die Menschen halten sollte, welche er
repräsentiert - vom Staat an private Unternehmen verkauft werden.
In Indien leben siebzig Prozent der Bevölkerung -
siebenhundertmillionen Menschen - in ländlichen Gebieten. Ihr
Lebend hängt vom Zugang zu natürlichen Ressourcen ab. Wenn diese
ihnen weggerissen und als Gut an private Unternehmen verkauft
werden, beginnt das eine Enteignung und Verarmung in einem
barbarischen Umfang zu werden.

Die Indien-GmbH wird bald von einigen wenigen Unternehmen und
großen multinationalen Konzernen besessen werden. Die
Vorsitzenden dieser Unternehmen werden das Land kontrollieren,
seine Infrastruktur und seine Ressourcen, seine Medien und seine
JournalistInnen, aber sie werden seinen Menschen gegenüber keine
Verpflichtungen haben. Sie sind auf keine Weise zur Verantwortung
zu ziehen - weder legal, sozial, moralisch oder politisch. Jene,
welche sagen, dass in Indien einige wenige dieser Vorsitzenden
mächtiger als der Premierminister sind, wissen genau, was sie
sagen.

Abgesehen von den wirtschaftlichen Folgen von all diesem, auch
wenn alles so wäre, wie es präsentiert wird (was es nicht ist) -
wundervoll, effizient, bemerkenswert, usw. - , ist die Politik,
die damit einhergeht, akzeptabel für uns? Wenn der indische Staat
sich entschließt seine Verantwortungen an eine Hand von
Korporationen zu verpfänden, bedeutet das, dass dieses
Wahltheater, welches gerade jetzt in all seiner Heftigkeit
abgespielt wird, ganz ohne Bedeutung ist? Oder wird dem weiterhin
eine Rolle zukommen?

Der Freie Markt (der in der Wirklichkeit ganz und gar nicht frei
ist) braucht den Staat, und braucht ihn dringend. Während die
Kluft zwischen den Reichen und Armen wächst, ist die Arbeit für
den Staat in armen Ländern klar vorgegeben. Korporationen welche
auf Jagd nach besonders entgegenkommenden Geschäften sind, welche
enorme Profite für sie bedeuten, können diese Geschäfte in
Entwicklungsländern nicht ohne die aktive Beihilfe der
Staatsmaschinerie erzwingen und diese Projekte ohne diese nicht
verwalten. Heute braucht die Globalisierung der Konzerne eine
internationale Vereinigung von loyalen, korrupten, am besten
autoritären Regierungen in armen Ländern, um unpopuläre Reformen
durchzusetzen und Aufstände niederzuschlagen. Das wird so
bezeichnet: "Ein gutes Investitionsklima schaffen".

Wenn wir in diesen Wahlen wählen, werden wir wählen, welcher
politischen Partei wir gerne die gewaltvolle, repressive Macht
des Staates übergeben wollen.

Gerade jetzt müssen wir in Indien die gefährlichen Querströmungen
von neoliberalem Kapitalismus und kommunalem Faschismus angehen.
Während das Wort Kapitalismus seinen Glanz noch nicht ganz
verloren hat, wirkt die Benutzung des Wortes Faschismus oft
beleidigend. Also müssen wir uns fragen, ob wir das Wort zu
leichtfertig verwenden. Übertreiben wir unsere Situation, oder
ist das, was wir täglich erleben, als Faschismus einzuordnen?

Wenn eine Regierung mehr oder weniger offen ein Pogrom gegen
Mitglieder einer Minderheit unterstützt, in welchem bis zu zwei
tausend Menschen brutal getötet werden, ist das Faschismus? Wenn
Frauen aus dieser Minderheit öffentlich vergewaltigt und
verbrannt werden, ist das Faschismus? Wenn die Machthaber sich
zusammentun um sicherzustellen, dass niemand für diese Verbrechen
bestraft wird, ist das Faschismus? Wenn 150.000 Menschen von
ihren Häusern vertrieben werden, in Ghettos gesteckt und
wirtschaftlich und sozial boykottiert werden, ist das Faschismus?
Wenn die kulturelle Gilde, welche im ganzen Land Hasslager
betreibt, den Respekt und die Bewunderung des Premierministers,
des Innenministers, des Justizministers und des
Desinvestierungs-Ministers bekommt, ist das Faschismus? Wenn
MalerInnen, AutorInnen, Intellektuelle und Filmemacher die
protestieren, missbraucht und bedroht werden, ihre Arbeit
verbrannt, verboten und zerstört wird, ist das Faschismus? Wenn
eine Regierung ein Edikt erlässt, welches die willkürliche
Abänderung von Schulbüchern vorschreibt, ist das Faschismus? Wenn
Mobs Archive alter historischer Dokumente überfallen und
verbrennen, wenn jeder noch so kleine Politiker sich als
professioneller Historiker des Mittelalters und Archäologe
ausgibt, wenn gewissenhafte wissenschaftliche Arbeit durch
populistische Behauptungen zunichte gemacht wird, ist das
Faschismus? Wenn Mord, Vergewaltigung, Vergiftung und Lynchjustiz
von der Partei an der Macht und ihrem Stall voller braver
Intellektueller als angemessene Antwort auf eine echte oder
eingebildete historische Ungerechtigkeit, die Jahrhunderte
zurückliegt, zugelassen werden, ist das Faschismus? Wenn die
Mittelschicht und alle jene, denen es sehr gut geht, dann einen
Moment stehen bleiben, Tut-Tut machen, und dann mit ihren Leben
weitermachen, als wäre nichts gewesen, ist das Faschismus? Wen
der Premierminister, welcher all diesem vorsteht, als Staatsmann
und Visionär gepriesen wird, legen wir dann nicht die Fundamente
für einen schrankenlosen Faschismus?

Dass die Geschichte der unterdrückten und bezwungenen Menschen
zum Großteil ungeschrieben bleibt, ist eine Binsenweisheit, die
nicht nur auf die Savarna Hindus zutrifft. Wenn die Politik,
historische Ungerechtigkeiten zu rächen, der Weg ist den wir
gehen wollen, dann haben sicherlich auch die Daliten und Adivasis
in Indien das Recht zu morden, zu vergiften und nach belieben zu
zerstören?

In Russland sagt man, dass die Vergangenheit unvorhersehbar ist.
In Indien, wissen wir aufgrund unserer jüngsten Erfahrung mit den
Geschichtsbüchern in der Schule, wie wahr das ist. Jetzt müssen
alle "pseudo-weltlichen Leute" hoffen, dass die Archäologen,
welche unter der Babri Majid Moschee graben, keine Überreste
eines Ram-Tempels finden. Aber auch wenn es wahr wäre, dass ein
Hindu-Tempel unter jeder Mosche Indiens liegt, was war unter dem
Hindu-Tempel? Vielleicht ein anderer Hindu-Tempel, für einen
anderen Gott. Vielleicht eine buddhistische Stupa. Sehr
wahrscheinlich ein Adivasi-Schrein. Die Geschichte begann nicht
mit dem Savarna Hinduismus, oder? Wie tief sollen wir graben? Wie
viel sollten wir umwerfen? Und warum werden Muslime, welche
sozial, kulturell und wirtschaftlich ein untrennbarer Teil
Indiens sind, als fremd bezeichnet, während die Regierung
zugleich eifrig Geschäfte mit Konzernen macht und Verträge für
Entwicklungshilfe mit einen Land abschließt, das uns für Jahre
kolonialisiert hat?

Zwischen 1876 und 1892, während der großen Hungersnöte,
verhungerten Millionen Inder, während die britische Regierung
weiterhin Nahrung und Rohmaterial nach England exportierte.
Historische Aufzeichnungen schätzen, dass zwischen 12 und 29
Millionen Menschen starben. Das sollte bei der Politik der Rache
auch eine gewisse Rolle spielen, oder etwa nicht? Oder macht
Rache nur Spaß, wenn die Opfer verwundbar und leicht anzugreifen
sind?

Erfolgreicher Faschismus braucht harte Arbeit. Und diese ist auch
nötig, um "Ein gutes Investitionsklima zu schaffen". Arbeiten die
beiden gut zusammen? Historisch gesehen haben sich Korporationen
selten vor Faschisten geziemt. Korporationen wie Siemens, I.G.
Farben, Bayer, IBM und Ford machten mit den Nazis Geschäfte. Wir
haben die aktuelleren Beispiele unserer eigenen Konföderation der
Indischen Industrie (CII), welche auch noch nach dem Pogrom des
Jahres 2002 mit der Regierung Gujarats Geschäfte macht. So lange
wie unsere Märkte offen sind, wird ein bisschen selbst angebauter
Faschismus keinem guten Geschäft in die Quere kommen.

Es ist interessant zu bemerken, dass gerade zu jener Zeit, in
welcher Manmohan Singh, damaliger Finanzminister, die indischen
Märkte auf den Neoliberalismus einstellte, L.K. Advana seine
erste Rath Yatra veranstaltete, die den Zorn der ländlichen
Bevölkerung aufwiegelte, und uns für den Neo-Faschismus
vorbereitete. Im Dezember 1993 zerstören randalierende Mobs die
Babri Majid Moschee. 1993 unterzeichnete die Regierung von
Maharashtra ein Energiekauf-Abkommen mit Enron. Das war das erste
private Energieprojekt in Indien. Der Vertrag mit Enron, so
disaströs er sich auch entpuppte, startete die Zeit der
Privatisierung in Indien. Jetzt, wenn die Kongress-Partei von den
Zuschauertribünen aus jammert, hat die BJP den Prügel aus ihren
Händen gerissen. Die Regierung veranstaltet ein außergewöhnliches
Doppelkonzert. Während der eine Arm damit beschäftigt ist, die
Reichtümer der Nation in großen Stücken auszuverkaufen,
organisiert der andere Arm, um Aufmerksamkeit abzulenken, einen
bellenden, schreienden und krankhaften Kultur-Nationalismus. Die
unerbitterliche Rücksichtslosigkeit des einen Projekts nährt
direkt den Wahnsinn des anderen.

Auch wirtschaftlich betrachtet ist dieses Doppelkonzert ein
gangbarer Weg. Ein Teil der enormen Profite, welche in diesem
Prozess der totalen Privatisierung (und dem Anwachsen des
Glänzenden Indiens) entstehen, geht in die Finanzierung von
Hindutvas riesiger Armee - dem RSS, dem VHP, dem Bajrang Dal, und
an eine Vielzahl anderer Organisationen, welche Schulen, Spitäler
und soziale Dienste verwalten. Der Hass, den sie predigen,
verbunden mit der unaufhaltsamen Frustration, welche durch die
rücksichtslose Verarmung und Enteignung durch das
Globalisierungsprojekt der Konzerne entsteht, schürt die Gewalt
von Arm gegen Arm - die perfekte Rauchwand, hinter welcher man
die Strukturen der Macht intakt und ungestört arbeiten lassen
kann.

Aber es ist nicht immer genug die Frustration der Menschen in
Gewalt umzulenken. Um ein "Gutes Investitionsklima zu schaffen",
muss der Staat oft selbst eingreifen.

In den letzten Jahren hat die Polizei bei friedlichen
Demonstrationen wiederholt Feuer auf unbewaffnete Menschen
eröffnet, meistens Adivasis. In Nagarnar, Jharkhand; in Mendi
Kheda, Madhya Pradesh, in Umergaon, Gujarat; in Rayagara und
Chilika, Orissa; in Muthang und in Kerala sind Menschen getötet
worden. Wenn es arme Menschen sind, und besonders Dali oder
Adivasi-Gemeinschaften, werden sie dafür umgebracht, einen Wald
zu betreten, (Muthanga), und auch wenn sie versuchen ihren Wald
und ihr Land vor Dämmen, Bergbauarbeiten oder Schwerindustrie zu
schützen (Koel Karo, Nagarnar). Der Widerstand geht weiter und
weiter - Jambudweep, Kashipur, Maikanj.

Fast jedesmal wenn die Polizei auf Menschen schießt, werden jene,
die beschossen worden sind, sofort Militante genannt (PWG, MC,
ISI, LTTE).

Wenn die Opfer sich weigern Opfer zu bleiben, werden sie
Terroristen genannt, und man geht mit ihnen auch so um. POTA ist
ein Breitspektrumantibiotikum gegen die Krankheit Widerstand. Es
gibt andere, spezifischere, Schritte, welche auch unternommen
werden - Gerichtsurteile welche die Redefreiheit, das Recht zu
streiken und das Recht zu leben einschränken. Die Ausgänge werden
alle verschlossen. Dieses Jahr haben 181 Länder bei einer
UNO-Versammlung für den verstärkten Schutz der Menschenrechte in
der Zeit des Kriegs gegen den Terror gestimmt. Sogar die USA
stimmte dafür. Indien enthielt sich der Stimme. Es wird alles für
einen Großangriff auf die Menschenrechte vorbereitet.

Wie können also einfache Menschen auf den Angriff eines zunehmend
gewalttätigeren Staat reagieren?

Der Boden auf welchem gewaltfreier Widerstand fruchtbar sein
kann, ist ausgetrocknet worden. Nach mehrjährigen Anstrengungen
stehen mehrere gewaltfreie Widerstandsbewegungen jetzt mit dem
Rücken zur Wand, und fühlen ganz richtig, dass sie jetzt ihre
Richtung ändern müssen. Ansichten darüber, welche Richtung das
sein soll, sind zutiefst polarisiert. Es gibt jene welche
glauben, dass ein bewaffneter Kampf der einzige Weg ist, der noch
übrig bleibt. Lässt man auch fürs erste Kashmir und den Nordosten
beiseite, so gibt es ganze Ketten von Gebieten, ganze Distrikte
in Jharkhand, Bihar, Uttar Pradesh, Madhya Pradesh und UP, die
jetzt von jenen kontrolliert werden, die dieser Ansicht sind.
Andere glauben immer stärker, dass sie sich an der Politik der
Wahlen beteiligen müssen - bei diesem System mitmachen müssen, um
von innerhalb zu verhandeln. (Ist es nicht ähnlich wie die
Entscheidungen, vor welchen die Menschen in Kashmir standen?) Was
man aber nicht vergessen darf ist, dass, so sehr sich diese
beiden Gruppen auch unterscheiden, teilen beide doch den Glauben
(um es plump zu formulieren): Es Reicht! Ya Basta!

Es gibt zurzeit keine wichtigere Debatte in Indien. Das Ergebnis
wird das Leben in diesem Land verändern, zum besseren oder zum
schlechteren. Für alle. Reich, arm, ländlich, städtisch.

Bewaffneter Kampf führt zu einer massiven Eskalation der Gewalt
von Seiten des Staates. Wir haben gesehen, in welchen Morast dies
in Kashmir und im Nordosten geführt hat.

Also, sollten wir das tun, was unser Premierminister vorschlägt?
Dem Widerstand entsagen und uns ins Wahlgetümmel werfen? Bei der
Roadshow mitmachen? Beim schrillen Austausch von Beleidigungen
mitmachen, welche nur dazu dienen zu verbergen, was sonst ein
fast totaler Konsens ist? Vergessen wir nicht, dass bei all den
großen Themen - den Nuklearwaffen, den großen Dämmen, der
Kontroverse um Badri Masjid, bei der Privatisierung - die
Kongresspartei die Saat gelegt hat, und die BJP herbeistürmte, um
die bösartige Ernte zu kassieren.

Das bedeutet nicht, dass das Parlament keine Bedeutung hat, und
man Wahlen ignorieren sollte. Natürlich gibt es einen Unterschied
zwischen einer unverholen kommunalistischen Partei mit
faschistischer Ausrichtung oder einer opportunistischen
kommunalistischen Partei. Natürlich gibt es einen Unterschied
zwischen einer Politik, welche offen und stolz Hass predigt und
einer Politik, welche schlau und still die Menschen gegeneinander
aufbringt.

Und natürlich wissen wir, dass das Erbe der einen uns den Horror
der anderen gebracht hat. Zwischen ihnen haben sie jede echte
Wahl ausgelöscht, welche eine parlamentarische Demokratie bieten
sollte. Die Raserei, die Atmosphäre eines Messegeländes, die um
die Wahl herum geschaffen wird, bekommt in den Medien die größte
Aufmerksamkeit, weil sich jeder darin sicher ist, dass egal wer
gewinnt, der Status Quo nicht herausgefordert werden wird. (Nach
den eifrigen Reden im Parlament, scheint eine Widerrufung des GVT
bei keiner der Parteien eine Priorität in ihrer Wahlkampagne
darzustellen. Sie wissen alle, dass sie es brauchen, in der einen
oder anderen Form.) Was auch immer sie während Wahlen oder wenn
sie gerade in der Opposition sind sagen, keine Regierung des
Staates oder eines Bundesstaates konnte die Hand des
Neoliberalismus beiseite halten. Es wird keine radikalen
Veränderungen "von innen" geben.

Ich persönlich glaube nicht, dass ein gangbarer Weg zu einer
alternativen Politik über eine Beteiligung an den Wahlkämpfen
führt. Nicht wegen der gespielten Zierlichkeit der Mittelschicht,
welche sich in Aussprüchen wie "Politik ist schmutzig", oder
"alle PolitikerInnen sind korrupt" äußert, sondern weil ich
glaube, dass man strategische Kämpfe von einer Position der
Stärke und nicht von einer der Schwäche aus führen muss.

Die Ziele eines zweifachen Angriffs von kummunalem Faschismus und
von Neoliberalismus sind die Armen und die Minderheiten (welche
mit fortschreitender Zeit immer mehr verarmt werden). Während der
Neoliberalismus seinen Keil zwischen Arm und Reich treibt,
zwischen dem Glänzenden Indien und Indien, wird es für jede
Mainstream-Partei zunehmend absurd vorzugeben, sowohl die
Interessen der Armen als auch die der Reichen zu vertreten, weil
die Interessen der einen nur auf Kosten jener der anderen
vertreten können. Meine "Interessen" als eine reiche Inderin
(würde ich nach ihnen handeln), würden kaum den Interessen eines
armen Bauern in Andhra Pradesh ähneln.

Eine politische Partei, welche die Armen vertritt, wird eine arme
Partei sein, eine Partei mit sehr geringfügigen Geldern. Heute
ist es nicht möglich eine Wahl ohne Gelder zu führen. Ein paar
gut bekannte soziale AktivistInnen ins Parlament zu setzen ist
interessant, aber nicht wirklich politisch bedeutungsvoll. Kein
Prozess, der es Wert wäre, all unsere Energie zu schlucken.
Individuelles Charisma und Personenpolitik kann keine radikale
Veränderung bewirken.

Aber arm zu sein bedeutet nicht schwach zu sein. Die Stärke der
Armen liegt nicht innerhalb von Regierungsgebäuden und
Gerichtshöfen. Sie liegt außerhalb, in den Feldern, den Bergen,
den Straßen und auf jedem Universitätscampus des Landes. Dort
müssen die Verhandlungen abgehalten werden. Dort muss der Kampf
geführt werden.

Gerade jetzt sind diese Orte an die Hindu-Rechte abgegeben
worden. Was auch immer man von ihrer Politik hält, man kann nicht
leugnen, dass sie da draußen sind und sehr hart arbeiten. Während
der Staat sich seiner Verantwortung entledigt und Gelder für
elementarste öffentliche Dienste wie Gesundheit und Bildung
reduziert, sind die Soldaten der Sangh Parivar einmarschiert.
Neben den zehntausenden Shakhas (örtlichen Vereinen) welche
tödliche Propaganda austeilen, betreiben sie Schulen, Spitäler,
Kliniken, Ambulanzdienste und Katastrophenschutzstellen. Sie
verstehen die Machtlosigkeit. Sie verstehen auch, dass Menschen,
und besonders machtlose Menschen, Wünsche haben, welche nicht nur
praktische Alltagsbedürfnisse sind, sondern auch emotional,
spirituell und die Erholung betreffend. Sie haben einen
bösartigen Schmelztiegel entworfen, in welchen der Ärger, die
Frustration, die alltägliche Unwürdigkeit, und die Träume einer
anderen Zukunft abgegossen werden können, um für einen tödlichen
Zweck eingesetzt zu werden.

Inzwischen träumt die traditionelle Mainstream-Linke davon "an
die Macht zu kommen", aber bleibt seltsam festgefahren, nicht
bereit sich den Fragen der Zeit zu stellen. Sie hat sich selbst
in eine Ecke gestellt und in einen abgelegenen intellektuellen
Raum zurückgezogen, wo antike Argumente in archaischer Sprache,
welche nur wenige verstehen, vorgelegt werden.

Die einzige mögliche Herausforderung für den Großangriff der
Sangh Parivar stellen die Graswurzel-Widerstandsbewegungen dar,
welche im ganzen Land verstreut sind, die Enteignung und
Verletzung ihrer elementarsten Rechte bekämpfen, was seinen
Ursprung im aktuellen "Entwicklungs"-Modell hat. Die meisten
dieser Bewegungen sind isoliert und arbeiten (trotz nie endender
Anschuldigungen, dass sie "vom Ausland bezahlte ausländische
Agenten" seien) fast ohne Geld und Ressourcen. Sie sind
hervorragende Feuerwehrleute, sie stehen mit dem Rücken zur Wand.
Aber sie stehen in Kontakt zur Realität und sehen genau, was
passiert. Sie wissen, wie die düstere echte Welt aussieht. Wenn
sie zusammenarbeiten würden, wenn sie unterstützt und gestärkt
werden würden, könnten sie zu einer Kraft werden, die man
beachten muss. Ihr Kampf wird, wenn er gefochten wird, ein
idealistischer sein müssen - kein starrer und ideologischer.

In einer Zeit, in welcher Opportunismus alles ist, wenn die
Hoffnung verloren scheint, wenn alles sich auf einen zynischen
Geschäftsabschluss reduziert, müssen wir die Courage finden zu
träumen. Die Romantik wiedererobern. Die Romantik, an
Gerechtigkeit, Freiheit und Würde zu glauben. Für alle. Wir
müssen gemeinsam gehen, und um das zu tun, müssen wir verstehen,
wie diese große alte Maschine arbeitet - für wen sie arbeitet und
gegen wen sie arbeitet. Wer zahlt, wer profitiert? Im ganzen Land
führen gewaltfreie Widerstandsbewegungen isolierte Kämpfe um
einzelne Themen, und beginnen zu begreifen, dass diese Art der
Politik, einzelne Interessen zu vertreten, welche ihre Zeit und
ihren Ort hatte, nicht länger ausreichend ist. Dass sie sich in
eine Ecke gedrängt und ineffektiv fühlen, ist nicht Grund genug,
vom gewaltfreien Widerstand als Strategie abzukehren. Es ist
jedoch Grund genug einige ernsthafte Fragen an uns selbst zu
stellen.

Wir brauchen eine Vision. Wir müssen sicherstellen, dass jene von
uns welche sagen, dass wir die Demokratie wiederaufrichten
wollen, in unseren eigenen Abläufen und Methoden egalitär und
demokratisch sind. Wenn unser Kampf ein idealistischer sein soll,
können wir keine Ausnahmen für interne Ungerechtigkeiten
vorsehen, die wir einander, Frauen oder Kindern, antun. Zum
Beispiel dürfen jene, welche den Kommunalismus bekämpfen, die
wirtschaftliche Ungerechtigkeit nicht einfach ignorieren. Jene,
welche Dämme oder Entwicklungsprojekte bekämpfen, dürfen Themen
wie Kommunalismus oder Kastenpolitik in ihrer Einflusssphäre
nicht einfach ausweichen - sogar auf Kosten von kurzfristigen
Erfolgen in ihren Kampagnen. Wenn Opportunismus und
Praktikabilität auf Kosten unserer Überzeugungen akzeptiert
werden, dann unterscheidet uns nichts von
Mainstream-PolitikerInnen. Es ist Gerechtigkeit, was wir wollen,
und das muss Gerechtigkeit und gleiche Rechte für alle bedeuten -
nicht nur für Einzelgruppen mit Einzelinteressen. Darüber kann
nicht diskutiert werden.

Wir haben es zugelassen, dass der gewaltfreie Widerstand beim
Theater der Fühl-Dich-Gut-Politik mitmacht, was bestenfalls eine
Photogelegenheit für die Medien darstellt, und im schlechtesten
Fall einfach ignoriert wird.

Wir müssen uns umsehen und dringend Strategien des Widerstandes
besprechen, echte Kämpfe führen und echten Schaden zufügen. Wir
müssen uns daran erinnern, dass der Salzmarsch nicht nur ein
gutes politisches Theater war. Er war ein Angriff auf das
wirtschaftliche Fundament des britischen Imperiums.

Wir müssen die Bedeutung von Politik wieder neu definieren. Die
"NGO"-isierung der Gesellschaft führt uns geradewegs in die
falsche Richtung. Sie entpolitisiert uns. Sie macht uns abhängig
von Hilfe und Geschenken. Wir müssen die Bedeutung von zivilem
Ungehorsam wiederentdecken.

Vielleicht brauchen wir ein gewähltes Schattenparlament außerhalb
der Lok Sabha, ohne deren Unterstützung und Bestätigung das
Parlament nicht mehr problemlos funktionieren kann. Ein
Schattenparlament welches im Untergrund einen Takt vorgibt und
Informationen zur Verfügung stellt (was die Mainstreammedien
immer weniger machen). Furchtlos, aber gewaltfrei, müssen wir die
Bestandteile dieser Maschine, welche uns aushölt, ausschalten.

Uns geht die Zeit aus. Schon während wir sprechen, schließt sich
der Kreis der Gewalt um uns.

Auf welchem Weg auch immer, die Veränderung wird kommen. Sie
könnte blutig sein, oder sie könnte wunderschön sein. Es hängt
von uns ab.



Quelle: ZNet Deutschland vom 19.06.2004. Übersetzt von: Matthias,
mit leichter Bearbeitung von Michael Schmid. Orginalartikel: "How
Deep Shall We Dig?". Weitere Artikel von Arundhati Roy unter:
Roy, Arundhati.

Veröffentlicht am 26.06.04 auf:
http://www.lebenshaus-alb.de/mt/archives/002367.html